eJournals unsere jugend 62/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2010
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Sexuell übergriffige Jungen in der Jugendhilfe - (wie) kann das gut gehen?

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2010
Hans Scholten
Jörg Lachnitt
Joachim Klein
Michael Macsenaere
Jungen mit sexuell übergriffigem Verhalten unterliegen im Rahmen der Jugendhilfe oft einem verhängnisvollen "Drehtüreffekt", der sie von Einrichtung zu Einrichtung, von Hilfe zu Hilfe weiterreicht. Daher drängt sich die Frage auf, ob es auch für diese Klientel Erfolg versprechende Modelle einer gelingenden Jugendhilfe gibt und vor allem, wie diese geartet sind.
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74 uj 2 (2010) Unsere Jugend, 62. Jg., S. 74 -88 (2010), DOI 10.2378/ uj2010.art07d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel arbeit mit jungen Sexuell übergriffige Jungen in der Jugendhilfe - (wie) kann das gut gehen? Hans Scholten/ Jörg Lachnitt/ Joachim Klein/ Michael Macsenaere Jungen mit sexuell übergriffigem Verhalten unterliegen im Rahmen der Jugendhilfe oft einem verhängnisvollen „Drehtüreffekt“, der sie von Einrichtung zu Einrichtung, von Hilfe zu Hilfe weiterreicht. Daher drängt sich die Frage auf, ob es auch für diese Klientel Erfolg versprechende Modelle einer gelingenden Jugendhilfe gibt und vor allem, wie diese geartet sind. Der vorliegende Beitrag stellt zu Beginn die Arbeitsweise einer stationären Gruppe für sexuell übergriffige Jungen in Dormagen vor. Im zweiten Teil des Beitrags werden die wichtigsten Ergebnisse einer dreijährigen Evaluation dieser Gruppe vorgestellt. Sie belegen ausgeprägte Erfolge des untersuchten intensivpädagogischen Konzepts und zeigen zentrale wirkmächtige Faktoren auf. Die Kick-Off-Gruppen im Raphaelshaus Um auf Anfragen zur Aufnahme besonders schwieriger Klientel fachlich adäquat antworten zu können, wurde im Raphaelshaus in Dormagen, das über 250 betreute Kinder und Jugendliche und knapp 200 MitarbeiterInnen aufweist, das Konzept der sogenannten „Kick-Off-Gruppe“ entwickelt. Darin wurden über 25 Jahre Jugendhilfeerfahrung des Einrichtungsleiters mit dem Wissen um besondere Wirkfaktoren im Bereich der Arbeit mit kriminellen Jungen kombiniert. In 2001 nahm die erste Kick-Off-Gruppe, benannt nach dem Begründer der Erlebnispädagogik/ Erlebnistherapie Kurt Hahn, ihre Arbeit auf. Alle Jungen dieser Gruppe haben Vorerfahrungen im Bereich Diebstahl, Körperverletzung, Raub usw. Das Aufnahmealter liegt unter 14 Jahren. Die in der pädagogischen Praxis gesammelten Erfahrungen und die Ergebnisse der begleitenden Evaluation machten Mut zur Eröffnung einer zweiten Kick-Off-Gruppe. Die nach dem zeitgenössischen Künstler Otmar Alt benannte Gruppe ging 2004 an den Start. Zielgruppe sind sexuell übergriffige Jungen (mit polizeilichem Ermittlungsverfahren), die zum Teil eigene Opfererfahrung haben. Auch hier ist das Aufnahmealter auf maximal 14 Jahre begrenzt (vgl. Scholten/ Lachnitt 2008). Zurzeit plant das Raphaelshaus eine weitere Kick-Off-Gruppe. Sie soll straffällige Jungen im strafmündigen Alter im Bereich Diebstahl, Körperverletzung und Raub vor oder nach der Verurteilung durch das Jugendgericht aufnehmen. Maßnahmen zur U-Haft-Vermeidung bzw. Vorbewährung sind möglich, wenn sie Aussicht auf längerfristige pädagogische Prozesse bieten. Die Verweildauer einer Erziehungshilfe soll zwei Jahre nicht unterschreiten und das Aufnahmealter zwischen 14 und maximal 16 Jahren liegen. uj 2 (2010) 75 arbeit mit jungen Klientel der Otmar-Alt-Gruppe Ingrid Wolff-Dietz (2006) führt in ihrem „Modell der sexuellen Delinquenzentwicklung im Jugendalter“ die verschiedenen Erklärungsansätze in ihrer Komplexität zusammen. Ausgehend von verschiedenen Faktoren, wie Herkunftssystem, erlebte Traumata, Kompetenzen, psychischen Störungen, grundlegendem Beziehungsverhalten bis hin zu genetischen Faktoren, Medieneinfluss und sozioökonomischem Status, bewirken diese eine Labilisierung des Jugendlichen. Sind die eigenen gesunden Kompensationsmöglichkeiten des Jugendlichen nicht ausreichend, kann es zu delinquenten Handlungen kommen (vgl. Wolff- Dietz 2007, 162). Die beschriebene Komplexität des Themas wird deutlich, wenn wir unsere bisherigen Erfahrungen mit unseren Jugendlichen zusammenfassen. Die jungen Menschen in der Gruppe sind unter 14 Jahre alt und sexuell übergriffig. • Sie sind „aufgefallen“, erwischt worden, zum Teil angezeigt und aus ihrer Sicht verraten worden. • Sie waren offen oder verdeckt aggressiv und machtbegierig. • Sie streben auf kompensatorische Art nach Bedürfnisbefriedigung und haben dabei leidende Opfer hinterlassen, die meist aus ihrem nahen Umfeld stammen. • Sie sind aber auch Kinder, die zu Tätern wurden und sich zum Teil früh