eJournals unsere jugend 61/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Zur Kooperation von Jugendhilfe und Schule im Rahmen von Ganztagsschulkonzepten im internationalen Vergleich

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2009
Thomas Coelen
Ganztägige Bildungssysteme sind in europäischen Ländern nur durch die Zusammenarbeit von schulischen und außerschulischen Organisationen, Professionen und Disziplinen möglich. Es gibt kein Ganztagssystem, das nur aus Schulen, LehrerInnen oder Schulpädagogik besteht; andere Organisationen, Professionen und Theorien sind in jedem Land konstitutiv.
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uj 7+8 (2009) 309 Unsere Jugend, 61. Jg., S. 309 - 318 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zur Kooperation von Jugendhilfe und Schule im Rahmen von Ganztagsschulkonzepten im internationalen Vergleich Thomas Coelen Ganztägige Bildungssysteme sind in europäischen Ländern nur durch die Zusammenarbeit von schulischen und außerschulischen Organisationen, Professionen und Disziplinen möglich. Es gibt kein Ganztagssystem, das nur aus Schulen, LehrerInnen oder Schulpädagogik besteht; andere Organisationen, Professionen und Theorien sind in jedem Land konstitutiv. ganztagsschulen Ganztagsschulen können eine Verlängerung des Unterrichts in traditionellen Formen sein, sie können aber auch sozial-, jugend- und freizeitpädagogische Elemente in den Schultag einbauen und so insgesamt den Tagesablauf in neuer Weise strukturieren. Ein Vergleich von Ganztagsschulen und ganztägigen Bildungs- oder Betreuungseinrichtungen in anderen europäischen Ländern ermöglicht, ein breiteres Spektrum von Konzeptionen und ihrer Realisierung kennenzulernen sowie mögliche Effekte einzuschätzen. Darüber hinaus geht es u. a. auch um Wirkungen auf die Struktur, die Angebote und die Nutzung außerschulischer Bildungs- und Freizeitangebote sowie um Formen und Strukturen der Unterstützung für Kinder und Jugendliche mit besonderen Förderungsbedürfnissen. Im Artikel sind Struktur und Organisation von - mehr oder weniger - „ganztägigen“ Bildungs- und Betreuungsarrangements in ausgewählten europäischen Ländern anhand von Kriterien vergleichbar dargestellt. Der Vergleich bezieht sich auf Frankreich, Finnland und die Niederlande. Diese drei Länder wurden ausgewählt, weil sie in der aktuellen Debatte aus unterschiedlichen Gründen am häufigsten erwähnt werden: • Frankreich, weil es eine klassische Ganztagsschule hat - allerdings mit einem schulfreien Mittwoch(-nachmittag), • Finnland, weil es PISA 2000 „gewonnen“ hat - allerdings wenige Ganztagsschulen hat, • die Niederlande, weil sie gute Lernleistungen produzieren und ganztägige Einrichtungen durch Kooperationen bewerkstelligen - allerdings keine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Ein zweiter Grund für die Auswahl liegt darin, dass sich die genannten Systeme in besonderer Weise eignen, um drei Typen von „ganztägigen“ Bildungssystemen zu unterscheiden: klassische Ganztagsschul- PD Dr. Thomas Coelen Jg. 1966; vertritt die Professur „Sozialisation - Jugendbildung - Lebenslauf“ an der Universität Siegen 310 uj 7+8 (2009) ganztagsschulen systeme, Ansätze zu Ganztagsbetreuungssystemen und Elemente von Ganztagsbildungssystemen. Der vorliegende Vergleich ist keine Komparatistik von Schulsystemen (siehe dazu Döbert 2002), sondern von Ganztagsorganisationen und insofern notwendig eine institutionenübergreifende Zusammenstellung. Der Artikel bietet somit eine Grundlage, um die Entwicklung von deutschen ganztägigen Schul-, Betreuungs- und Bildungsarrangements im internationalen Vergleich einschätzen zu können. Dabei ist eine jugendhilfespezifische Sicht maßgeblich. Diese Perspektive wird anhand der folgenden Fragen konkretisiert: • Welche sozialpädagogischen Arbeitsformen und Ansätze gibt es in den Ganztagsschulen? • Inwiefern werden außerschulische Bildungs- und Freizeitangebote genutzt? • Welche Formen der Kooperation zwischen Schulen und außerschulischen