unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Niemand ist eine Insel - Kollegiale Beratung in der Stationären Erziehung und Betreuung
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2010
Alexandra Bielecke
Ziel dieses Beitrags ist es, möglichen Gefühlen von Überforderung und Hilflosigkeit im Rahmen der stationären Erziehungshilfe nicht nur eine "Existenzberechtigung" zu verschaffen, sondern diese zum Anlass zu nehmen, um herausfordernde berufliche Situationen mithilfe der Kollegialen Beratung professionell zu reflektieren und (wieder) handlungsfähig zu werden.
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uj 1 (2010) 23 Unsere Jugend, 62. Jg., S. 23 - 31 (2010) DOI 10.2378/ uj2010.art03d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel professionelles handeln Niemand ist eine Insel - Kollegiale Beratung in der Stationären Erziehung und Betreuung Alexandra Bielecke Ziel dieses Beitrags ist es, möglichen Gefühlen von Überforderung und Hilflosigkeit im Rahmen der stationären Erziehungshilfe nicht nur eine „Existenzberechtigung“ zu verschaffen, sondern diese zum Anlass zu nehmen, um herausfordernde berufliche Situationen mithilfe der Kollegialen Beratung professionell zu reflektieren und (wieder) handlungsfähig zu werden. Anforderungen an MitarbeiterInnen stationärer Einrichtungen Nicht nur wer in stationären Einrichtungen mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, muss früher oder später erfahren, dass es kein Geheimrezept für „die gute Erziehung“ gibt. Die Erziehung eines Menschen ist - neben dem Kind bzw. Jugendlichen selbst - abhängig von der Person des/ r Erziehenden und dessen/ deren Sicht auf die Welt, seiner/ ihrer Ausbildung und seinen/ ihren Fähigkeiten (Baierl 2008). Als ideal wird es angesehen, wenn sich ErzieherInnen und BetreuerInnen voll und ganz auf den Jugendlichen einlassen können. Die Bedürfnisse und das daraus resultierende Verhalten zu verstehen, wird leichter, wenn sie die Welt „mit den Augen des Kindes oder Jugendlichen“ betrachten. Das Einfühlungsvermögen in deren jeweilige Beweggründe erleichtert es den ErzieherInnen, individuelle Interventionen zu entwickeln, die dem Anlass und der Person entsprechen. Entscheidungen für oder gegen eine Intervention müssen in der Regel sehr spontan getroffen werden. Als Entscheidungshilfe steht einem/ r PädagogenIn in solchen Momenten vielfach „nur“ die eigene Qualifikation zur Verfügung. Eines der wichtigsten Werkzeuge von PädagogInnen ist demnach die eigene Person und Persönlichkeit. Als Basis für sichere Entscheidungen braucht es ein starkes Selbstvertrauen und die Sicherheit, Situationen nicht nur nach bestem Wissen und Gewissen einschätzen, sondern in der Folge zu den Entscheidungen auch stehen bzw. sie zur Diskussion stellen und begründen zu können. Eine Verabredung individueller und zugleich konkreter Regeln und nachvollziehbarer Vereinbarungen kann dem Kind oder Jugendlichen Sicherheit geben, sich in ei- Alexandra Bielecke Jg. 1974; M. A., Dipl.