auffällig verhalten haben. • Sie tragen unbehandelte Traumata mit sich herum, die häufig genug im familiären Umfeld ihren Ursprung finden. • Sie sind häufig Opfer eigens erlebter körperlicher, sexueller oder psychischer Gewalt und haben schwierigste Sozialisationsprozesse hinter sich (weitere Untersuchungsergebnisse zur Klientel der Otmar-Alt-Gruppe s. u.). • Sie sehnen sich nach Sicherheit, Aufmerksamkeit und positiven Bindungen und können keines dieser Bedürfnisse auf adäquate Weise einfordern. Essentials der Kick-Off-Gruppen Mit dieser überaus komplexen Ausgangslage sind Regelgruppen in der Heimerziehung nicht selten überfordert. Daher liegen Hans Scholten Jg. 1959; Dipl. Soz. Päd., Direktor des Jugendhilfezentrums Raphaelshaus, Vorsitzender des Bundesverbandes katholischer Einrichtungen und Dienste (BVkE) Jörg Lachnitt Jg. 1968; Dipl.-Heilpäd., Gruppenleitung der Otmar-Alt-Gruppe, JHZ Raphaelshaus Joachim Klein Jg. 1972; Wissenschaftlicher Mitarbeiter der IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH Prof. Dr. Michael Macsenaere Jg. 1959; Geschäftsführender Direktor der IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH 76 uj 2 (2010) arbeit mit jungen den Kick-Off-Gruppen eine Reihe von intensivpädagogischen „Essentials“ zugrunde, die eine „normale“ Heimerziehung in dieser Kombination nicht leisten kann: Ethische Orientierung Anstelle eines geschlossenen Gruppensettings wird versucht, eine maximale Bindungskraft zu schaffen, die Entweichungen minimiert. Das Thema Entweichung ist in beiden Gruppen kein dominierendes Merkmal. Die Einrichtung verpflichtet sich selbst zur Falltreue bei Aufnahme der Jungen in die Kick-Off-Gruppe. Das heißt, während des geplanten zweijährigen Aufenthaltes erfolgt keine Entlassung der Jungen vonseiten der Einrichtung, unabhängig davon, welche Krisen und Konflikte durchlebt werden müssen. Diese Selbstverpflichtung ist mittlerweile ausgedehnt worden auf die Schnittstelle der Überleitung der Jungen nach zwei Jahren. Findet sich keine sinnvolle und bessere Alternative, übernimmt die Einrichtung die Verantwortung für die Weiterführung der Jugendhilfe nach zwei Jahren Aufenthalt in den Kick-Off- Gruppen. Struktur im Alltag, indoor und outdoor Das Herzstück der Gruppenpädagogik ist ein pädagogisch durchgeplanter Tagesverlauf von Aufstehzeit bis Zubettgehzeit. Es gibt keine Minute im Tagesablauf, die nicht pädagogisch geplant ist und deren Planungsinhalte nicht transparent und einsichtig sind. Innerhalb des Tages erfolgt eine dreimalige Reflexion des Verhaltens. Für die einzelnen Wochen gibt es ausgehandelte und reflektierte Wochenziele. Die Benotungen der Reflexionen und die Erreichung oder Nichterreichung des Wo- Otmar-Alt-Gruppe zu Besuch im Atelier vom Namenspatron und Paten Otmar Alt uj 2 (2010) 77 arbeit mit jungen chenziels münden in einen Stufenplan, der einmal in der Woche besprochen wird. Der Stufenplan hat acht Stufen und eine Minusstufe. Jede höhere Stufe ist mit einem Plus an Privilegien und eigenverantwortlicher Zeit und Tagesplanung verbunden. Bei Abstiegen entfallen diese Privilegien und müssen erneut „verdient“ werden. Erlebnispädagogik: Innerhalb gesetzter Budgets bestimmt die Gruppe ihre Settings, die für die Gruppenpädagogik besonders wirkungsvoll sind. Unabhängig von der Wetterlage und der Jahreszeit können diese Settings indoor oder outdoor ausgesucht werden. Dabei sind 100 Tage outdoor im Jahr obligatorisch. Tierpädagogik und -therapie Tierpädagogik dient der Selbsterfahrung und dem Aufbau von Selbstwertgefühl. Sie ermöglicht Kindern und Jugendlichen, die mit Menschen in der Regel negative Erfahrungen gemacht haben, unverdächtige Zärtlichkeit zu einem Geschöpf. Tierpädagogik lehrt Verantwortung für Geschöpf und Schöpfung, für sensiblen Umgang mit der Natur und den Umgang mit unterschiedlichen Charaktereigenschaften der Tiere. Die Evaluationsergebnisse (s. u.) belegen, dass die Arbeit mit den Tieren zu einer positiven Beeinflussung des emotionalen Befindens und der sozial-emotionalen Entwicklung der Jugendlichen führt. Personelle Wertschätzung In den Kick-Off-Gruppen arbeiten qualifizierte Fachkräfte mit hoher beruflicher und menschlicher Kompetenz. Das 1 : 1- Verhältnis zwischen pädagogischen Fachkräften und anvertrauten Jungen plus dem/ r LehrerIn für den Unterricht garantiert eine gute und individuell orientierte Pädagogik sowohl im Indoorals auch im Outdoorsetting. Alle Fachkräfte zeichnen sich durch Mehrfachqualifikationen über die sozialpädagogische Ausbildung hinaus aus. In der Regel sind dies handlungsorientierte Zusatzqualifikationen im Bereich Erlebnis-/ Tierpädagogik, als ÜbungsleiterIn im Sport oder mit Computer-Kenntnissen. In der Auseinandersetzung mit hochkomplizierten Jungen sind kontinuierliches Coaching und Supervision sowie