AkteurInnen gibt es? • Welche Formen der Unterstützung und Förderung für Kinder und Jugendliche mit individuellen Schwierigkeiten und in benachteiligten Lebenslagen bieten Schulen und außerschulische Einrichtungen an? • Wie sieht der sonstige Bezug der Schule zum Gemeinwesen aus? Dem Vergleich sind folgende Ebenen und Kriterien zugrunde gelegt: • Struktur der ganztägigen Schulsysteme (Schulstufen und -formen, Ausbau des Ganztagsangebotes), • Organisation von Ganztagsschulen (Öffnungszeiten, Tagesablauf, Unterricht und außerunterrichtliche Angebote, Förder- und Freizeitangebote), • Personal (Struktur, Qualifikationen), • Kooperation mit außerschulischen Einrichtungen (Partner, Formen, Anlässe), • außerschulische Angebote für Jugendliche: - Strukturen (Trägerschaft, Einrichtungen, Finanzierung), - Nutzung der Angebote (Nutzungsgrad, erreichte Gruppen), - Themen und Aufgaben. Anhand der oben genannten Fragen und Kriterien ist der Artikel gegliedert: Im ersten Teil sind zentrale Merkmale der Bildungssysteme unter Zuhilfenahme länderspezifischer Quellen kompiliert. (Die Auswahl musste auf deutsch- und englischsprachige Quellen beschränkt bleiben. Zur besseren Lesbarkeit des detailreichen Textes wird weitgehend auf Einzelbelege verzichtet.) Am Ende eines jeden Abschnitts dieser Zusammenschau - in denen jeweils Genese und Zukunftsaussichten der Merkmale weitgehend ausgeklammert sind - wird auf Informations- und ggf. Forschungslücken hingewiesen. Im zweiten Teil werden die oben genannten jugendhilfespezifischen Fragen an die Ganztagssysteme beantwortet. Frankreichs Ganztagsschulsystem Struktur Frankreich verfügt, als einziges der hier untersuchten Länder, über ein flächendeckendes, gebundenes Ganztagsschulsystem, allerdings mit einem schulfreien Mittwoch(-nachmittag), der Probleme für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verursacht. In Vorschule und Sekundarbereich I handelt es sich um eine Gesamtschule für alle 4bis 16-Jährigen: die école maternelle und das collège. Im Sekundarbereich II werden dann unterschiedliche Bildungsgänge angeboten. Die Schulpflicht beginnt mit sechs Jahren (aber fast alle Dreibis Fünfjährigen gehen bereits freiwillig zur école maternelle), sie endet mit 16 Jahren. Rechtsansprüche auf Betreuung erstrecken sich auf die schulisch organisierten Zeiten. Die Angebote im (nach-) mittäglichen foyer éducatif sind fakultativ wählbar. Systembedingter Bedarf an zusätzlichen Bildungs- und Betreuungsangeboten entsteht vor allem am Mittwoch(-nachmittag) und in den langen Sommerferien. uj 7+8 (2009) 311 ganztagsschulen Die französischen SchülerInnen haben in PISA 2000 eine leicht überdurchschnittliche Lesekompetenz sowie mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung gezeigt; die Korrelation zwischen dem sozio-ökonomischen Status der Eltern und der Lesekompetenz der 15-jährigen SchülerInnen war mittelstark ausgeprägt. Die Schule gewährleistet einen zeitlichen Rahmen, auf den sich die Familien verlassen können: Berufstätigkeit von Müttern wird als normal angesehen und führt zu einer der höchsten Frauenerwerbsquoten und gleichzeitig zur dritthöchsten Geburtenrate unter den EU-Ländern. Zusammen betrachtet hat die Struktur der französischen Ganztagsschule also starke gesellschaftspolitische und durchschnittliche kognitive Effekte. Organisation Die insgesamt vorgesehene Anzahl an Unterrichtsstunden für die Altersspanne von 7 bis 14 Jahren liegt mit ca. 7.300 Stunden im oberen Drittel, die Zeitanteile für außerunterrichtliche Angebote, Betreuungen und Pausen sind in Frankreich am höchsten (25 %). Die Sekundarschulen sind mittwochnachmittags, die Grundschulen den ganzen Mittwoch geschlossen. Die SchülerInnen haben mindestens 28 Wochenstunden à 55 Minuten bei 180 Unterrichtstagen im Jahr. Die Kinder und Jugendlichen haben neun oder zehn halbe Tage Unterricht; die Mehrheit der SchülerInnen nimmt am kostengünstigen Mittagessen in der beaufsichtigten zweistündigen Mittagspause von 12 bis 14 Uhr teil; für den