- Psychologin, Arbeitsschwerpunkte: Kommunikations- und Konfliktmanagement, Prozessbegleitung, Fortbildung, Coaching und Supervision 24 uj 1 (2010) professionelles handeln nem bekannten Rahmen mit absehbaren Konsequenzen zu bewegen. Werden die verabredeten Grenzen überschritten, sind ErzieherInnen gefordert, als Autorität die Grenzverletzungen aufzuzeigen und sodann mit diesen zu arbeiten. Als Voraussetzung für die Entwicklung einer wirksamen Konsequenz sollten ErzieherInnen genau beobachten und konkret benennen können, was sie als Grenzverletzung wahrgenommen haben. Ein kommunikatives Geschick und ein breites Spektrum an kommunikativen Fähigkeiten sind wertvolle Ressourcen für gegenseitiges Verständnis. Ausgeprägtes Fachwissen gekoppelt mit einem hohen Maß an Flexibilität und zwischenmenschlicher Kompetenz ermöglichen ErzieherInnen den professionellen und zugleich individuellen Umgang mit den verschiedensten Menschen - u. a. mit psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen. Auch den Eltern sollen sie Sicherheit vermitteln, mit den Gegebenheiten einer stationären Betreuung und Erziehung einschließlich aller damit verbundenen Rechte und Pflichten umzugehen. Um all diesen beispielhaft genannten Anforderungen gut ausgerüstet begegnen zu können, benötigen ErzieherInnen „… eine innere Haltung, die es erlaubt, unabhängig zu sein, statt beeindruckt, authentisch, statt in Rollen gefangen, da zu sein, statt zu meinen, beständig machen zu müssen und eigenen Impulsen zu folgen, statt überwiegend zu reagieren“ (vgl. Baierl 2008, 65). Was hier nur in Ansätzen dargestellt wurde, entspricht nicht selten dem unausgesprochenen Anspruch vieler ErzieherInnen (sowie vieler anderer helfender Berufe) an sich selbst und verlangt fast schon Übermenschliches, um sich diesem Ideal zu nähern. Idealisierungen geben uns zwar Halt und Orientierung. Sie zwingen uns aber auch, an einem Bild von Vollkommenheit festzuhalten, das wenig veränderlich ist. Fehler sind in diesem Verständnis nicht selbstverständlich, sondern werden für ein Versagen gehalten (Schmidbauer 2002). Idealvorstellungen von der Persönlichkeit und den Kompetenzen eines Menschen schaden deshalb eher, als dass sie nützen. Vom Umgang mit den eigenen Grenzen Mit einem differenzierten Blick auf den beruflichen Alltag in einer stationären Einrichtung wächst das Verständnis für Gefühle von Überforderung und Hilflosigkeit. Diese können regelmäßig entstehen, wenn sich Situationen entwickeln, die anders sind als alles bisher Erlebte und für die bislang keine Handlungsalternativen zur Verfügung stehen. Hinzukommt, dass die Handlungs- und Entscheidungsspielräume von ErzieherInnen in der Regel nicht selbstbestimmt sind, so z. B. die spezifische Arbeitssituation in einer Wohngruppe oder die Zusammensetzung des Teams mit all seinen Eigenheiten. Vorgaben des Hilfeplans und anderer Vereinbarungen können zwar unterstützend wirken und einen großen Halt geben, zugleich können die Rahmenbedingungen eine starke Einschränkung des Entscheidungsspielraums und infolgedessen Frustration bedeuten. Um angesichts der vielfältigen Anforderungen, die eine Tätigkeit in einer stationären Einrichtung mit sich bringt, die Freude an der Arbeit mit den Jugendlichen nicht zu verlieren, ist es wichtig, sich selbst fortwährend genügend Freiräume zu schaffen. Dies kann beispielsweise gelingen, indem eigene Grenzen (an-)erkannt, für eine regelmäßige Entlastung auf beruflicher und natürlich auch auf privater Ebene gesorgt und neuen Belastungen entgegengewirkt wird. uj 1 (2010) 25 professionelles handeln Es erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion, eine gute Balance zwischen der