ein breites Programm interner und externer Weiterbildung für die Gruppenteams obligatorisch. Materielle Wertschätzung Die Pädagogik bestimmt die Architektur und Aufteilung des Gruppengebäudes. Die Wertschätzung gegenüber der Zielgruppe, aber auch gegenüber den in der Gruppe arbeitenden Fachkräften wird durch eine exklusive und geschmackvolle Ausstattung mit allen erforderlichen Materialien, Werkzeugen und Möbeln gewährleistet. Die alte Zwergschule im Dorf steht Modell für die Schulklasse im Gruppengebäude. Der/ die LehrerIn muss schul- und klassenübergreifenden Unterricht gewährleisten. Es gilt das Klassenlehrerprinzip unter Ausschluss von mehrmaligem Lehrerwechsel. Der/ die LehrerIn gehört zum sozialpädagogischen Team, und innerhalb der Schule/ des Schulunterrichts gelten dieselben Regeln wie innerhalb der Gruppe. Die Schulpflicht wird auch in den erlebnispädagogischen Outdoorsituationen weitergeführt. Dafür hat sie eine exklusive Medienausstattung, die modernen Unterricht an jedem Punkt in Europa ermöglicht. Familienarbeit Von Anfang an wird ein großer Wert auf die Familienarbeit gelegt. Die Fachkräfte treten zu den gewachsenen Beziehungen zwischen Kind und Elternhaus nicht in Rivalität und Konkurrenz. Das Familiensys- 78 uj 2 (2010) arbeit mit jungen tem wird nach den Möglichkeiten, die es aufgrund seiner eigenen Ressourcen hat, gefördert und angeleitet. Multimodaler Ansatz Durch die Gleichwertigkeit von Therapie, Pädagogik und Ressourcenförderung kann individuell auf die Persönlichkeitsmerkmale eines jeden Jungen in einem stabilen Umfeldsystem eingegangen werden. Ein solcher multimodaler Ansatz wird auch von Klaus Machlitt (2004, 13) empfohlen: „Mittlerweile ist es unbestritten, dass eine reine Sexualtherapie den Problemen sexuell grenzverletzender Jugendlicher nicht gerecht wird und eine ausschließliche Zentrierung auf das sexuell deviante Symptom als weitgehend wirkungslos anzusehen ist. (…) Gefordert sind also multimodale Konzepte, in denen nicht nur Intervention zur Verhaltensänderung, sondern ebenso Impulse zur Persönlichkeitsentwicklung und sozialen Integration enthalten sind.“ Begleitforschung In beiden Kick-Off-Gruppen ist eine den pädagogischen Alltag begleitende Forschung mit Aussagen zur Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität Voraussetzung. Mit einer Kombination aus Selbst- und Fremdevaluation werden u. a. die Ressourcen und Defizite der Jungen in den Kick-Off-Gruppen über den gesamten Hilfeverlauf dokumentiert. Damit werden Vergleiche zwischen dem Einzelfall, der Gesamtgruppe, der Einrichtung und einer bundesweiten Gesamtstichprobe ermöglicht. Auf der Basis von Anamnese und prospektiver Diagnostik liefert sie Daten zum Erfolg der Hilfe bzw. signalisiert drohende Misserfolge im Erziehungsprozess. Die Begleitforschung trifft Aussagen für die Erziehungsplanung und für das Hilfeplanverfahren und ist damit ein Garant für kontinuierliche Qualitätsentwicklung auf der Grundlage der gelieferten Daten. Nachfolgend werden zentrale Ergebnisse dieser Begleitforschung vorgestellt. Sie geben u. a. darüber Auskunft, welche Ergebnisse mit dem aufwendigen intensivpädagogischen Ansatz der Otmar-Alt-Gruppe erreicht wurden. Methodik der Evaluation Das vom Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) betreute Forschungsvorhaben war auf einen Zeitraum von 3 Jahren (von 2006 bis 2009) angelegt. Es wurde ein quasiexperimentelles Untersuchungsdesign (vgl. Bortz 2006) gewählt, in dem die Jugendlichen der Otmar-Alt-Gruppe mit zwei hinsichtlich verschiedener Merkmale parallelisierten Kontrollgruppen aus anderen stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen verglichen wurden: • 28 Kinder und Jugendliche, die ebenfalls sexuelle Auffälligkeiten aufweisen und in diesbezüglich spezialisierten Gruppen untergebracht waren (im Folgenden kurz: SAJ); • 46 Kinder und Jugendliche, die in Bezug auf Alter, Geschlecht, Jugendhilfevorerfahrung, Ressourcenlage und Defizitbelastung bei Beginn der stationären Erziehungshilfe mit den Jugendlichen der Otmar-Alt-Gruppe vergleichbar sind (im Folgenden kurz: MP). Beide Kontrollgruppen wurden aus dem bestehenden Datenpool der Evaluationsstudie erzieherischer Hilfen EVAS (vgl. Macsenaere/ Knab 2004) heraus generiert. Dabei wurde zur Selektion der zweiten Kontrollgruppe die „Matched-samples“- Methode (vgl. Bortz 2006) eingesetzt, um eine möglichst hohe Übereinstimmung zur Experimentalgruppe herzustellen. Der uj 2 (2010) 79 arbeit mit jungen Stichprobenumfang der Otmar-Alt-Gruppe (OAG) lag bei 19 Jugendlichen, die ausschließlich Hilfeleistungen nach § 34 SGB VIII erhielten, wobei zum Zeitpunkt der Beendigung des Evaluationsprojekts 7 Hilfen noch andauerten, sodass Informationen über 12 vollständig abgeschlossene Hilfeverläufe analysiert werden konnten. In