Mittwoch(-nachmittag) gibt es wahlweise religiöse, schulische und kommunale Angebote oder private Lösungen; Unterrichtsbeginn ist gewöhnlich um 8.00 oder 8.30 Uhr, Unterrichtsschluss zwischen 16 und 17 Uhr. Die schulisch verbrachten Jahresstunden liegen bei ca. 950. Für weitere schulbezogene Aktivitäten müssen die Franzosen vergleichsweise viel Zeit aufwenden. Neben dem formellem Unterricht gibt es eine Reihe weiterer formeller Bildungsangebote wie z. B. Förderunterricht und Hausaufgabenaufsicht, eine nicht-formelle Betreuung für jüngere Kinder vor und nach dem Unterricht und Freizeitangebote in der Mittagspause sowie durch LehrerInnen angebotene Sportgruppen nach Unterrichtsschluss. Hinzu kommen die Schulbibliotheken sowie weitere Möglichkeiten zur informellen Bildung, beispielsweise beim gemeinsamen Mittagessen. Personal Die PädagogInnen der Vorschule und der Grundschule werden in denselben universitären Institutionen ausgebildet, die LehrerInnen erhalten allerdings nach ihrem Fachstudium nur eine einjährige schulpädagogische Ausbildung. Förderunterricht und Hausaufgabenaufsicht werden aktuell vermehrt durch pädagogisches Hilfspersonal oder Honorarkräfte gewährleistet. Insgesamt besteht mehr als ein Viertel der Schulangestellten aus Aufsichtspersonal, ErziehungshelferInnen und -assistentInnen, Hilfs- und Honorarkräften, technischem und Verwaltungspersonal, Kantinenkräften, KrankenbetreuerInnen, BerufsberaterInnen, SozialarbeiterInnen und BibliothekarInnen sowie dem/ der KoordinatorIn des außerunterrichtlichen Bereichs. Die französischen SozialpädagogInnen werden überwiegend drei Jahre lang an öffentlichen und staatlich finanzierten Fachhochschulen ausgebildet, ihr Staatsdiplom lässt sich an einigen Universitäten bis zum Erwerb des Höheren Diploms in Erziehungswissenschaft erweitern. Die berufsfeldbezogene Ausbildung der ErzieherInnen dauert zwei oder zweieinhalb Jahre, die der FreizeitpädagogInnen 312 uj 7+8 (2009) ganztagsschulen drei Jahre. Die didaktisch-methodische Forschung für den Vor-, Grund- und Sekundarschulbereich ist an Universitätsinstituten angesiedelt. Die Disziplinen zur Forschung und Ausbildung der nicht-lehrenden Professionen (sofern ausgebildet) sind an Fachhochschulen verortet. Kooperation Die meisten Schulen befinden sich in nationalstaatlicher Trägerschaft, aber 14 % der PrimarschülerInnen und 20 % der SekundarschülerInnen gehen auf Schulen in kirchlicher Trägerschaft. Betreuungen vor dem morgendlichen Schulbeginn sind ebenfalls staatlich oder zivilgesellschaftlich getragen. Mittagessen und -betreuungen sind Bestandteile des schulischen Arrangements. Die Sportgruppen, die am unterrichtsfreien Mittwoch(-nachmittag) eine entscheidende Rolle spielen, sind durch den Verband der SportlehrerInnen organisiert. Das foyer socioéducatif, in dem die Freizeitangebote mittags und spätnachmittags koordiniert werden, ist zivilgesellschaftlich getragen, ebenso wie Jugendarbeit und Unterricht durch Religionsgemeinschaften. Neuerdings gibt es ein verstärktes Bemühen um Kooperationen mit kommunalen Angeboten und Vereinen oder Wohlfahrtseinrichtungen, wofür Mittel und Verträge bereitstehen. Anlässe zur Kooperation sind vor allem Unterrichts- und Aufsichtslücken sowie die begonnene Dezentralisierung der Schulorganisation. Die außerunterrichtlichen Förderungen haben vor allem unterrichtsergänzenden Charakter für schwächere SchülerInnen, die Arbeitsgruppen unterrichtsunterstützende Funktionen; die mittwöchlichen Schulsportgruppen haben schulersetzende, die Kooperationen schulergänzende Funktionen; die Religionsgruppen und auch die Ferienkolonien sind eigenständig. Außerschulisches Die außerunterrichtlichen Angebote, die zur Gewährleistung des Ganztagssystems vonnöten sind, werden in Teilen nationalstaatlich (Mittagessen und -betreuungen, Hausaufgabenhilfen und Förderunterricht), kommunal (morgendliche Betreuungen, Offene Einrichtungen), zivilgesellschaftlich (Nachmittagsclubs und Sportgruppen an Schulen, Angebote von Vereinen/ Verbänden