unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2009
617+8
Kindliches Wohlergehen - ein erweiterter Armutsbegriff
71
2009
Hans-Peter Heekerens
Maria Ohling
Mit "Kinderarmut" ist in diesem Beitrag zunächst einmal die Armut von Kindern und Jugendlichen als Einkommensarmut und damit als Armut im Familienkontext gemeint. Die AutorInnen plädieren aber für einen erweiterten Armutsbegriff, wie er im (Mess-)Konzept des „Kindlichen Wohlergehens“, propagiert auch von UNICEF, vorliegt. Damit lassen sich mögliche Ansatzpunkte der Sozialen Arbeit sehr viel klarer markieren.
4_061_2009_7+8_0006
uj 7+8 (2009) 329 Unsere Jugend, 61. Jg., S. 329 - 338 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kindliches Wohlergehen - ein erweiterter Armutsbegriff Hans-Peter Heekerens/ Maria Ohling Mit „Kinderarmut” ist in diesem Beitrag zunächst einmal die Armut von Kindern und Jugendlichen als Einkommensarmut und damit als Armut im Familienkontext gemeint. Die AutorInnen plädieren aber für einen erweiterten Armutsbegriff, wie er im (Mess-)Konzept des „Kindlichen Wohlergehens“, propagiert auch von UNICEF, vorliegt. Damit lassen sich mögliche Ansatzpunkte der Sozialen Arbeit sehr viel klarer markieren. kinderarmut Einleitung „Kinder“ im Zusammenhang mit Kinderarmut(sforschung) meint, um dies hier als erstes zu klären, faktisch „Minderjährige“. Ferner ist darauf hinzuweisen: Mit der Redeweise „Kinderarmut“ wird keineswegs ignoriert, dass Armut von Kindern und Jugendlichen in der Regel „Armut im Familienkontext“ (Benz 2008) ist. Und eine dritte Klärung: Kinderarmutsforschung meint die Feststellung von Armutslagen bei Kindern und Jugendlichen sowie die Erforschung der subjektiven Wahrnehmung von Armutslagen durch Kinder und Jugendliche ebenso wie die objektiven kurz-, mittel- und langfristigen Folgen (v. a. Entwicklungsrisiken) von Armutslagen für davon betroffene Kinder und Jugendliche. Nicht zu Kinderarmutsforschung im so definierten Sinne gehören Untersuchungen zu Kindern als „Armutsrisiko“. (Mess-)Konzepte von Kinderarmut Das in der Kinderarmutsforschung am längsten und häufigsten gebrauchte sowie praktisch weltweit verbreitete (Mess-) Konzept ist das der Verfügbarkeit finanzieller Mittel. In bzw. für Deutschland zur Anwendung kommen nach diesem (Mess-) Konzept zum einen der - für internationale Vergleiche taugende - Indikator „relative Einkommensarmut“ (mit 50 %- oder 60 %-Armutslinie) und zum anderen der - für internationale Vergleiche ungeeignete - Indikator „Sozialhilfebezug“. Wesentlich breiter und komplexer ist das (Mess-)Kon- Prof. Dr. Hans-Peter Heekerens Jg. 1947; Dipl.-Psych., Dr. theol., Dr. phil., Professor für Pädagogik und Sozialarbeit/ Sozialpädagogik an der Fachhochschule München Prof. Dr. Maria Ohling Jg. 1961; Dipl.-Päd., Dipl.-SozPäd., Dr. phil.; Professorin für Handlungs- und Methodenlehre der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Landshut 330 uj 7+8 (2009) kinderarmut zept, das in den AWO-ISS-Studien zur Anwendung kommt (Holz 2008). Noch breiter und komplexer, unter ökonomischen und praktischen Gesichtspunkten aber (noch) realisierbar, ist das von der Bradshaw-Gruppe (Bradshaw u. a. 2006) entwickelte (Mess-)Konzept des „Kindlichen Wohlergehens“ (Child Well-Being), das mit einem deutlich breiteren Begriff von (Kinder-)Armut operiert als das (Mess-)Konzept der Verfügbarkeit finanzieller Mittel. Dieses (Mess-)Konzept des „Kindlichen Wohlergehens“ umfasst folgende Gruppen (Cluster): materielle Situation (darin eingeschlossen der Indikator „Verfügbarkeit finanzieller Mittel“), (Aus-) Bildung, Gesundheit, soziale Beziehungen, erlebtes Wohlergehen, Risiko/ Sicherheit, Wohnqualität (Wohnraum und -umfeld) sowie staatsbürgerliche Teilhabe (siehe Anhang am Ende des Beitrages). Wir