der ersten Projektphase wurde das Erhebungsinstrumentarium zur Sammlung aller notwendigen Informationen über die Otmar-Alt-Gruppe zusammengestellt bzw. neu entwickelt, z. B. EVAS-Erhebungsbögen für stationäre Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen nach § 34 SGB VIII, Dokumentationsbögen zur differenzierten Erfassung sexueller Auffälligkeiten der Jugendlichen vor und während des Hilfeverlaufs der stationären Unterbringung sowie der Entwicklung der Jugendlichen innerhalb des gruppeninternen Verstärkersystems (Therapie- und Sozialstufenplan), Testfragebögen FEPAA (Fragebogen zur Erfassung von Empathie, Prosozialität, Aggressionsbereitschaft und aggressivem Verhalten, vgl. Lukesch 2005) zur Untersuchung der empathischen Entwicklung der Jugendlichen. Die mit diesem Instrumentarium dokumentierten Daten wurden im Längsschnitt der zu untersuchenden Hilfeverläufe prospektiv erhoben, um eine möglichst harte bzw. valide Datenbasis zu erreichen. Zur Optimierung der Datenqualität wurde innerhalb der Untersuchung ein „externes Datencontrolling“ durchgeführt, in dessen Rahmen MitarbeiterInnen des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe in der Otmar-Alt- Gruppe jeweils zu Beginn und bei Abschluss einer Hilfemaßnahme zusätzliche Daten erhoben, um ein unabhängiges Bild der jeweiligen Situation des Jugendlichen zu erhalten. Im Rahmen der Projektlaufzeit wurde zweimal eine statistische Auswertung der jeweils bis Auswertungsbeginn erhobenen Daten durchgeführt: Im Zeitraum Februar/ März 2008 erfolgte eine Zwischenauswertung, deren Ergebnisse einrichtungsintern vorgestellt und diskutiert wurden, um zeitnah erste Implikationen für die Weiterentwicklung der gruppenpädagogischen Konzeption abzuleiten. Die ungewöhnlich positiven Zwischenergebnisse führten in erster Linie zu einer Bestätigung der Konzeption - Hinweise auf eine Optimierung ließen sich in diesem Falle (erfreulicherweise) kaum daraus ableiten. Ab Januar 2009 erfolgte dann die Abschlussauswertung, deren zentrale Ergebnisse im Folgenden dargestellt sind. Untersuchungsergebnisse Die Ausgangssituation Die Jugendlichen der Otmar-Alt-Gruppe sind zu Beginn der Hilfe im Schnitt 13 Jahre alt, wobei das Aufnahmealter zwischen knapp 12 und 14 Jahren streut. Das Sorgerecht liegt in etwa der Hälfte der untersuchten Fälle bei beiden Elternteilen (47 %), in rund 40 % bei der leiblichen Mutter alleine und in 12 % der Fälle bei einem Vormund. Über drei Viertel aller in die Untersuchung aufgenommenen Jugendlichen (76 %) haben im Vorfeld der Aufnahme in die Otmar-Alt-Gruppe einen Aufenthalt in einer Psychiatrie hinter sich. 53 % waren stationär in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht, und in 41 % aller Fälle fand eine Sozialpädagogische Familienhilfe statt. Insgesamt hat jeder Jugendliche mindestens eine, im Schnitt sogar mehr als zwei unterschiedliche Jugendhilfemaßnahmen durchlaufen, ohne dass am Ende dieser Maßnahmen eine stabile Lösung der vorliegenden Problematik erreicht werden konnte. Insofern liegen zu Hilfe- 80 uj 2 (2010) arbeit mit jungen beginn bei allen Jugendlichen der Otmar- Alt-Gruppe bereits (negative) Vorerfahrungen im Zusammenhang mit pädagogisch-therapeutischen Jugendhilfeangeboten vor. Quantitäten und Qualitäten dieser Vorerfahrungen wurden im Rahmen der statistischen Datenanalyse zu einem Index zusammengefasst, mit dessen Hilfe unmittelbare Gruppenvergleiche ermöglicht wurden. Dieser sogenannte Jugendhilfekarriereindex 1 liegt bei den Jugendlichen der Otmar-Alt-Gruppe im Schnitt um mehr als 40 % über dem in der SAJ-Vergleichsgruppe sexuell auffälliger Jugendlicher (s. Abb. 1). Dieser statistisch signifikante Mittelwertsunterschied zeigt eine deutlich größere Jugendhilfevorerfahrung in der Otmar-Alt-Gruppe, die bei der individuellen Arbeit mit den Jugendlichen Berücksichtigung finden muss, um die aktuelle Hilfe erfolgreich gestalten zu können. Neben der sexuellen Auffälligkeit liegen bei den Jugendlichen in der Otmar-Alt- Gruppe im Schnitt fast zwölf verschiedene weitere Problemlagen vor. Am häufigsten zeigen sich dabei externalisierende Problemlagen, wie z. B. dissoziale bzw. aggressive Verhaltensweisen (63 % bzw. 56 %) sowie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizite in Kombination mit hyperaktivem Verhalten (50 %). Darüber hinaus zeigen aber auch mehr als 40 % aller untersuchten Jugendlichen eher internalisierende Symptome, wie z. B. soziale Unsicherheiten und Rückzugsverhalten in sozialen Situationen (s. Abb. 2). Es liegt bei den Jugendlichen also zu Hilfebeginn zumeist eine sehr komplexe Problematik mit zahlreichen und sehr unterschiedlichen Symptomen vor, was besondere Anforderungen an die pädagogisch-therapeutische Arbeit in der Gruppe stellt. Der oben beschriebene intensivpädagogische Ansatz