persönlichen und der professionellen Beteiligung herzustellen. Hierfür ist es ausgesprochen sinnvoll, sich selbst immer wieder neu in Frage zu stellen. Für das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ist jedoch ein „gnädiger“ Umgang mit sich selbst ebenso entscheidend. Ein einfühlendes Verständnis für eigene und fremde Schwächen ist eine Voraussetzung für wirksames Helfen (Schmidbauer 2008). Eine der Möglichkeiten, professionelle Unterstützung zu bekommen, ist die Supervision. Sie wird seit vielen Jahren in verschiedenen Kontexten eingesetzt, um durch eine/ n externe/ n BeraterIn Hilfe in schwierigen beruflichen Situationen zu erhalten. Sie dient dazu, die eigenen Potenziale zu erkennen und noch besser auszuschöpfen. Überdies können neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten entwickelt werden, die an die bisherigen Kompetenzen anknüpfen. Des Weiteren wird mit der Supervision die Sicherung und Verbesserung der Qualität beruflicher Arbeit angestrebt. Oft bestehen allerdings aus finanziellen oder organisatorischen Gründen nur wenige Möglichkeiten, externe Personen zur Unterstützung hinzuziehen. Um dennoch dem wachsenden Supervisionsbedarf entgegenzukommen, jedoch die Kosten für eine regelmäßige, berufliche Reflexion im Rahmen zu halten, wurde etwa seit Beginn der 90er Jahre die sogenannte Kollegiale Beratung entwickelt. Hilfe zur Selbsthilfe - die Kollegiale Beratung Bei der Kollegialen Beratung - oder auch Intervision - handelt es sich um ein strukturiertes Beratungsgespräch in einer Gruppe. Die Besonderheit der Kollegialen Beratung besteht darin, dass sie nicht unter der Leitung von externen BeraterInnen durchgeführt wird. In einem Kreis von mindestens sechs bis maximal zehn KollegInnen werden berufliche Anliegen nach einem feststehenden Ablauf reflektiert und bearbeitet. Jede/ r Teilnehmende der Beratungsgruppe bringt Fragestellungen aus dem eigenen beruflichen Umfeld in die Beratungsgruppe ein. Die Verantwortung für die Gestaltung des Prozesses liegt dabei gleichermaßen auf den Schultern aller - in diesem Sinne ist auch das „Kollegiale“ an der Kollegialen Beratung zu verstehen. Ziel einer Kollegialen Beratung ist es, gemeinsam Lösungen und Handlungsoptionen für eine konkrete Schlüsselfrage zu entwickeln (vgl. Tietze 2008). Für die Lösungssuche steht den Gruppenmitgliedern eine Auswahl an einfachen und kreativen Beratungsmethoden zur Verfügung (siehe Tabelle 1). Sowohl AnfängerInnen mit wenig Erfahrung in der Beratung von Menschen als auch BeratungsexpertInnen können mit diesen zu gewinnbringenden Ergebnissen kommen. Themen und Fragestellungen Die jeweilige Zielsetzung einer Kollegialen Beratung unterscheidet sich aufgrund der individuellen Schlüsselfrage und richtet sich nach dem Erkenntnisinteresse der Person, die ihr Anliegen einbringt. Folgende beispielhafte Themen und Probleme können in die Kollegiale Beratung eingebracht werden: 1. Persönliche Ebene: a. Balance zwischen Beruf und Privatleben wahren b. Zurückgewinnen der Geduld und Gelassenheit gegenüber einem Kind bzw. einem Jugendlichen c. Abgrenzung/ Schutz - z. B. ein Schicksal nicht zu dicht an sich heran zu lassen 26 uj 1 (2010) professionelles handeln 2. Klärung zwischenmenschlicher Beziehungen: a. Schwierigkeiten in der Kommunikation mit den Eltern b. Probleme in der Zusammenarbeit