haben uns mit diesem (Mess-)Konzept an anderer Stelle (Heekerens/ Ohling 2007; Ohling/ Heekerens 2007) auseinandergesetzt und auf seine Stärken und Schwächen hingewiesen. Zur Betrachtung der in Deutschland anzutreffenden Kinderarmut (im weiteren Sinne) wurde dieses (Mess-)Konzept in zwei international vergleichenden Analysen eingesetzt: in der EU-Studie (Bradshaw u. a. 2007) und in der OECD-Studie (UNICEF 2007). In der EU-Studie wurden alle acht o. g. Cluster von Wohlergehens-Indikatoren berücksichtigt, in der OECD-Studie konnten aufgrund schlechter Datenlage „Wohnqualität“ und „staatsbürgerliche Teilhabe“ nicht berücksichtigt werden (Heekerens/ Ohling 2007; Ohling/ Heekerens 2007). Kindereinkommensarmut in der Bundesrepublik heute Mit den vorstehenden Ausführungen zu unterschiedlichen (Mess-)Konzepten für Kinderarmut sind denn die Voraussetzungen dafür geschaffen, einige Ergebnisse zur Kinderarmut im Deutschland dieses Jahrzehnts darzustellen. Gemessen an den Indikatoren „Sozialhilfebezug“ und „relative Einkommensarmut“ ist im Deutschland der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts die Kinderarmut hoch und gemessen am zweiten Indikator höher als in früheren Jahren (Böhmer/ Heimer 2008; OECD 2008; Ohling/ Heekerens 2005). Um das Ausmaß der Kinderarmut an einer Zahl zu illustrieren: Im Jahr 2005 lag die Kinderarmutsquote, gemessen an der relativen Einkommensarmut bei einer Armutslinie von 60 %, bei etwas über 18 % (Böhmer/ Heimer 2008). Und um die Steigerung des Kinderarmutsrisikos, gemessen an demselben Indikator, zu verdeutlichen: Es stieg von 1996 zu 2006 von ca. 13% auf ca. 18 %; Vergleichbar ist - auf niedrigerem Niveau - der Anstieg der Kinderarmutsquote bei einer Armutslinie von 50 Prozent (Böhmer/ Heimer 2008). Zur Abrundung des Gesamtbildes zwei Nachbemerkungen. Zum einen: Als besondere Risikogruppen bei Kinderarmut (i. S. von relativer Einkommensarmut) sind 15bis 18-Jährige, Kinder Alleinerziehender (vorwiegend Mütter), aus ausländischen Familien und aus Familien mit Unterstützungsleistungen nach SGB II zu nennen (Böhmer/ Heimer 2008; Ohling/ Heekerens 2005). Zum anderen: Damit steht die heutige Bundesrepublik, gemessen an relativer Einkommensarmut, im Längsschnittvergleich schlecht da. Beurteilt nach diesem Indikator macht sie im Querschnittsvergleich mit anderen EU- Staaten hingegen eine gute Figur: an dritter Stelle der EU 15 (Böhmer/ Heimer 2008). Legt man aber das (Mess-)Konzept des „Kindlichen Wohlergehens“ zugrunde, nimmt sie im Querschnittsvergleich mit anderen EU-/ OECD-Staaten nur einen mittleren (oder mittelmäßigen) Platz ein (Ohling/ Heekerens 2007). uj 7+8 (2009) 331 kinderarmut Kindliches Wohlergehen - ein erweitertes Kinderarmutskonzept Wir haben schon in früheren Publikationen (Heekerens/ Ohling 2007; Ohling/ Heekerens 2007) dafür plädiert, dass die Soziale Arbeit und speziell die Sozialpädagogik sich, aller damit verbundenen Schwierigkeiten bewusst, bei der Kinderarmutsfrage theoretisch vom engen (Mess-) Konzept der Kinderarmut als Mangel an finanziellen Mitteln (Soziahilfearmut, relative Einkommensarmut) lösen und einem erweiterten Kinderarmutskonzept, wie es in dem auf der Kinderrechtskonvention beruhenden und von UNICEF propagierten (Mess-)Konzept des „Kindlichen Wohlergehens“ vorliegt, zuwenden möge. Denn aus dem (Mess-)Konzept des „Kindlichen Wohlergehens“ ergeben sich recht unmittelbar Ansatzpunkte für die Soziale Arbeit mit Kindern/ Jugendlichen in Armutslagen sowie deren Familien. Um dies zu illustrieren und zugleich zu demonstrieren, was moderne Forschungsarbeit zum traditionellen Thema „Kinderarmut“ leistet, möchten wir nachfolgend zentrale Resultate zweier jüngerer Untersuchungen aus Deutschland referieren; diese Ergebnisse konnten