und das zugrundeliegende multimodale Konzept versuchen, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Neben dieser hohen Problembelastung weisen die Jugendlichen der Otmar-Alt- Gruppe zudem eine vergleichsweise ge- 1 Der Jugendhilfekarriereindex errechnet sich aus der Anzahl der vorangegangenen Hilfen und deren „Intensität“. Je höher der Wert ausfällt, desto mehr und umso höherschwelligere Hilfen liegen vor. Abb. 1: Vergleich des Jugendhilfekarriereindex zwischen OAG und SAJ uj 2 (2010) 81 arbeit mit jungen ring ausgeprägte Ressourcenlage auf (die Beurteilung der Ressourcen erfolgte über eine 7-stufige Ratingskala, bei der der Wert „5“ für einen altersgemäß durchschnittlichen Entwicklungsstand steht). In allen untersuchten Ressourcenbereichen liegen (zum Teil weit) unterdurchschnittliche Entwicklungsstände vor (s. Abb. 3). Prozessqualität Die durchschnittliche Dauer der untersuchten Hilfen in der Otmar-Alt-Gruppe lag bei 23,4 Monaten und damit statistisch signifikant über der in der Vergleichsgruppe SAJ (15,3 Monate) sowie tendenziell über der durchschnittlichen Hilfedauer in der Gruppe MP (15,5 Monate). Diese rela- Abb. 2: Komorbiditäten der OAG-Jugendlichen bei Hilfebeginn Abb. 3: Ressourcen der OAG-Jugendlichen bei Hilfebeginn 82 uj 2 (2010) arbeit mit jungen tiv lange Verweildauer in der Otmar-Alt- Gruppe und die damit verbundene personelle wie räumliche Kontinuität im unmittelbaren persönlichen Umfeld der Jugendlichen sind von ganz besonderer Bedeutung angesichts der zuvor beschriebenen negativen Vorerfahrungen durch im Vorfeld erfolglos durchgeführte Jugendhilfemaßnahmen. Die so entstehende Möglichkeit zu einer längeren pädagogischen bzw. therapeutischen Arbeit mit den Jugendlichen stellt vor dem Hintergrund des in der Jugendhilfe bestehenden Zusammenhangs zwischen Hilfedauer und Hilfeerfolg (vgl. IKJ 2003; Schmidt u. a. 2003) prinzipiell einen günstigen Begleitumstand für eine erfolgreiche Hilfedurchführung in der Gruppe dar. Die längere Hilfedauer in der Otmar- Alt-Gruppe erklärt sich auch aus der konzeptionell verankerten Falltreue, die vonseiten des Raphaelshauses den Jugendlichen gegenüber ausgesprochen wird. Diese Falltreue führt neben anderen Wirkungen zu dem Ergebnis, dass keine einzige der im Rahmen der Evaluation untersuchten Maßnahmen auf Initiative der Gruppen- PädagogInnen bzw. der Einrichtung hin abgebrochen wurde. Wenn es zu einer unplanmäßigen, vorzeitigen Beendigung einer Hilfemaßnahme kam, dann ging die Initiative hierzu immer vonseiten einrichtungsexterner Hilfebeteiligter (Sorgeberechtigte, Jugendamt) aus. Dadurch ergibt sich insgesamt für die Otmar-Alt-Gruppe ein vergleichsweise niedriger Anteil abgebrochener Hilfen (vgl. IKJ 2009), der statistisch signifikant unter dem in der Vergleichsgruppe MP liegt und auch niedriger ausfällt als in der Vergleichsgruppe SAJ (s. Abb. 4). Diese niedrige Abbruchquote des stationären Aufenthaltes ist aber - über die durch die Einrichtung konzeptionell vorgegebene Falltreue hinaus - auch ein deutliches Zeichen für eine gelingende Kooperation zwischen Jugendlichen und den MitarbeiterInnen der Gruppe. Aktive Kooperation wird in den Ergebnissen verschiedener Jugendhilfe-Studien als zentraler Einflussfaktor auf den Erfolg von Jugendhilfemaßnahmen beschrieben (vgl. Schmidt u. a. 2003; Klein/ Erlacher/ Macsenaere 2003). Sie zeigt sich u. a. in ei- Abb. 4: Gruppenvergleich der Anteile planmäßig beendeter bzw. abgebrochener Hilfemaßnahmen uj 2 (2010) 83 arbeit mit jungen ner Akzeptanz der Hilfeplanziele, einer aktiven Mitarbeit an der Hilfegestaltung und in einer guten Beziehung zum/ r BezugsbetreuerIn. Kooperation zwischen Jugendlichen und GruppenmitarbeiterInnen gelingt innerhalb der Otmar-Alt- Gruppe überdurchschnittlich gut und stellt damit eine wichtige Grundlage für einen erfolgreichen Hilfeverlauf dar. Sie ist in der Otmar-Alt-Gruppe statistisch signifikant besser ausgeprägt als in der Kontrollgruppe SAJ und tendenziell besser als in der Kontrollgruppe MP. Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass die aktive Kooperation in Spezialgruppen (OAG, SAJ) besser zu gelingen scheint als in den Regelgruppen (MP). Ergebnisqualität Die globale Analyse der Ergebnisqualität der untersuchten Hilfen in der Otmar-Alt- Gruppe erfolgte im Wesentlichen über Veränderungsmessungen von zu verschiedenen Erhebungszeitpunkten erfassten Ressourcen und Defiziten der Kinder und Jugendlichen. Der in Abbildung 5 dargestellte Effektindex ist eine Maßzahl für die im Zuge der Hilfen insgesamt erzielten Wirkungen. Er berücksichtigt die Veränderungen von Defiziten und Ressourcen sowie die kindbezogene Zielerreichung und kann Werte von „- 50“ bis „+ 50“ annehmen. „0“ steht für keine Effekte. Positive Werte auf dem Effektindex können als Verbesserungen, negative