und Religionsgemeinschaften) oder privat („Mittwochslücke“) getragen. Die Finanzierung des formellen (Vor-) Schulwesens ist fast vollständig nationalstaatlich, bei gleichzeitiger Finanzierung seiner nicht-formellen Lücken (Betreuung vor und nach dem Unterricht, mittags und spätnachmittags, mittwochs, in den Ferien) durch Kirchen oder Vereine/ Verbände sowie Departments, Kommunen oder gewerbliche Anbieter. Die Eltern finanzieren hauptsächlich das subventionierte Mittagessen, die Betreuung vor und nach dem Unterricht sowie die Freizeitangebote mittwochs und in den Ferien. Finnlands „Drei-Viertel-Schulen“ Struktur Finnland hat, bis auf ein Modellprojekt an einigen finnischen Grundschulen, kein Ganztagsschulsystem, sondern lediglich Vormittagsunterricht mit anschließendem Mittagessen. Die Schulbildung wird in einer einheitlichen Pflichtschule für alle 7bis 12-Jährigen (Grundschule) und 13bis 16-Jährigen (Grundbildung) vermittelt. Die Schulpflicht beginnt mit sieben, ein Drittel der finnischen Fünfjährigen und drei Viertel der Sechsjährigen gehen aber bereits in die fakultative Vorschule. Das Recht eines jeden Kindes auf Tagesbetreuung (zwei Drittel der Vorschulkinder verbringen dort mehr als 40 Stunden pro Wouj 7+8 (2009) 313 ganztagsschulen che) bezieht sich nur auf Kleinkinder und endet mit dem Eintritt in die Schule. Ein Teil der Unterrichtszeit ist optionalen Angeboten vorbehalten, und der Besuch der Horte und Jugendzentren ist freiwillig. Systembedingter Bedarf entsteht vor allem nachmittags zwischen 15 Uhr und dem Ende des Arbeitstages der Eltern. Die finnischen SchülerInnen haben in Bezug auf die Lesekompetenz die besten Werte in PISA 2000 erzielt und in mathematischer bzw. naturwissenschaftlicher Grundbildung ebenfalls vordere Plätze. Die Korrelation zwischen dem sozio-ökonomischen Status der Eltern und der Lesekompetenz der 15-jährigen SchülerInnen ist in Finnland sehr schwach ausgeprägt. Es besteht eine hohe Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die zu einer der höchsten Frauenerwerbsquoten europaweit geführt hat. Die Geburtenrate liegt ebenfalls relativ hoch. Zusammen betrachtet zeitigt die finnische „Drei-Viertel-Schule“ mitsamt den nur lose damit verbundenen nachmittäglichen Betreuungsmöglichkeiten sowohl sehr gute kognitive als auch gesellschaftspolitische Effekte. Organisation Die finnischen SchülerInnen haben in der Altersspanne von 7 bis 14 Jahren mit ca. 5.500 Stunden am wenigsten Stunden und verbringen auch insgesamt die geringste Zeit in der Schule (ca. 850 Stunden pro Jahr). Sie haben ca. 30 Wochenstunden à 45 Minuten bei 190 Unterrichtstagen im Jahr. Der Unterricht beginnt typischerweise zwischen 8 und 9 Uhr; durch das anschließende obligatorische Mittagessen verlängert sich der Schultag auf 14 Uhr, bei gewählter vor- und nachschulischer Betreuungsmöglichkeit im Hort o. Ä. auf 8 bis 16 Uhr. Für weitere schulbezogene Aktivitäten müssen die finnischen SchülerInnen vergleichsweise wenig Zeit aufwenden. Neben dem größtenteils projektartigen Unterricht bestehen zahlreiche formelle Förderangebote. Daneben gibt es mittlerweile nur wenige direkt auf die Schule bezogene nicht-formelle Bildungsorte (Nachmittagsgruppen, Horte etc.), aber einen traditionellen Bereich informeller Bildung beim gemeinsamen Mittagessen von LehrerInnen und SchülerInnen. Personal An fast allen Schulen arbeiten zahlreiche LehrerassistentInnen, SozialarbeiterInnen, SpeziallehrerInnen, Krankenschwestern sowie weiteres Personal. Die Tätigkeit als KlassenlehrerIn in der Grundschule oder als FachlehrerIn der Sekundarstufen erfordert einen universitären MA-Abschluss, die Mitarbeit in den Horten einen universitären BA-Abschluss, der einen starken Fokus auf Einzelfallhilfe legt; hingegen wird die Arbeit in Jugendzentren vielfach durch eine Anzahl semi-professioneller und ehrenamtlicher Kräfte gewährleistet. Die Ausbildung für soziale Berufe ist auf allen drei Formalniveaus möglich. Das zwischengelagerte Institutsniveau für Sozialwesen wird