keinen Eingang in die o. g. EUbzw. OECD-Studien finden, weil sie erst nach deren Abschluss vorlagen. In beiden Studien werden Kinder und Jugendliche nicht als „Arme“ i. S. des zweiten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, also als „Arme“ i. S. des Konstrukts der „relativen Einkommensarmut mit 60 %-Grenze“ gesondert ausgewiesen. Stattdessen wird in beiden Studien mit einem Modell dreier Sozialschichten gearbeitet. Nach allem, was wir über das jeweilige Drei-Sozialschichten-Modell in den beiden Studien einerseits und die hierzulande übliche Definition von „Kinderarmut“ nach dem Indikator der „relativen Einkommensarmut mit einer Armutslinie von 60 %“ andererseits wissen, kann man zweierlei sagen: Alle „einkommensarmen“ Kinder und Jugendlichen finden sich in der unteren Sozialschicht. Andererseits sind nicht alle Kinder und Jugendlichen der unteren Sozialschicht, wohl aber die Mehrzahl, als „arm“ nach dem Indikator der „relativen Einkommensarmut mit einer Armutslinie von 60 %“ anzusehen. Man muss sich also davor hüten, die Resultate der nachfolgenden dargestellten Studien für Kinder/ Jugendliche der „unteren Sozialschicht“ ohne Weiteres als solche für „einkommensarme“ Kinder und Jugendliche anzusehen, wie das in vielen Pressereaktionen auf die Studien der Fall ist. Andererseits kann man nach allem Wissen der Kinderarmutsforschung begründet annehmen, dass die nachfolgend referierten Ergebnisse zu Kindern/ Jugendlichen der „unteren Sozialschicht“ in der Tendenz, nicht in der absoluten Höhe, als Resultate (auch) für - nach dem Indikator der „relativen Einkommensarmut mit einer Armutslinie von 60 %“ bestimmt - „arme“ Kinder/ Jugendliche gelten. Und von anderem als Tendenzen soll im Nachfolgenden nicht die Rede sein. Die 1. World Vision Kinderstudie Die erste der zwei zu betrachtenden Studien ist die 1. World Vision Kinderstudie (Gesamtdarstellung: Hurrelmann/ Andresen 2007; Zusammenfassung: World Vision 2007). Sie stützt sich auf eine repräsentativ zusammengesetzte Stichprobe von 1.592 Kindern im Alter von 8 bis 11 Jahren aus den alten und neuen Bundesländern. Die Kinder wurden von geschulten Infratest-InterviewerInnen zu Hause persönlichmündlich befragt. Zusätzlich wurde ein Elternfragebogen zum familiären Hintergrund erhoben. Die Befragung fand auf 332 uj 7+8 (2009) kinderarmut Grundlage eines standardisierten Erhebungsinstruments im Zeitraum von Anfang Februar bis Mitte März 2007 statt. W ir zitieren hier zunächst einmal aus der von World Vision selbst besorgten Zusammenfassung: „Die 1. World Vision Kinderstudie zeigt aber auch auf, wie nachhaltig wirksam bereits im Kindesalter die sozialen Unterschiede sind und wie maßgeblich die soziale Herkunft den Alltag prägt. Kinder haben je nach Schichtzugehörigkeit unterschiedliche Gestaltungsspielräume. Die schlechteren Startchancen von Kindern aus den unteren Herkunftsschichten durchziehen alle Lebensbereiche und wirken wie ein Teufelskreis. Armutsrisiken und fehlende Ressourcen werden als Belastungen erlebt und schränken Teilhabemöglichkeiten ein: in der Familie, die durch materiellen Druck und existenzielle Sorgen häufig überfordert ist, in der Schule, in der meist die Zeit und die Möglichkeiten für eine individuelle Förderung zum Ausgleich von Nachteilen fehlt, sowie im Wohnumfeld oder bei der Freizeitgestaltung. Kinder aus den unteren Schichten sind häufiger auf sich allein gestellt. Es fehlt ihnen an Rückhalt, an Anregungen und an gezielter Förderung. In der Konsequenz ist der Alltag dieser Kinder häufig einseitig auf Fernsehen oder auf sonstigen Medienkonsum ausgerichtet. Auffällig ist, dass insbesondere Jungen für diese auch sozial eher ausgrenzende Form der Freizeitgestaltung anfälliger sind“ (World Vision 2007, 1 - 2). B