als Verschlechterungen eingestuft werden. Bei dieser Analyse ergab sich für die Otmar-Alt-Gruppe im Vergleich zu beiden Kontrollgruppen im Durchschnitt ein deutlich höherer Gesamteffekt der Hilfen (s. Abb. 5). Dieser weit überdurchschnittliche Gesamteffekt setzt sich zusammen aus einer Vielzahl positiver Entwicklungen in einzelnen Untersuchungsbereichen. So sind bei Ressourcen und Schutzfaktoren der Jugendlichen in der Otmar-Alt-Gruppe, die über den gesamten Hilfeverlauf hinweg erfasst und analysiert wurden, durchgängig Verbesserungen zu verzeichnen. Diese Stärkung der Ressourcen fällt deutlich höher aus als in den Vergleichsgruppen: Die Abb. 5: Gruppenvergleich der Gesamteffekte anhand des Effektindex 84 uj 2 (2010) arbeit mit jungen Soziale Integration (z. B. enge gleichaltrige Freunde bzw. Freundinnen, Zugehörigkeit zu einer Jugendgruppe, Zugehörigkeit zu einer Clique, Integration in die Heimgruppe) wird hier signifikant stärker gefördert als in beiden Kontrollgruppen. Auch bei Interessen und Freizeitbeschäftigungen sowie im Bereich Funktion in der Gruppe, also in der Fähigkeit, Normen und Regeln der Gruppe zu respektieren und zu einem positiven Zusammenleben beizutragen, konnten signifikant größere Verbesserungen in der OAG erreicht werden als in der Vergleichsgruppe SAJ und tendenziell größere als in der Vergleichsgruppe MP. Selbstkonzept bzw. Selbstsicherheit (z. B. sich für liebenswert halten und sich den gestellten Anforderungen bzw. Aufgaben gewachsen fühlen, Zufriedenheit mit sich selbst/ dem eigenen Körper/ der eigenen Geschlechterrolle, Selbstsicherheit, realistisches Selbstkonzept) konnten tendenziell stärker aufgebaut werden als in beiden Vergleichsgruppen. Auch in der Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassungsfähigkeit (sie erfasst den individuellen Betreuungsbedarf von Kindern und Jugendlichen aufgrund von Beeinträchtigungen in den unterschiedlichen erfassten Ressourcenbereichen, vgl. Remschmidt u. a. 2006) ergibt sich im Durchschnitt aller untersuchten Hilfemaßnahmen eine nachweisbare Verbesserung, die u. a. auch tendenziell höher ausfällt als in der Vergleichsgruppe MP. Aus diesen einzelnen positiven Entwicklungen heraus ergibt sich bei Gesamtbetrachtung des Ressourcenbereichs der Jugendlichen in der Otmar-Alt-Gruppe eine sehr positive Ressourcengesamtentwicklung, die statistisch signifikant besser ausfällt als in beiden Kontrollgruppen. Möglicherweise gelingt es der Otmar-Alt- Gruppe also mit ihrem multimodalen Konzept, die Kooperation der jungen Menschen in besonderem Maße zu stärken, was sich anschließend in positiven Hilfeverläufen, wie z. B. in gestärkten Ressourcen, niederschlägt. Neben den vorliegenden Ressourcen und Schutzfaktoren wurde im Rahmen der Evaluation auch die Entwicklung der Defizite der Jugendlichen detailliert erfasst und analysiert. Die Anzahl an vorliegenden Problemlagen der Jugendlichen (z. B. Auffälligkeiten im Sexualverhalten, Delinquenz, aggressives Verhalten, soziale Unsicherheit) in der Otmar-Alt-Gruppe konnte von Beginn bis Abschluss der untersuchten Hilfemaßnahmen im Durchschnitt halbiert (von 14 auf 7 Problemlagen) und damit wesentlich stärker reduziert werden als in beiden Vergleichsgruppen. Auch beim Schweregrad der Gesamtbelastung der Jugendlichen durch psychische Störungen bzw. Problemlagen zeigte sich in der Otmar-Alt-Gruppe über den gesamten Hilfeverlauf hinweg ein deutlich stärkerer Abbau als in den Gruppen MP bzw. SAJ. Bei Gesamtbetrachtung aller erfassten Teilaspekte im Bereich vorliegender Defizite der Jugendlichen sind in der Otmar- Alt-Gruppe signifikant höhere Effekte nachweisbar als in beiden Vergleichsgruppen. Die spezifische Analyse der sozial-emotionalen Entwicklung der Jugendlichen im Rahmen der Stallarbeit mit den Tieren des Raphaelshauses ergibt überwiegend positive Resultate (s. Abb. 6): Die durchschnittliche Kontaktaufnahmefähigkeit der Jugendlichen zu den Tieren ist am Ende des Untersuchungszeitraums statistisch signifikant höher als zu Beginn, und auch der Beziehungsaufbau zu den Tieren und das Eingehen auf die Bedürfnisse der Tiere gelingen tendenziell besser. Darüber hinaus ist auf Basis der im Rahmen der tierpädagogischen Arbeit erhobenen Daten erkennbar, dass die Arbeit mit den Tieren nicht nur mittel- oder langfrisuj 2 (2010) 85 arbeit mit jungen tige Auswirkungen auf die sozial-emotionale Entwicklung der Jugendlichen hat, sondern dass sich auch kurzfristig Einflüsse auf die emotionale Verfassung der Jugendlichen ergeben. Die hierzu von den Jugendlichen selbst mithilfe eines „Stimmungsbarometers“ abgegebenen Einschätzungen fallen im Schnitt am Ende der durchgeführten Einheiten signifikant besser aus als zu Beginn. Die Arbeit mit den Tieren führt demnach offensichtlich unmittelbar zu einer positiven Beeinflussung