aktuell durch Fachhochschulen abgelöst. Die auf das Kindergarten-, Vorschul- und Schulwesen bezogene Forschung ist an Universitäten angesiedelt. Kooperation Die Schulen sind kommunal getragen, nur 4 % der SchülerInnen gehen auf sogenannte „Privatschulen“. Die von LehrerInnen geleiteten nachmittäglichen Arbeitsgruppen sind seit den 1990er Jahren stark rückläufig, ebenso die Nachmittagsbetreuungen in kommunalen Kindertagesstätten und Horten mit Hausaufgabenhilfen und Freizeitgestaltung. Im Modellprojekt MUKA- VA entwickeln sich die beteiligten Schulen 314 uj 7+8 (2009) ganztagsschulen zu Knotenpunkten von schulischen und außerschulischen Aktivitäten unterschiedlicher Kooperationspartner, die allesamt auf dem Schulgelände stattfinden und von den SchulleiterInnen koordiniert und verantwortet werden, um eine Ganztagsbetreuung zu gewährleisten. Anlass ist die nachmittägliche Betreuungslücke durch die Hortschließungen seitens der Kommunen. Die zahlreichen Förderangebote für schwächere SchülerInnen haben unterrichtsunterstützende Funktion; die im Rückgang begriffenen Nachmittagsangebote der Kommunen und der freien Träger haben z. T. schulergänzende (Horte) und z. T. eigenständige Funktionen (Jugendzentren und -verbände). Die Nachmittagsbetreuung im Modellprojekt hat vor allem beaufsichtigende und insofern schulersetzende Funktion, als sie die nachmittägliche Betreuungslücke des finnischen Grundschulsystems schließen soll. Außerschulisches Die außerunterrichtlichen Angebote sind in Teilen kommunal (Mittagessen, Schulbeförderung, Kindertagesstätten/ Horte, Jugendzentren) oder zivilgesellschaftlich (Jugendverbände) getragen und finanziert. Elternbeiträge sind für vorschulische Kinderbetreuung und für gewerbliche Freizeitangebote fällig. Private Nachmittagslösungen, die aufgrund des Abbaus der Horte nötig geworden sind, lassen die Kinder und Jugendlichen auf sich allein gestellt oder gehen mit Einkommenseinbußen einher. „Verlengde Schooldag“ mit niederländischen Schulen Struktur In den Niederlanden hat die Zahl der durchgängig ganztägigen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen - zumeist in Kooperation zwischen schulischen und außerschulischen Anbietern - erst in den letzten Jahren auf ca. zwei Drittel aller Grundschulen (basisscholen) für ca. 30 % der SchülerInnen zugenommen, allerdings mit Schwierigkeiten für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Alle SchülerInnen erhalten in den ersten Jahren des Sekundarbereichs I eine allgemeine Schulbildung auf der Grundlage schulformübergreifender Curricula im Rahmen der basisvorming. Die Schulpflicht beginnt mit sechs Jahren, aber fast alle Vierbis Fünfjährigen gehen bereits in die basisschool. Die Sekundarstufe II weist Elemente von didaktischer Freiwilligkeit auf. Auch die Gestaltung der Mittagszeit unterliegt in den Niederlanden der Freiwilligkeit, wenngleich hier kaum von einer freien Gestaltbarkeit gesprochen werden kann, hier entsteht systembedingter Bedarf an Betreuung. Die Niederlande waren bei einigen Lernleistungsstudien ausgesprochen erfolgreich; die Korrelation zwischen dem sozio-ökonomischen Status der Eltern und der Lesekompetenz der 15-jährigen SchülerInnen ist in den Niederlanden durchschnittlich ausgeprägt. Die Erwerbstätigkeit von Frauen ist immer noch wenig verbreitet (Teilzeitjobs sind üblich), die Geburtenrate liegt relativ hoch, deshalb wird der Ausbau von Betreuungsangeboten vorangetrieben, die häufig von Eltern, Staat und Betrieben mischfinanziert werden. Zusammen betrachtet verbindet das niederländische Bildungssystem gute kognitive Funktionen mit mittelstark ausgeprägten gesellschaftspolitischen Funktionen. Organisation Die NiederländerInnen haben im Vergleich der drei Länder am meisten Unterrichtszeit (ca. 1.000 Jahresstunden, 10.500 uj 7+8 (2009) 315 ganztagsschulen Stunden zwischen dem 7. und dem 14. Lebensjahr) und verbringen auch die meiste Zeit in der Schule: Die Zeitanteile für außerunterrichtliche Angebote, Betreuungen und Pausen liegen zwischen