esondere Aufmerksamkeit dürften im „PISA-sensibilisierten“ Deutschland Resultate zum Zusammenhang zwischen Sozialschichtzugehörigkeit und besuchtem Schultyp erregen. Ein gutes Drittel der Kinder - die übrigen knapp zwei Drittel besuchen noch die Grundschule - verteilt sich auf die je nach Bundesland unterschiedlichen Schulformen im Sekundarbereich I. Auffällig dabei: Gymnasialbesuch findet sich in der Oberschicht 18-mal so häufig wie in der Unterschicht, während Förderschulbesuch in der Unterschicht 19-mal so häufig vorkommt wie in der Oberschicht. Wer Anschauungsmaterial dafür haben möchte, wie sich Armut sozial weiter vererbt, findet es hier. Unter dem Stichwort „Intergenerationale Tradierung“ (Intergenerational Transmission) hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Forschungsrichtung etabliert, die solchen sozialen Vererbungsprozessen nachgeht. Das Augenmerk kann dabei einem ganz spezifischen Thema oder Gegenstand, wie etwa Scheidungstradierung, oder aber auch Benachteiligung in einem ganz allgemeinen und umfassenden Sinne gelten. Bildungsstandtradierung ist ein spezifisches Thema, dem (auch) hierzulande in neuster Zeit verstärkte Aufmerksamkeit zukommt. Für Deutschland liegt dazu eine neue Analyse aus dem Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit vor (Heineck/ Riphahn 2007). Das zentrale Ergebnis der Untersuchung, die das letzte halbe Jahrhundert in den Blick nahm, ist so klar wie ernüchternd: „In spite of massive public policy interventions and education reforms our results yield no significant reduction in the role of parental background for child outcomes over the last decades“ (Heineck/ Riphahn 2007, 3). Bildungsarmut erweist sich zumindest in Deutschlang als eine recht verfestigte Größe, was auch von VertreterInnen einer dynamischen Armutsforschung nicht ignoriert wird. Die KiGGS-Studie Die zweite der hier zu betrachtenden Studien ist der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS-Studie) des Robert Koch-Instituts zum Gesundheitszustand uj 7+8 (2009) 333 kinderarmut von Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 bis 17 Jahren. Ziel der Studie war es, umfassende Daten zur gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen in Deutschland zu erheben und zu analysieren. Die Datenerhebung dauerte von Mai 2003 bis Mai 2006. In diesem Zeitraum besuchten Untersuchungsteams des Robert- Koch-Instituts 167 Städte und Gemeinden in ganz Deutschland und führten die Feldarbeit in eigens für diesen Zweck eingerichteten Studienzentren durch. In den drei Untersuchungsjahren durchliefen insgesamt 17.641 Jungen und Mädchen das Studienprogramm, das medizinische Untersuchungen und Tests, ein ärztliches Eltern-Interview, eine Probennahme von Blut und Urin sowie eine schriftliche Befragung der Eltern und ab 11 Jahren der Jugendlichen selbst umfasste. Im Mai 2007 ist eine Basispublikation als Schwerpunktheft des „Bundesgesundheitsblatts“ mit mehr als 40 Einzelbeiträgen zur KiGGS- Studie erschienen. Dabei handelt es sich um die erste umfassende Ergebnisdarstellung, aus der nachfolgend interessierende Ergebnisse referiert werden. Orientiert an Indikatoren des „Kindlichen Wohlergehens“ wurden verschiedene Einzelbeiträge zur KiGGS von uns, ohne dass wir damit Erkenntnisse der Resilienzfoschung zu Kinderarmut ignorieren würden, daraufhin geprüft, ob in ihnen als „negativ“ zu bewertende unterschichtspezifische Effekte zu finden sind. Die Ergebnisse dieser Prüfung sind unten dargestellt; gilt ein Resultat nur für eine ausgewiesene Altersgruppe bzw. ein bestimmtes Geschlecht, wird das in Klammern angemerkt. Dabei ausgelassen werden Ergebnisse zu Impfungen. In der Bundesrepublik gibt es seit 1983 keine Impfpflicht für Schutzimpfungen im Kindes- und Jugendalter