mit MitarbeiterInnen, KollegInnen oder KooperationspartnerInnen 3. Organisationale Ebene: a. Bestimmung der eigenen Rolle in der stationären Einrichtung b. Aufgaben/ Funktionen und Verantwortlichkeiten klären c. Autonomie in der Arbeit erhalten Die Zusammensetzung der Beratungsgruppe Da in einer Kollegialen Beratung Probleme aus dem beruflichen Alltag besprochen und für diese Lösungen entwickelt werden, können alle diejenigen teilnehmen, für die Kompetenzen konstruktiver Zusammenarbeit und zwischenmenschlicher Verständigung mit KollegInnen, MitarbeiterInnen und/ oder KlientInnen von Bedeutung sind. Davon ausgehend, dass sich Menschen aus ähnlichen Arbeitsgebieten qualifiziert beraten können, sind vergleichbare Erfahrungen in der Beratung und Betreuung bzw. Erziehung als Kriterium für eine Gruppenzusammensetzung ideal. Dabei dürfen sich die Quellberufe der Teilnehmenden (wie z. B. PädagogInnen, SozialarbeiterInnen, PsychologInnen usw.) unterscheiden. Die Ideen für Handlungsoptionen können von den unterschiedlichen, beruflichen Sichtweisen auf ein bestimmtes Problem sehr profitieren. Nach Möglichkeit sollten an einer Beratungsgruppe nur Menschen teilnehmen, die in keiner direkten Arbeits- oder auch Abhängigkeitsbeziehung zueinander stehen. Mit dieser Einschränkung soll sichergestellt werden, dass sich jede/ r frei fühlen kann, berufliche Probleme zu schildern - insbesondere natürlich auch Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit KollegInnen. Aus einem ähnlichen Grund sollten die Teilnehmenden auch in keinem hierarchisch angeordneten Verhältnis zueinander stehen. Wichtig ist, dass die Kollegiale Beratung nicht für die Klärung von Konflikten zwischen den Beteiligten gedacht ist. Liegen Kontroversen zwischen zwei oder mehr Personen in einer Gruppe vor, sollten Methoden der klassischen Konfliktvermittlung (wie z. B. Mediation oder Teamsupervision) gewählt werden. Prinzipien der Kollegialen Beratung Aufgrund der angestrebten symmetrischen Beziehungskonstellation aller Gruppenmitglieder ist die Offenheit und Wertschätzung gegenüber den Fragen, Ideen und Anliegen jedes Einzelnen eine Grundvoraussetzung für die gemeinsame Arbeit. Indem alle Teilnehmenden ehrliche (nicht verletzende) Rückmeldungen formulieren, kann eine Atmosphäre von Authentizität und Akzeptanz entstehen, die auch eine Konfrontation mit heiklen und eventuell unangenehmen Rückmeldungen zulässt und durch diese eine Entwicklung ermöglicht. Dennoch obliegt dem/ r sogenannten „FallerzählerIn“ - unter Würdigung der Beiträge aller BeraterInnen - die abschließende Entscheidung, welche der Anregungen er/ sie aus der Beratung weiterverfolgen bzw. unberücksichtigt lassen möchte. Alle Teilnehmenden einer Kollegialen Beratungsgruppe werden mit ihren Kompetenzen aktiv eingebunden. Die verschiedenen Rollen (ModeratorIn, FallerzählerIn, BeraterIn, SekretärIn) rotieren jeweils pro Beratung. Eine regelmäßige, verbindliche Teilnahme sichert die Konstanz der Gruppe und drückt zugleich den Respekt vor jedem einzelnen Gruppenmitglied aus. Informationen über konkrete Anliegen, die Inhalte der Bearbeitung oder der Gruppenprozesse werden nicht nach außen geuj 1 (2010) 27 professionelles handeln tragen. Jede/ r Teilnehmende soll sich frei fühlen, sich in seinen/ ihren Unvollkommenheiten in dem geschützten Rahmen der Gruppe zeigen