des emotionalen Befindens der Jugendlichen. Sexuelle Auffälligkeiten Die Jugendlichen der Otmar-Alt-Gruppe haben ihren ersten sexuellen Übergriff durchschnittlich im Alter von 11 Jahren begangen. Zwischen diesem Übergriff und der Aufnahme in der Gruppe lag ein Zeitraum von bis zu 3 Jahren (Durchschnitt: 1,5 Jahre), in denen die Problematik entweder (zunächst) gar nicht bzw. nicht ausreichend erkannt wurde oder aber nicht erfolgreich bearbeitet werden konnte. Bei knapp der Hälfte aller Jugendlichen (43 %) wurden im Rahmen der therapeutischen Arbeit im Verlauf der Hilfe nachträglich noch sexuelle Übergriffe aufgedeckt, die bei Aufnahme in die Gruppe nicht bekannt gewesen waren (s. Abb. 7). Dagegen konnten erneute sexuelle Übergriffe im Hilfeverlauf vollständig verhindert werden, obwohl bei 50 % aller Jugendlichen weiterhin sexuelle Auffälligkeiten vorhanden waren, wie z. B. ein deutlich sexuell ausgeprägtes Vokabular oder häufige sexuelle Gesten sowie bei mehr als einem Viertel aller Jugendlichen vorliegende abnorme sexuelle Phantasien (z. B. über sexuellen Missbrauch oder sexuell geprägte Gewaltakte). Die Rückfallwahrscheinlichkeit bei Abschluss der Hilfe in der Otmar-Alt- Gruppe wird von den Fachkräften insgesamt als gering eingeschätzt. Viele der Jugendlichen werden im Anschluss noch in einer anderen stationären Gruppe des Raphaelshauses weiter betreut, sodass der Kontakt zu den GruppenpädagogInnen der Otmar-Alt-Gruppe noch über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten bleibt. Abb. 6: Entwicklung der Jugendlichen im Rahmen der Arbeit mit den Tieren 86 uj 2 (2010) arbeit mit jungen Dies bietet sowohl den Jugendlichen als auch den PädagogInnen die Möglichkeit, eventuell auftretende Schwierigkeiten zeitnah zu erkennen, zu thematisieren und innerhalb eines vertrauten Settings zu bearbeiten. Dieser schrittweise Übergang aus der intensivpädagogischen Hilfeform über niedrigschwelligere Hilfen zurück in einen „normalen“ Lebensalltag hat sich innerhalb des Raphaelshauses bislang bewährt. Inwiefern sich die positiven Prognosen hinsichtlich der Gefahr erneuter sexueller Übergriffe durch die Jugendlichen allerdings langfristig tatsächlich bestätigen, konnte im Rahmen des 3-jährigen Evaluationsprojekts nicht hinreichend untersucht werden. Belastbare Aussagen hierzu sind nur über eine langjährige katamnestische Untersuchung über die weitere Entwicklung der Jugendlichen zu gewinnen. Conclusio Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation lassen sich in folgenden Kernaussagen zusammenfassen: • Die Jugendlichen haben bei Aufnahme in die Otmar-Alt-Gruppe i. d. R. bereits einschlägige Vorerfahrungen mit verschiedenen Jugendhilfeeinrichtungen bzw. -maßnahmen gesammelt, ohne dass dadurch die bestehende Problematik ausreichend gelöst werden konnte. Die Otmar-Alt-Gruppe stellt insofern ein spezifisches „Auffangnetz“ einer bis dahin gescheiterten Kinder- und Jugendhilfe dar. • Die Klientel der Otmar-Alt-Gruppe zeigt ein sehr komplexes Bild unterschiedlicher Auffälligkeiten und Störungen bei gleichzeitig gering ausgeprägten Ressourcen und Schutzfaktoren. • Der Aufbau einer gemeinsamen Grundlage für die Zusammenarbeit (und das Zusammenleben) von Jugendlichen und PädagogInnen in der Otmar-Alt-Gruppe verläuft weitestgehend erfolgreich, sodass die Kooperation im Hilfeverlauf insbesondere im Vergleich zu anderen Jugendhilfemaßnahmen, in denen Jugendlichen nicht in speziell auf ihre Bedarfe ausgerichteten Gruppenangeboten untergebracht sind, sehr viel besser gelingt. • Sowohl im Bereich von Ressourcen bzw. Fähigkeiten der Jugendlichen als auch bei Defiziten und Problemlagen ergeben sich weitgehend positive Entwicklungen, die zum Abb. 7: Sexuelle Auffälligkeiten der Jugendlichen im Hilfeverlauf uj 2 (2010) 87 arbeit mit jungen Teil erheblich über denen anderer Jugendhilfemaßnahmen mit vergleichbarer Klientel liegen. • Im Rahmen der Arbeit mit den Tieren des Raphaelshauses zeigen sich bei den Jugendlichen ebenfalls deutliche positive Entwicklungen im sozial-emotionalen Bereich. Auf der Grundlage der bisher vorliegenden Ergebnisse kann die „Otmar-Alt-Gruppe“ als geeignetes pädagogisches Modell der Kinder- und Jugendhilfe für sexuell übergriffige Jungen gelten. Fazit aus fünf Jahren pädagogischer Praxis Der Titel dieser Veröffentlichung stellt die Frage: „Sexuell übergriffige Jungen in der Jugendhilfe - (wie) kann das gut gehen? “ Wenn wir nach fünf Jahren Praxis und am Ende dieses Berichtes zu einer Antwort kommen, so lautet diese eindeutig: „Ja! “. Die in der Begleitforschung dargestellten Ergebnisse kennzeichnen einen Erfolg, der die lange Vorbereitungsarbeit und den hohen Aufwand rechtfertigt. Dabei soll nicht verheimlicht werden, dass es auch einer langen Vorbereitungs- und Aufklärungsarbeit in der