den Extremwerten von Frankreich und Italien. Mittwochnachmittags sind die Schulen geschlossen. Die SchülerInnen haben mindestens 32 Wochenstunden à 50 Minuten bei 200 Unterrichtstagen pro Jahr. Der Schultag aus Unterricht und anderen Aktivitäten, die über Vor- und Nachmittage verteilt sind, endet an drei oder vier Wochentagen zwischen 15 und 16 Uhr. Die Schulen müssen auf Elternwunsch den mittäglichen Aufenthalt in der Schule gewährleisten. Für weitere schulbezogene Aktivitäten müssen die NiederländerInnen vergleichsweise durchschnittlich viel Zeit aufbringen. Beim formellen Unterricht haben die Einzelschulen große Gestaltungsspielräume, auch der fakultative Unterricht in den Muttersprachen sowie weitere außercurriculare Aktivitäten tragen zur Schulprofilbildung bei; hinzu kommen die Orte nichtformeller Bildung in den Vorschulen und Horten. Personal ErzieherInnen und GrundschullehrerInnen werden, ebenso wie SozialpädagogInnen, vier Jahre auf Fachhochschulniveau ausgebildet, die SekundarschullehrerInnen absolvieren nach ihrem vierjährigen lernstoff-orientierten Universitätsstudium ein einjähriges Praxisstudium an universitätsnahen Fachbereichen. SozialarbeiterInnen werden vier Jahre an fachhochschulischen Akademien ausgebildet, die traditionell streng von den forschenden Universitäten getrennt sind. Danach ist ein MA-Studium oder ein universitäres Studium der Sozialwissenschaften möglich. Zu den nachmittäglichen Schulaktivitäten tragen neben diesen Professionen noch weitere ExpertInnen und ehrenamtliche Kräfte bei: An der Koordination der 450 brede (buurt) scholen, von denen die meisten in benachteiligten Stadtgebieten liegen, wirken neben Schul- und SozialpädagogInnen auch SchulärztInnen, BibliothekarInnen, HausmeisterInnen und Verwaltungspersonal, VertreterInnen kommerzieller Freizeiteinrichtungen, ElternvertreterInnen, Ausländerbeauftragte, NachbarschaftspolizistInnen sowie andere GemeindevertreterInnen mit. Die Forschung für die Bereiche Erziehung, Sozialpädagogik und Grundschulpädagogik ist auf Fachhochschulniveau angesiedelt, diejenige für Sekundarschulpädagogik hingegen an universitätsnahen Fachbereichen oder pädagogischen Hochschulen. Kooperation Die Schulen sind überwiegend zivilgesellschaftlich getragen (65 % in Trägerschaft durch Kirchen, Stiftungen, Vereine etc.). Betreuungen vor dem morgendlichen Schulbeginn und auch Nachhilfekurse werden entweder ebenfalls zivilgesellschaftlich oder privat-gewerblich, z. B. durch mittelständische Unternehmen, angeboten. Mittagessen und -betreuungen werden oft durch Eltern privat bzw. ehrenamtlich gewährleistet. Die mittägliche Betreuungslücke ist auch Hauptanlass für die Zusammenarbeit mit außerschulischen AkteurInnen. Die brede scholen können sich ausschließlich durch Kooperationen zwischen schulischen und außerschulischen Trägern konstituieren und erhalten daraufhin ihre Finanzierung durch die Kommunen. Die außerschulischen Partner haben eine weitgehend eigenständige Funktion im verlengde schooldag. Daneben gibt es unterrichtsbzw. schulunterstützende Maßnahmen 316 uj 7+8 (2009) ganztagsschulen der Schulen selbst oder der ebenfalls trägerrechtlich eigenständigen Schulsozialarbeit. Außerschulisches Weit über die Hälfte der Babys und 80 % der Kleinkinder sind in Tagespflege bzw. Kindertagesstätten, im Schulalter nutzt allerdings nur noch eine Minderheit den Hort. Mehr als 60 % der niederländischen Teenager sind Vereinsmitglieder (52 % in Sportvereinen, 11 % in Jugendverbänden), etwa genauso viele gehen in Musik- oder Theaterclubs. Die durchschnittliche Tageszeit vor dem Fernseher ist in den letzten Jahren auf 90 Minuten gesunken, während die Computernutzung auf 25 Minuten gestiegen ist. Die Lesezeit liegt bei nur 6 Tagesminuten; InternetnutzerInnen lesen häufiger und sehen weniger fern. Nur eine Minderheit ist (vor-)politisch aktiv. Der Anteil der als „benachteiligt“ geltenden Kinder liegt in den Niederlanden bei einem Viertel aller Unter-12-Jährigen, 7 % aller 9bis 12-Jährigen sind