zu können. Das Phasenmodell der Kollegialen Beratung Das Vorgehen in der Kollegialen Beratung folgt einer einfachen und klar definierten Struktur in sechs Phasen, die an den Bedürfnissen des/ der Ratsuchenden orientiert ist (vgl. Abbildung 1). Um den Beratungsprozess möglichst lebendig zu verdeutlichen, wird in die nachstehende Beschreibung der Beratungsphasen ein kurzes Fallbeispiel „Ausraster auf dem Hof“ eingeflochten. Vorbereitungsphase: Die Vorbereitungsphase dient dazu, in der Gruppe anzukommen. In einer Begrüßungsrunde, die eine Person als „ModeratorIn der Gesamtsitzung“ leitet, berichten die Teilnehmenden von den Fortentwicklungen ihrer bereits bearbeiteten Anliegen. Überdies benennen sie die Themen, über die sie aktuell sprechen möchten. Anschließend wird eine Bearbeitungsreihenfolge festgelegt und zur ersten Beratungseinheit übergeleitet. Phase 1: Casting (5 Minuten): Im Casting werden die Rollen (ModeratorIn, FallerzählerIn, SekretärIn, ProzessbeobachterIn) durch die Teilnehmenden besetzt. Steht der/ die FallerzählerIn fest, wird ein/ e ModeratorIn gesucht. Diese/ r leitet die Gruppe durch den nachfolgenden Beratungsprozess. Alle weiteren Gruppenmitglieder nehmen die Rolle der kollegialen BeraterInnen ein. Nach Möglichkeit dokumentiert eine/ r der BeraterInnen (zugleich als SekretärIn) die Ergebnisse. Wird ein/ e ProzessbeobachterIn von der Gruppe festgelegt, kann diese/ r im Anschluss an die Beratung eine Rückmeldung zum Gesamtprozess geben. Phase 2: Spontanerzählung (5 - 10 Minuten): Während der Spontanerzählung beschreibt der/ die FallerzählerIn sein/ ihr Problem und benennt dabei die Dinge, die aus seiner/ ihrer Sicht wichtig sind, um die Ausgangslage zu verstehen. Der/ die ModeratorIn unterstützt ihn/ sie dabei durch Fragen. Erst am Ende des Spontanberichts stellen die BeraterInnen Fragen, die sie für ihr Verständnis noch beantwortet wissen müssen. Abb. 1: Phasenmodell Kollegiale Beratung 28 uj 1 (2010) professionelles handeln Klaus (der Fallerzähler) berichtet von Tim, einem hyperaktiven Jugendlichen. In den letzten Wochen kam es mehrfach vor, dass dieser völlig überdreht aus der Schule kam. Es gelang ihm nicht, wie gewohnt mit seinen MitbewohnerInnen auf dem Hof Basketball zu spielen, ohne sich dabei mit ihnen in Schlägereien zu verwickeln. Klaus sah sich beim letzten Mal bereits nach 20 Minuten gezwungen, Tim auf sein Zimmer zu schicken. Er wollte ihm die Gelegenheit geben, sich zu beruhigen und die Reizüberflutung abklingen zu lassen, bevor er weiter Basketball spielt. Tim war jedoch nicht bereit, den Hof zu verlassen und die pädagogische Anweisung zu befolgen. Stattdessen wurde er das erste Mal gegen Klaus handgreiflich. Klaus reagierte erschrocken und schrie ihn vor seinen Freunden auf dem Hof an. Dabei schlug er Tims Arm zur Seite. Phase 3: Schlüsselfrage (5 Minuten): In dieser Phase wird der konkrete Beratungsauftrag im Dialog herausgearbeitet. Es erfolgt eine Konkretisierung des Themas, zu dem der/ die FallerzählerIn einen Rat sucht. Bereits diese Fokussierung kann ein erster Schritt in die Richtung einer Lösung sein. ModeratorIn und BeraterInnen orientieren sich an den folgenden Leitfragen für die Präzisierung der Fragestellung: • Welchen Klärungswunsch hat die/ der FallerzählerIn? • Was lösen die Hinweise/ Nachfragen der BeraterInnen bei ihm/ ihr aus? • Welche Zusammenhänge werden sichtbar? Der/ die ModeratorIn achtet darauf, dass die Schüsselfrage positiv und in Ich-Form formuliert ist. Das Verhalten und das Handeln des/ r FallerzählerIn stehen im Vordergrund. Im beschriebenen Fall könnte die Schlüsselfrage lauten: „Wie kann ich es schaffen, Tim konstruktiv eine Auszeit nahezulegen? “ Phase 4: Methodenwahl (5 Minuten): Entsprechend der in Phase 3 formulierten Schlüsselfrage sprechen die BeraterInnen über eine Methode (vgl. Tabelle 1), die am Interesse des/ r FallerzählerIn orientiert ist. Wichtig ist, dass sich die BeraterInnen in der Anwendung der Methode sicher fühlen, um zu gewinnbringenden Ergebnissen zu kommen. Im Fall „Klaus“ wählen die BeraterInnen das „Kopfstandbrainstorming“ als Beratungsmethode. Der Kopfstand ermöglicht eine schnelle und umfangreiche Erweiterung des Ideenhorizonts, indem zuerst in die gegensätzliche Richtung gedacht wird. Sehr schnell werden dadurch die Probleme deutlich, die einer Veränderung einer bestimmten Verhaltensweise bisher im Weg standen. Werden die Handlungsoptionen wertschätzend formuliert, können sie Klaus auf die Verhaltensweisen aufmerksam machen, die zur fortwährenden Wiederholung oder Verschlimmerung der Situation führen. Die Leitfrage für die BeraterInnen lautet hier: „Was kann Klaus tun, um die Lage noch zu verschlimmern? “ Phase 5: Kollegiale Beratung (10 Minuten): Die BeraterInnen tragen alle Ideen zusammen, die ihnen angesichts des Anliegens als Lösung oder Handlungsoption als geeignet erscheinen. Sie achten während der Beratung darauf, dass möglichst unterschiedliche Aspekte vorgetragen werden, um eine Ideenvielfalt zu erhalten. Der/ die FallerzählerIn verfolgt in dieser Beratungsphase den Prozess als ZuhörerIn. Er/ sie gibt nur dann eine Rückmeldung, wenn die Beratung in eine falsche Richtung gehen sollte oder ihm/ ihr die Beratung zu tief oder zu nahe geht. Der/ die SekretärIn schreibt stichpunktartig mit. Die BeraterInnen sammeln folgende Ideen, um die beschriebene problematische Situation noch zu verschlimmern: • Klaus bricht das nächste Mal schon nach zwei Minuten das Basketballspiel ab - noch bevor sich der Beginn einer Schlägerei überhaupt abzeichnet. • Klaus schickt Tim unabhängig von seinem Befinden immer erst auf sein Zimmer, wenn er aus der Schule kommt. uj 1 (2010) 29 professionelles handeln • Klaus erlaubt allen anderen Jugendlichen außer Tim das Basketballspielen nach der Schule, ohne den Grund dafür zu nennen. • … Die paradoxen Vorschläge weisen Klaus darauf hin, was er zukünftig besser nicht tun sollte, wenn er die gleiche Situation nicht noch einmal, evtl. sogar verschlimmert, erleben möchte. Am Ende dieser Ideensammlung kann es von Vorteil sein, die Vorschläge auf „reale Lösungsperspektiven“ zu untersuchen. Dafür können die Vorschläge gemeinsam wieder „auf die Füße“ gestellt werden, um sie anschließend in hilfreiche Handlungsoptionen zu übersetzen. Phase 6: Abschluss und Feedback (5 Minuten): Zum Abschluss der Beratung fasst der/ die FallerzählerIn zusammen, welche Rückmeldungen ihm/ ihr als hilfreich erscheinen, welche er/ sie davon weiterverfolgen bzw. unberücksichtigt lassen möchte. Für Klaus wurde aus den paradoxen Vorschlägen deutlich, dass er das Basketballspiel abgebrochen hat, ohne Tim den Grund dafür zu nennen. Aus Sorge, dass sich gleich