mehr. Einige Schutzimpfungen, insbesondere die Masern-Impfung, sind ein Zankapfel zwischen Impf(pflicht)befürworterInnen und -gegnerInnen. Die Kontroverse betrifft auch das Feld der damit befassten Wissenschaften. So lange wir hier keine wissenschaftlich begründete Klarheit haben, scheint es klug, Impfraten bei der Beurteilung des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen außer Acht zu lassen. Von den durch die KiGGS-Studie erfassten Kindern und Jugendlichen zeigen im Vergleich mit denen aus den mittleren und oberen Sozialschichten solche aus der unteren Sozialschicht folgende Besonderheiten: • seltenere/ unregelmäßigere Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen, • häufiger sowohl Täter als auch Opfer bei Gewalthandlungen (11bis 17-Jährige), • beschäftigen sich häufiger und länger mit elektronischen Medien, insbesondere mit Fernsehen/ Video, Spielkonsole und Handy, • häufiger Übergewicht und Adipositas, • schlechteres Zahnputzverhalten, • häufiger Mandelentzündung, Masern. Von den durch die KiGGS-Studie erfassten Kindern und Jugendlichen fallen im Vergleich mit solchen aus der oberen Sozialschicht die aus der unteren Sozialschicht durch folgende Besonderheiten auf: • häufiger Verhaltensprobleme (Hinweise auf dissoziales und deviantes Verhalten), • häufiger Täter bei Gewalthandlungen, • häufiger von Verkehrsunfällen betroffen, • häufiger Essstörungen, • häufiger ADHS (3bis 17-Jährige), • rauchen häufiger (14bis 17-jährige Mädchen), • geringere motorische Leistungsfähigkeit, • häufiger inaktiv (11bis 17-Jährige; bei Mädchen ausgeprägter). 334 uj 7+8 (2009) kinderarmut Ergänzend sei zunächst einmal aus der BELLA-Studie, dem Modul „Psychische Gesundheit“ der KiGGS-Studie (repräsentative Teilstichprobe von 2.863 Familien mit 7bis 17-Jährigen), folgendes Ergebnis genannt: Als bedeutsame Risikofaktoren für das Auftreten psychischer Auffälligkeiten (v. a. Ängste, Störungen des Sozialverhaltens, Depressionen) erweisen sich ein ungünstiges Familienklima sowie Herkunft aus der unteren Sozialschicht. Und als im vorliegenden Zusammenhang interessierendes Ergebnis aus der Teilstichprobe von 6.691 11bis 17-Jährigen, denen (auch) Fragebögen zu personalen, sozialen und familiären Ressourcen vorgelegt worden waren, ist zu nennen: Kinder und Jugendliche aus der unteren Sozialschicht weisen im Vergleich mit solchen aus der mittleren und oberen Sozialschicht häufiger Defizite in ihren personalen, sozialen und familiären Ressourcen auf. Kinderarmut kommt teuer zu stehen Kinderarmut hat negative Folgen nicht nur für die davon betroffenen Kinder selbst, sondern auch für die Gesellschaft, in der sie leben. Von diesen negativen Folgen sollen hier nur die finanziellen näher betrachtet werden. Dabei kann man zwei Gruppen unterscheiden. In der ersten Gruppe geht es um die erhöhten Ausgaben, die einer Gesellschaft als Folge von Kinderarmut entstehen. Fassen wir etwa das erhöhte Adipositas-Risiko armer Kinder ins Auge: Auch in der deutschen Gesundheitsökonomie wird zunehmend mehr beachtet, welche enormen volkswirtschaflichen Kosten diese vermeidbare (! ) Krankheit direkt und indirekt nach sich zieht. Eine - zumindest in Fachkreisen - viel beachtete Rechnung, die ins Grünbuch der Europäischen Kommission (2005) aufgenommen wurde, hat eine britische Arbeitsgruppe zu den Folgen von Störungen des Sozialverhaltens aufgemacht. Auf der Basis von Daten einer repräsentativen Stichprobe aus dem Vereinigten Königreich ermittelte sie, wie hoch insgesamt die von der Gesellschaft erbrachten Mehrkosten sind, die innerhalb von 18 Jahren anfielen bei Personen, bei denen im 10. Lebensjahr eine aggressiv-dissoziale Störung diagnostiziert worden war. Das Ergebnis: 108.000 Euro. Mit den Folgen von Kinderarmut