Einrichtung bedurfte, um das Gesamtsystem Raphaelshaus auf diese Zielgruppe vorzubereiten. Ihr gegenüber gab es mehr kritische Abwehr und unausgesprochene Vorbehalte als gegenüber der Zielgruppe der vorhergehenden Kurt-Hahn-Gruppe, die insbesondere durch delinquentes Verhalten und Kriminalität gekennzeichnet war. Es kann konstatiert werden, dass die Zielgruppe der Otmar-Alt-Gruppe immer schon in der Jugendhilfe existierte. Es handelte sich oft um die Jungen in verschiedenen Gruppen der Jugendhilfe, die unauffälliger, angepasster und sozial intelligenter ihren „pädagogischen Weg“ gingen. Wenn sie dann durch ihre sexuelle Übergriffigkeit auffielen, wurden sie oft in einem Abwehrmechanismus der Organisation, der PädagogInnen, der Sorgeberechtigten der anderen Gruppenmitglieder und ggf. des Jugendamtes schnell aus dieser Gruppe herausgenommen. Es kam der verhängnisvolle „Drehtüreffekt“ in Gange, der diese Jungen von Einrichtung zu Einrichtung, von Hilfe zu Hilfe weiterreichte. Nicht selten wurde dabei die Auffälligkeit der sexuellen Übergriffigkeit in der Berichterstattung verharmlost, beschönigt oder gar verheimlicht, um überhaupt noch eine Chance zu haben, eine alternative Jugendhilfemaßnahme zu finden. Die Tatsache, dass während des Aufenthaltes in der Otmar-Alt-Gruppe oftmals weitaus mehr zutage trat als anfänglich dokumentiert wurde, kann als Hinweis für das Gefährdungspotenzial der Zielgruppe und ihrer Umgebung gelten. Der Mix aus Konsequenz, Wertschätzung und Perspektive, welcher sich in der ersten Kick-Off-Gruppe erfolgreich bewährte, rechtfertigt heute den Mut, auf diese neue Zielgruppe zuzugehen. Die zielgruppenspezifische Modifikation des Konzeptes ist gelungen. Unverzichtbar sind dabei die pädagogischen Verdichtungen durch die obligatorischen Outdoor-Maßnahmen und die enge Verzahnung des pädagogischen Alltags mit der Tierpädagogik. Ebenso unverzichtbar sind die pädagogisch-therapeutischen Selbsterfahrungsanteile, die an keiner Stelle als Entschuldigungsplattform für Tatverhalten hingenommen werden. In der Otmar-Alt-Gruppe findet eine Verzahnung von authentischen moralischen Grundhaltungen und einer zielgerichteten Konfrontation mit dem individuellen Tatverhalten statt. Hilfsweise wird auch beispielhaftes Täterverhalten aus der Geschichte (z. B. Gedenkstättenpädagogik, „Stolpersteine“) zu empathieorientierter Auseinandersetzung mit Opfern genutzt. 88 uj 2 (2010) arbeit mit jungen Mit dem konzeptionell festgelegten bürgerschaftlichen Engagement, das sich in sozialen Hilfsaktionen äußert, gelingt der Paradigmenwechsel der stigmatisierten „Parias“ zu positiv in Erscheinung tretenden Vertretern der jungen Generation in den Augen der Öffentlichkeit. Ein wertvolles Geschenk ist die Solidarität prominenter „PatInnen“, die mit der Präsenz ihres Namens, ihrer Person und ihrer inneren Verbundenheit mit den Jugendlichen der Otmar-Alt-Gruppe eine gesellschaftliche Solidarität zeigen, die das pädagogische Thema aus der „Schmuddelecke“ hervorholt. Der letzte Satz dieses Fazits soll aber auch das tief empfundene „Dankeschön“ beinhalten, welches den Fachkräften der Gruppe gebührt, die mit großem Enthusiasmus einen schwierigen Weg gegangen sind und sich in einem hohen Grad mit ihrer Arbeit und den Zielsetzungen identifizieren. Literatur Bortz, J., 5 1999: Statistik für Sozialwissenschaftler. Berlin Bortz, J., 4 2006: Forschungsmethoden und Evaluation. Berlin Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ), 2003: EVAS Highlightbericht 2/ 2002. Mainz Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ), 2009: EVAS Gesamtbericht 2008. Mainz Klein, J./ Erlacher, M./ Macsenaere, M., 2003: Die Kinderdorf-Effekte-Studie. Mainz Lukesch, H., 2005: FEPAA - Fragebogen zur Erfassung von Empathieprosozialität, Aggressionsbereitschaft und aggressivem Verhalten. Göttingen Machlitt, K., 2004: Perspektiven der Behandlung sexuell grenzverletzender Jugendlicher - Überlegungen zu einem integrativen Behandlungskonzept. In: IKK-Nachrichten, H. 1 - 2, S. 11 - 17 Macsenaere, M./ Knab, E., 2004: Evaluationsstudie erzieherischer Hilfen (EVAS) - Eine Einführung. Freiburg Remschmidt, H./ Schmidt, M./ Poustka, F., 5 2006: Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO. Bern Schmidt, M. u. a., 2003: Effekte erzieherischer Hilfen und ihre Hintergründe. Schriftenreihe des BMFSFJ Bd. 219. Stuttgart Scholten, H./ Lachnitt, J., 2008: Stationäre Jugendhilfe mit Sexualtätern unter 14. Köln Wolff-Dietz, I., 2007: Jugendliche Sexualstraftäter. Oberhaching Die Autoren Hans Scholten Jörg Lachnitt JHZ Raphaelshaus Krefelder Straße 122 41533 Dormagen h.scholten@raphaelshaus.de Prof. Dr. Michael Macsenaere Joachim Klein IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH Saarstraße 1 55122 Mainz macsenaere@ikj-mainz.de klein@ikj-mainz.de