Legastheniker, 5 % aller 2bis 12-Jährigen gelten als hyperaktiv. Die Schulen sind überwiegend zivilgesellschaftlich getragen und finanzautonom, sie verhandeln mit den Kommunen über die nationalstaatlichen Mittel. Morgendliche und nachmittägliche Betreuungen sind zivilgesellschaftlich oder gewerblich getragen und mit hohen Kosten für die Eltern verbunden. Das Mittagessen und die -betreuungen werden häufig ehrenamtlich durch Eltern gewährleistet. Daneben stehen private Lösungen für die Nachmittage und gewerbliche Nachhilfekurse. Seit den 1980er Jahren haben beispielsweise die Offenen Jugendberatungsstellen ihre Aufgaben von der Einzelfallhilfe zur sozialen Aktivierung verlagert. Prävention und Intervention sind gemäß einem gemeinwesenbezogenen und alltagsorientierten Ansatz verändert worden. Bewertung und Ausblick Die drei im Artikel dargestellten (ganztägigen) Bildungssysteme sollen abschließend noch einmal in anderer Akzentuierung zusammengefasst werden: Auf der Organisationsebene haben wir es mit überwiegend kommunalen Trägerschaften und nationalstaatlichen Finanzierungen zu tun, bei gleichzeitig signifikanten - in den letzten Jahren durch Dezentralisierungsbestrebungen von oben offensichtlich steigenden - Anteilen sowohl zivilgesellschaftlich-öffentlicher als auch privatgewerblicher Träger und Geldgeber. Hinsichtlich der Bildungsformen überwiegt die formelle Schulausbildung, bei gleichzeitig signifikanten - ebenfalls in den letzten Jahren offensichtlich steigenden - Anteilen nicht-formeller Bildung, der zumeist schulunterstützende und -ergänzende Funktionen zugeschrieben werden, und kleineren Anteilen eigenständiger Sozialisationsfunktionen. Das Personal der Ganztagseinrichtungen setzt sich neben den LehrerInnen aus einer relativ großen - ebenfalls in den letzten Jahren offensichtlich steigenden - Anzahl nicht-unterrichtender PädagogInnen, weiterer Professionen und angelernten Kräften zusammen, deren z. T. deutlich niedriger eingestufte formale Ausbildungsgänge und die damit einhergehende Bezahlung ein steiles Gefälle in den Professionalisierungsgraden der Bereiche formeller und nicht-formeller Bildung mit sich bringen. Aus Sicht der AdressatInnen fällt auf, • dass die Kinder und Jugendlichen aus den drei Ländern deutlich unterschiedliche Zeitumfänge in bzw. mit der Schule verbringen und dass die Lücken der „Ganztagssysteme“ (mittags, nachmittags, in den Ferien) auf äußerst vielfältige Weise gefüllt werden, • dass - bei durchgängiger Schulpflicht - Rechtsansprüche auf darüber hinausgehende Bildungs- und Betreuungsleistungen wenig uj 7+8 (2009) 317 ganztagsschulen verbreitet sind, jedoch ihre frei gewählte und fakultative Nutzung eine große Rolle spielt, zumal in den Fällen, in denen der Bedarf daran durch die Lücken der „Ganztagssysteme“ selbst verursacht wird, • dass die allermeisten nicht-unterrichtlichen Angebote mit direkten oder indirekten finanziellen Beiträgen der AdressatInnen verbunden sind, • dass die ganztägige Organisation von Erziehung und Bildung hinsichtlich der Lernleistungen keinen Kausalzusammenhang erkennen lässt, wohl aber hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wenngleich dies selbst in den am weitesten ausgebauten Ganztagssystemen aufgrund von Angebotslücken schwierig bleibt. In Bezug auf die beteiligten Fachdisziplinen ist zu sagen, • dass ihr Formalstatus in den meisten Ländern höchstens eine Stufe voneinander entfernt ist: Lehrpersonen werden überwiegend an Universitäten, SozialpädagogInnen und ähnliche Professionen zumeist an Fachhochschulen ausgebildet (zzgl. den zahlreichen an- und ungelernten Kräften, die die Ganztägigkeit überhaupt erst ermöglichen), • dass die verwendeten Leitbegriffe weit verstreut dem großen Spektrum zwischen Sozialpolitik, -pädagogik, -medizin und -psychologie entnommen sind, • dass es kaum akademische Vernetzungen zwischen den (Teil-)Disziplinen gibt. Die wesentliche Erkenntnis, die sich aus dem vorliegenden Vergleich ziehen lässt, besteht darin, dass - wie in