hat das deshalb etwas zu tun, weil aggressivdissoziale Störungen des Kindes- und Jugendalters in unterschiedlichen Sozialschichten in deutlich unterschiedlichem Maße auftreten. In der UNICEF-Kinderarmutsstudie wurde schon 2005 darauf hingewiesen, dass Aufwachsen in Armut signifikant und in praktisch bedeutsamem Maße mit kriminellem und dissozialem Verhalten korreliert. Nach den Ergebnissen der oben referierten KiGGS-Studie finden sich Verhaltensprobleme als Hinweise auf dissoziales und deviantes Verhalten - ohne Altersstufen-Effekt - bei 10,1 Prozent der Kinder der Oberschicht, bei 13,7 der Mittelschicht und bei 21,4 Prozent der Unterschicht. Ferner: bei Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren sind nach Auskunft der KiGGS-Studie die aus der unteren Sozialschicht bald doppelt so häufig Täter bei Gewalthandlungen wie solche aus der oberen Sozialschicht. Wenn man die negativen finanziellen Folgen von Kinderarmut für die Gesellschaft betrachtet, kann man neben den oben angesprochenen erhöhten Ausgaben verminderte Einnahmen ins Auge fassen. In Deutschland gibt es bekanntlich beides: Kinderarmut und Armut an Kindern; nach unserer Ansicht stellt das - Stichwort „Kinder als Armutsrisiko“ - die Vorder- und Rückseite ein und derselben Medaille dar. Und mit Blick auf die Armut an Kindern ist zu konstatieren: Der durch den Geburtenrückgang mit bewirkte Mangel uj 7+8 (2009) 335 kinderarmut an entsprechend qualifizierten Arbeitskräften macht sich schon jetzt bemerkbar und wird zukünftig noch spürbarer sein. Allen bisherigen Versuchen, diesem Mangel durch Arbeitskräfteimmigration zu begegnen, war wenig Erfolg beschieden. Umso notwendiger also, im Lande vorhandene Ressourcen zu aktivieren. Wenn man sich den oben genannten Zusammenhang zwischen Kinderarmut und schulischer/ beruflicher Qualifikation vor Augen hält, drängt sich die These auf: Bekämpfung der Kinderarmut ist ein Gebot der ökonomischen Vernunft; konkret heißt das: verstärkte Investition in Bildung. Genau dies ist auch die Forderung der Studie „Zukunftsvermögen Bildung“ (McKinsey & Company 2008), die die Robert Bosch Stiftung in Auftrag gegeben hatte. Und genau damit tut sich die Politik hierzulande sehr schwer, wie das Ergebnis des Bildungsgipfels am 22. 10. 2008 gezeigt hat; von einer „Bildungsrepublik Deutschland“ sind wir noch allzu weit entfernt. Schlussbemerkungen Nun mag manche/ r LeserIn unangenehm berührt sein, wenn man das Thema „Kinderarmut“ verknüpft mit monetären Überlegungen. Gerade in der sozialen Kultur mag man dies als herzlos empfinden und als gefährlich ansehen. Und in der Tat: In einer Gesellschaft und zu einer Zeit, da es allenthalben Tendenzen gibt, den Menschen auf bloße Arbeitskraft zu reduzieren, gilt es, sehr achtsam zu sein. Ein (Seiten-)Blick auf die Geschichte der Umweltbewegung könnte hier hilfreich sein. Solange sie allein die Zerstörung der Natur und das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten beklagt hatte, gab es bestenfalls ein wohlwollendes Kopfnicken - und schlimmstenfalls Abwertungen der Form „verrückte Krötenhüter“. Erst seitdem sie - und wer wollte sagen, sie habe dafür ihre Seele verkauft? - auch ökonomisch argumentiert und auf die Schäden für die Volkswirtschaft verweist, folgen plötzlich Taten. Und Taten, die bedeutsame Verbesserungen zur Folge haben, sind auch bei Kinderarmut bitter nötig. Wir (Heekerens/ Ohling 2005) haben auf der Basis einschlägiger internationaler Untersuchungen zwei Fragen näher beleuchtet: Tut der deutsche Sozialstaat, was für Kinder notwendig wäre, und tut er für sie, was er könnte? Unsere Antwort ist in beiden Fällen ein Nein. Angesichts dieser Situation kann es förderlich sein, wenn Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit immer wieder darauf hinweisen, dass die finanziellen Mittel, die der Bekämpfung der Kinderarmut und deren Folgen dienen, nicht als Ausgaben, sondern als Investitionen anzusehen sind. Literatur Benz, B., 2008: Armut im Familienkontext. In: Huster E.