eine größere Schlägerei entwickelt, schritt Klaus überraschend ein und „bestrafte“ Tim vor den Augen seiner MitbewohnerInnen ohne einen verständlichen Grund. Obwohl alle anderen ebenfalls an den vergangenen Schlägereien beteiligt waren, sollte nur Tim für eine Auszeit den Platz verlassen. Methode Ziel Beratungsfokus Leitfrage Brainstorming Sammeln von Lösungsoptionen lösungsorientiert Was könnte man in einer solchen Situation (alles) tun? Kopfstandbrainstorming/ Verkehrung ins Gegenteil Sammeln von Lösungsoptionen in der Gegenrichtung lösungsorientiert Was könnte der/ die FallerzählerIn tun, um die Situation zu verschlimmern? Der erste kleine Schritt Den Beginn für den Lösungsweg finden lösungsorientiert und strukturierend Was könnte der nächste kleine Schritt für ihn/ sie sein? Gute Ratschläge Empfehlungen für den weiteren Lösungsweg zusammentragen lösungsorientiert Welche guten Ratschläge kann ich ihm/ ihr geben? Sharing Bezug zu eigenen Erlebnissen herstellen Anteil nehmen Welche ähnlichen Erlebnisse/ Erfahrungen kenne ich? Hypothesen entwickeln Sammeln möglicher Alternativerklärungen Erweitern der Perspektive Was spielt(e) hier alles eine Rolle? Erfolgsmeldung Faktoren beschreiben, die (im Anschluss an eine erste Umsetzung) zum Erfolg geführt haben lösungsorientiert Wie hat der/ die FallerzählerIn seinen/ ihren Erfolg erreicht? Tab. 1: Übersicht über die Basis-Methodenbausteine (vgl. Tietze 2008, 117) 30 uj 1 (2010) professionelles handeln Klaus beschließt, sich in einem ruhigen Moment mit Tim zusammenzusetzen, um die Situation zu besprechen, nach den Ursachen für seine aktuelle Unruhe am Nachmittag zu fragen und konkrete Vereinbarungen für den Umgang in ähnlichen Momenten zu treffen. Anschließend bekommt der/ die ModeratorIn von allen Beteiligten eine Rückmeldung bezüglich seiner/ ihrer Leitung des Prozesses. Der/ die ProzessbeobachterIn meldet sodann allen Beteiligten zurück, wie er/ sie den Prozess wahrgenommen hat. Als letzten Schritt verlassen die Teilnehmenden ihre jeweiligen Rollen. Im Falle einer weiteren Beratung nehmen die Beteiligten eine andere Rolle ein und der eben beschriebene Ablauf beginnt von vorn. Methodenbzw. Werkzeugkoffer Die Kollegiale Beratung ist durch ihre klare Struktur schnell zu erlernen. Eine unmittelbare Umsetzung wird zudem durch die leicht verständlichen Methodenbausteine ermöglicht. Tietze (2008) stellt verschiedene Vorgehensweisen je nach der Schlüsselfrage der Ratsuchenden und nach Schwierigkeitsgrad anschaulich in Übersichten zusammen. In der Tabelle 1 sind einige beispielhafte Methoden aufgezählt. Nutzen der Kollegialen Beratung für die Stationäre Erziehung/ Betreuung Wie hoffentlich auch in der Kürze dieses Beitrags gezeigt werden konnte, ist die Kollegiale Beratung eine einfache Methode, die ohne lange Vorbereitungszeit und mit nur minimalem Organisationsaufwand jederzeit durchführbar ist. Sie bietet sich für PädagogInnen stationärer Einrichtungen an, weil sie nicht auf Finanzierung und Verfügbarkeit externer Personen angewiesen ist, sondern im Bereich der eigenen Verantwortlichkeit bleibt und die vorhandenen Beratungskompetenzen gewinnbringend nutzt. Regelmäßige Treffen etablieren ein Netzwerk gegenseitiger Unterstützung, das sich auch zwischen den Beratungssitzungen aktivieren lässt. Bereits die Gewissheit, dass KollegInnen