Deutschland, so auch in anderen europäischen Ländern - ganztägige Bildungssysteme nur durch die Zusammenarbeit von schulischen und außerschulischen Organisationen, Professionen und Disziplinen möglich sind. Anders gewendet: Es gibt kein Ganztagssystem, das ausschließlich aus Schulen oder dessen Personal ausschließlich aus LehrerInnen besteht oder dessen relevante Disziplinen und Theorien lediglich schulpädagogisch sind; andere Organisationen (zumeist kommunal oder vereinsrechtlich gefasste), anderes Personal (zumeist aus dem Bereich der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen) und andere wissenschaftliche Disziplinen (zumeist sozialarbeiterische, medizinische und psychologische) sind in jedem der Fälle konstitutiv. Letztgenannte Entwicklung ist m. E. insofern als ambivalent zu bezeichnen, weil dies in den meisten Fällen Ausdruck einer Inkorporierung außerschulischer Institutionen in das jeweilige Schulsystem ist (vor allem in der französischen Ganztagsschule, aber auch im finnischen Modellprojekt zur Ganztagsbetreuung) und nur zu einem geringeren Teil Ausdruck einer Integration von schulischer und außerschulischer Bildung, wie z. B. in den Ansätzen zu einer Ganztagsbildung in den Niederlanden (zu dieser Differenz siehe BMBF 2004, 33). Häufig werden die Kategorien „inkorporativ“ und „integrativ“ verwischt, was insofern unpräzise ist, weil in den inkorporativen Konzepten die nicht-formellen Bildungssettings unter Verlust ihrer institutionellen Eigenständigkeit (z. B. in Vereinen/ Verbänden, Jugendeinrichtungen etc.) in die schulische Organisation eingegliedert sind. Diese beiden Grundmuster zur Verknüpfung von Organisationsformen und Bildungsmodalitäten (Inkorporation und Integration) (zu einer alternativen Typenbildung vgl. Schmidt 1994, 50) wären auch in der inländischen Bildungssystementwicklung weiterzuverfolgen (parallel zum z. Zt. vorherrschenden Grundmuster der Addition). Literatur Anweiler, O. u. a., 4 1996: Bildungssysteme in Europa. Entwicklung und Struktur des Bildungswesens in zehn Ländern: Deutschland, England, Frankreich, Italien, Niederlande, Polen, Russland, Schweden, Spanien, Türkei. Weinheim/ Basel 318 uj 7+8 (2009) ganztagsschulen BMBF - Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2004: Konzeptionelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht. Nonformale und informelle Bildung im Kindes- und Jugendalter. Berlin Döbert, H. u. a. (Hrsg.), 2002: Die Schulsysteme Europas. Baltmannsweiler Döbrich, P./ Huck, W., 1994: Quantitative Tendenzen der Zeit für Schule im internationalen Vergleich. In: Mitter, W./ v. Knopp, B. (Hrsg.): Die Zeitdimension in der Schule als Gegenstand des Bildungsvergleichs. Köln/ Weimar/ Wien, S. 11 - 43 Otto, H.-U./ Coelen, T. (Hrsg.), 2005: Ganztägige Bildungssysteme. Innovation durch Vergleich. Münster Puhl, R./ Maas, U. (Hrsg.), 1997: Soziale Arbeit in Europa: Organisationsstrukturen, Arbeitsfelder und Methoden im Vergleich. Weinheim/ München Radisch, F./ Klieme, E., 2003: Wirkung ganztägiger Schulorganisation. Bilanzierung der Forschungslage. Literaturbericht im Rahmen von „Bildung Plus“. Frankfurt am Main. www. forum-bildung.de/ files/ wirkung_gts.pdf., 27. 2. 04, ohne Seitenangabe Schmidt, G., 1994: Die Ganztagsschule in einigen Ländern Europas. Vergleichende Analyse im Rahmen des Projekts „Zeit für Schule“. In: Mitter, W./ v. Knopp, B. (Hrsg.): Die Zeitdimension in der Schule als Gegenstand des Bildungsvergleichs. Köln/ Weimar/ Wien, S. 45 - 112 Schümer, G., 2004: Zur doppelten Benachteiligung von Schülern aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten im deutschen Schulwesen. In: Schümer, G./ Tillmann, K.-J./ Weiß, M. (Hrsg.): Die Institution Schule und die Lebenswelt der Schüler. Vertiefende Analysen der PISA-2000- Daten zum Kontext von Schülerleistungen. Wiesbaden, S. 73 - 114 Der Autor PD Dr. Thomas Coelen Universität Siegen Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie Adolf-Reichwein-Straße 2 57068 Siegen coelen@erz-wiss.uni-siegen.de