-U./ Boeckh, J./ Mogge-Grotjahn, H.: Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung. Wiesbaden, S. 381 - 399 Böhmer, M./ Heimer, A., 2008: Armutsrisiken von Kindern und Jugendlichen. Berlin Bradshaw, J./ Hoelscher, P./ Richardson, D., 2006: Comparing child well-being in OECD countries: Concepts and methods (Innocenti Working Paper No. 2006-03). Florenz Bradshaw, J./ Hoelscher, P./ Richardson, D., 2007: An index of child well-being in the European Union. In: Social Indicators Research, 80. Jg., S. 133 - 177 Europäische Kommission, 2005: Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern - Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union. www.bvgesundheit.de/ pdf/ gruenbuch _psychges2005.pdf, 10. 10. 2008 Heekerens, H.-P./ Ohling, M., 2005: Kinder, Armut und Sozialstaat. In: Unsere Jugend, 57. Jg., H. 9, S. 365 - 376 Heekerens, H.-P./ Ohling, M., 2007: Fragwürdige Indikatoren bei der Beurteilung des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen. In: Unsere Jugend, 59. Jg., H. 7 - 8, S. 331 - 337 Heineck, G./ Riphahn, R. T., 2007: Intergenerational transmission of educational attainment in Germany: The last five decades. http: / / ftp. iza.org/ dp2985.pdf, 9. 10. 2008 336 uj 7+8 (2009) kinderarmut Holz, G., 2008: Kinderarmut und familienbezogene Dienstleistungen. In: Huster E.-U./ Boeckh, J./ Mogge-Grotjahn, H.: Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung. Wiesbaden, S. 483 - 500 Hurrelmann, K./ Andresen, S., 2007: Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision Kinderstudie. Frankfurt am Main McKinsey & Company, 2008: Zukunftsvermögen Bildung. Wie Deutschland die Bildungsreform beschleunigt, die Fachkräftelücke schließt und Wachstum sichert. www.bosch-Stiftung.de/ content/ language1/ downloade/ McKinsey- Studie_gesamt_small_2.pdf, 16. 10. 2008 OECD, 2008: Growing unequal? Income distribution and poverty in OECD countries. http: / / puck.sourceoecd.org/ upload/ 8108051etemp. pdf, 24. 10. 2008 Ohling, M./ Heekerens, H.-P., 2005: Die Kinderarmut in Deutschland wächst. In: Sozialmagazin, 30. Jg., H. 9, S. 35 - 42 Ohling, M./ Heekerens, H.-P., 2007: Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen im Spiegel internationaler Berichte. In: Sozialmagazin, 32. Jg., H. 5, S. 50 - 55 Poethko-Müller, C./ Kuhnert, R./ Schlaud, M., 2007: Durchimpfung und Determinanten des Impfstatus in Deutschland. Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). In: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz, 50. Jg., S. 851 - 862 UNICEF, 2007: Child poverty in perspective: An overview of child well-being in rich countries. Florenz World Vision, 2007: World Vision-Kinderstudie: Kinder in Deutschland 2007. www.worldvisionkinderstudie.de/ downloads/ zusammenfassung-kinderstudie2007.pdf Die AutorInnen Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens Hochschule München Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften Am Stadtpark 20 81243 München hans-peter.heekerens@hm.edu Prof. Dr. Maria Ohling Hochschule Landshut Fakultät Soziale Arbeit Am Lurzenhof 1 84036 Landshut maria.ohling@fh-landshut.de Anhang: Indikatoren für „Kindliches Wohlergehen“ nach Gruppen und Bereichen Gruppen (insg. 8) Bereiche (insg. 23) Indikatoren (insg. 51 bzw. 54) Materielle Situation • Relative Einkommensarmut der Kinder • Deprivation der Kinder • Arbeitslosigkeit der Eltern - Relative Kindereinkommensarmut - Relatives Poverty Gap (-Absolute Kindereinkommensarmut - Indikator für die Dauerhaftigkeit von Kinderarmut - Maß dafür, wie Kinder ihre Armut erleben) - geringer Familienwohlstand nach Kindbericht - weniger als 6 Lernmittel (etwa Taschenrechner) verfügbar - weniger als 10 Bücher zu Hause vorhanden - kein Erwachsener im Haushalt mit Arbeit uj 7+8 (2009) 337 kinderarmut Gruppen (insg. 8) Bereiche (insg. 23) Indikatoren (insg. 51 bzw. 54) (Aus-)Bildung • Schulisches Leistungsniveau • Teilhabe am Bildungssystem • Arbeitsmarktsituation von BerufsanfängerInnen - Textverständnis (nach OECD/ PISA) - Mathematische Fähigkeit (nach OECD/ PISA) - Naturwissenschaftliche Kompetenz (nach OECD/ PISA) - bis 2-Jährige in Krippenbetreuung - 15bis 19-Jährige in (schulischer/ beruflicher) Ausbildung - 15bis 19-Jährige weder in Ausbildung noch im Beruf - 15-jährige SchülerInnen, die un-/ angelernte Arbeit anstreben Wohnqualität • Belegungsdichte • Qualität des Wohnquartiers • Wohnungsschäden - Personen pro Raum (Overcrowding) - Wohnquartier gilt nach Einschätzung der Haushalte mit Kindern für Nachtspaziergänge als (sehr) unsicher - Wohnquartier hat nach Einschätzung der Haushalte mit unter 15-Jährigen verstärkt Umweltprobleme (z. B. Feinstaubbildung) - Wohnung hat nach Angabe der Haushalte mit unter 15-Jährigen mindestens 2 gravierende Schäden (z. B. Schimmelbildung) Gesundheit • Gesundheit bei Geburt • Schutzimpfungen 1 • Gesundheitsverhalten - Säuglingssterblichkeit(srate) - (zu) geringes Geburtsgewicht - gegen Masern - gegen Diphtherie/ Keuchhusten/ Tetanus - gegen Polio - Zähneputzen mehr als einmal pro Tag - jeden Tag Obst essen - Frühstück an jedem Schultag - mehr als 1 Std. Sport pro Woche - (Über-)Gewicht (nach BMI) Sozialbeziehungen • Familienstruktur • Beziehung zu/ mit den Eltern • Beziehung zu/ mit Peers - Einelternfamilie - Stieffamilie - regelmäßig gemeinsames Essen - regelmäßig mit Eltern reden - Peers werden als nett und hilfreich bezeichnet 338 uj 7+8 (2009) kinderarmut Gruppen (insg. 8) Bereiche (insg. 23) Indikatoren (insg. 51 bzw. 54) Staatsbürgerliche Teilhabe • Bürgerschaftliches Engagement • Politisches Interesse - mind. 2 Aktivitäten (z. B. Jugendgruppe) - zeigt sich deutlich politisch interessiert Erlebtes Wohlergehen • Selbstdefinierte Gesundheit • Persönliches Wohlbefinden • Wohlergehen in/ mit der Schule - Selbsteinschätzung 11bis 15-Jähriger - hohe Lebenszufriedenheit - Außenseiter-Empfinden - Verlegenheitsgefühle - Einsamkeitsgefühle - fühlen sich durch Schulaufgaben belastet - haben Schule gern Risiko/ Sicherheit • Kindersterblichkeit • Risikoverhalten • Gewalterfahrungen - Mortalitätsrate der unter 19-Jährigen - Zigarettenrauchen (40-mal und mehr) - Trunkenheit (20-mal und mehr) - Rauschmittelkonsum - Teenagerschwangerschaft - Geschlechtsverkehr (GV) 15-Jähriger - Kondombenutzung beim letzten GV - Verwicklung in Handgreiflichkeiten - Erfahrung von Schikane 1 In Deutschland herrscht sei 1983 keine Impfpflicht mehr. Daher verwundert nicht, dass nach Auskunft der KiGGS-Studie Deutschland bei der Durchimpfung (Poethko-Müller/ Kuhnert/ Schlaud 2007) aus dem Rahmen dessen fällt, was aus der internationalen Kinderarmutsforschung bekannt ist. Darstellung nach Angaben von Bradshaw/ Hoelscher/ Richardson 2007. Die vorliegende Darstellung kann die Lektüre des Originals nicht ersetzen. Dort sind die einzelnen Indikator-Variablen, die hier nur kurz skizziert werden können, in klar operationalisierter Weise dargestellt. Von den 54 Indikator-Variablen wurden bei der Einschätzung des Wohlergehens in den Mitgliedländern der EU 25 lediglich 51 verwendet; für die 3 in Klammern angeführten Indikator-Variablen der relativen Einkommensarmut der Kinder lagen keine Daten vor. Mit „Kinder“ sind, sofern nicht näher dem Alter nach spezifiziert, unter 19-Jährige gemeint; für „kindlich“ gilt Entsprechendes.