in anderen stationären Abteilungen/ Einrichtungen ähnliche Erfahrungen sammeln, sorgt häufig für eine große Entlastung und einen sukzessiven Stressabbau. Die Rückmeldungen der Mitglieder einer Kollegialen Beratungsgruppe helfen zudem, die eigenen Potenziale zu erkennen und zukünftig noch besser auszuschöpfen. Auch wenn sich eine Kollegiale Beratung deutlich von einer Gruppentherapie unterscheidet, lassen sich wichtige Erkenntnisse über den Lernprozess beim Erwerb eines neuen Verhaltens übertragen. So beschreibt Yalom (2005), dass sich TeilnehmerInnen einer Gruppentherapie Verhaltensweisen anderer TeilnehmerInnen oder des/ r TherapeutIn zum Vorbild nehmen. Sie regen zur Erprobung neuer Handlungsalternativen an. Dieser Lerneffekt lässt sich nach Bandura (1979) mit einem „stellvertretenden Lernen“ erklären und wird durch neueste Forschungsergebnisse aus der Neurobiologie gestützt (vgl. Bauer 2005). Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert auch das Lernen in einer Kollegialen Beratung. Sowohl der/ die Einzelne als auch die Mitglieder der Beratungsgruppe werden bei der Bearbeitung eines Anliegens zeitgleich angeregt, die eigenen Verhaltensweisen und Einstellungen sowie die berufliche Rolle zu hinterfragen und ggf. neue Handlungsoptionen in Erwägung zu ziehen. uj 1 (2010) 31 professionelles handeln Selbst wenn ein Anliegen zeitbedingt nicht eingebracht werden kann, ergeben sich durch ähnliche Problemkonstellationen von anderen Teilnehmenden oftmals trotzdem bedeutsame Erkenntnisse für die eigene Fragestellung. Durch die mitunter recht unterschiedlichen Berufserfahrungen bietet sich zudem eine Vielzahl an neuen Einsichten in die berufliche Praxis und eine ungleich stärkere Erweiterung der beruflichen und persönlichen Handlungskompetenzen, als dies beispielsweise durch eine Einzelberatung möglich gewesen wäre. Aus der institutionellen Perspektive ergeben sich durch die Etablierung der Kollegialen Beratung ebenfalls einige Vorteile. Durch das Erlernen und stetige Fortentwickeln von Beratungs- und Methodenkompetenzen kann „ganz nebenbei“ von einer Personalentwicklung von MitarbeiterInnen gesprochen werden. Die Vernetzung sehr gut ausgebildeter MitarbeiterInnen ermöglicht zudem einen regelmäßigen, ressourcenschonenden fachlichen Austausch, der die Einzelnen in ihrer täglichen Arbeit auf vielfache Weise stärkt. Literatur Baierl, M., 2008: Herausforderung Alltag - Praxishandbuch für die pädagogische Arbeit mit psychisch gestörten Jugendlichen. Göttingen Bandura, A., 1979: Sozial-kognitive Lerntheorie. Stuttgart Bauer, J., 2005: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hamburg Franz, H.-W./ Kopp, R. (Hrsg.), 2003: Kollegiale Fallberatung - State of the Art und organisationale Praxis. Bergisch Gladbach Schlee, J., 2 2008: Kollegiale Beratung und Supervision für pädagogische Berufe - Hilfe zur Selbsthilfe. Ein Arbeitsbuch. Stuttgart Schmidbauer, W., 2002: Helfersyndrom und Burnout-Gefahr. Jena Schmidbauer, W., 16 2008: Hilflose Helfer - Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Reinbek Tietze, K.-O., 3 2008: Kollegiale Beratung - Problemlösungen gemeinsam entwickeln. Reinbek Yalom, I. D., 2005: Im Hier und Jetzt - Richtlinien der Gruppenpsychotherapie. München Die Autorin Alexandra Bielecke, M. A. Swinemünder Str. 3 10435 Berlin alexandra.bielecke@gmx.de
