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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Übersetzungskultur im Internet
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Bernd Koeleman
HaD ist eine Internet-Übersetzungs-Community und besteht hauptsächlich aus SchülerInnen, aber auch aus Eltern und StudentInnen, die sich mit gegenseitiger Unterstützung attraktive, durchaus umfangreiche fremdsprachige Texte mit den spezifischen Mitteln des Internets zugänglich machen. Hierbei wird eine ideale Zusammenarbeit des Mediums Buch mit dem Medium Internet praktiziert. HaD stellt ein neues Kapitel in der digitalen Lern- und Lesekultur dar.
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uj 3 (2010) 117 Unsere Jugend, 62. Jg., S. 117 - 119 (2010) DOI 10.2378/ uj2010.art13d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Übersetzungskultur im Internet Bernd Koeleman HaD ist eine Internet-Übersetzungs-Community und besteht hauptsächlich aus SchülerInnen, aber auch aus Eltern und StudentInnen, die sich mit gegenseitiger Unterstützung attraktive, durchaus umfangreiche fremdsprachige Texte mit den spezifischen Mitteln des Internets zugänglich machen. Hierbei wird eine ideale Zusammenarbeit des Mediums Buch mit dem Medium Internet praktiziert. HaD stellt ein neues Kapitel in der digitalen Lern- und Lesekultur dar. soziale arbeit im netz Geburtsstunde war die Veröffentlichung des 4. Bandes der Harry-Potter-Serie im Juli 2000 in englischer Fassung. Da die offizielle deutschsprachige Ausgabe erst drei Monate später erscheinen sollte, wagte sich eine Gruppe ungeduldiger Potter-Fans an die Aufgabe, per Internet und mit etwas organisatorischem Geschick die 600 Seiten des Buches mit Hilfe ihres Schulenglisch auf eigene Faust online zu übersetzen. Diese Gruppe nannte sich HaD - die Abkürzung für „Harry (Potter) auf Deutsch“. Seitdem hat die Community alle weiteren Harry-Potter-Bände sowie diverse im Internet publizierte Fortsetzungsgeschichten (Sequels) gemeinsam übersetzt. Diese Sequels werden von den in Amerika entstandenen Fangruppen verfasst, die nicht nur intensiv die publizierten Bücher in Internet-Communities diskutieren, sondern selbst auch Fortsetzungsgeschichten dazu schreiben, die ca. 200 bis 800 Seiten umfassen und oft von guter literarischer Qualität sind. Für zahlreiche deutsche Jugendliche sind diese Lesestoffe heiß begehrt, jedoch unzugänglich, da ihr Schulenglisch nicht ausreicht, um solche langen englischen Texte flüssig durchzulesen. Hier kann HaD Abhilfe schaffen. HaD gestaltet die Übersetzungsarbeit als Wettbewerb: Auf der Homepage www. harry-auf-deutsch.de reservieren sich die UserInnen einen Kapitelteil (ca. 5 Seiten) aus dem englischen Originaltext - z. B. aus einem Harry-Potter-Band oder aus einer von amerikanischen Harry-Potter-Fans geschriebenen Fortsetzungsgeschichte - zum Übersetzen. Die vorhandene Begeisterung für den Textstoff wird als unschätzbarer Vorteil genutzt, um die LeserInnen - wieder - die Lust am Lernen, Üben und Durchhalten für ein gemeinsames großes Ziel erleben zu lassen. HaD hat eine feste, verbindliche Regel: Nur wer selbst einen Textteil übersetzt hat, kann auf die Arbeit der anderen TeilnehmerInnen des Wettbewerbs zugreifen. Die eigene Übersetzung Bernd Koeleman Informatiker und Betreiber von www. harry-auf-deutsch.de 118 uj 3 (2010) soziale arbeit im netz ist die einzig gültige Währung in der HaD- Welt. Die Bereitschaft zu dieser umfangreichen, aber bewältigbaren Fremdsprachenübung wird beflügelt von dem unwiderstehlichen Tauschverhältnis, mit dem die Mitmachenden belohnt werden: Sie bekommen ihren Einsatz, die eigene Übersetzung, mehr als 50-fach zurück, denn sie dürfen am Ende der Übersetzungsperiode das gesamte Werk - das manchmal sehr umfangreich sein kann - als gesammeltes Werk aller MitübersetzerInnen downloaden. Der Enthusiasmus der jugendlichen ÜbersetzerInnen entsteht, weil drei Punkte ein bisschen anders sind als in der regulären Schule: • Die Jugendlichen suchen sich den Text selbst aus. • Bei Schwierigkeiten fragen sie einfach im Forum nach und bekommen dort schnell Hilfe von anderen MitübersetzerInnen. • Die Arbeit macht Sinn und wird vielfältig gewürdigt, weil: - alle anderen in der Community diese Übersetzung auch lesen werden, - die ÜbersetzerInnen belohnt werden: mit dem Recht, auf die Übersetzungen der anderen zuzugreifen, - der Text mehrfach lektoriert und verbessert wird, falls nötig, - der Text in einen prominenten und sinnstiftenden Rahmen eingebettet wird: Er wird Teil eines ganzen Buches. War es für die jugendlichen ÜbersetzerInnen bisher schlicht unvorstellbar, sich - bei durchschnittlichen Englischkenntnissen - an ein über 500 Seiten starkes englisches Werk heranzuwagen, so gewinnen sie schnell Vertrauen in den Gedanken, dass zusammen mit vielen MitstreiterInnen im Rahmen einer digitalen (Klassen-)gemeinschaft ein solches Werk mit Leidenschaft und sportlichem Ehrgeiz erfolgreich bewältigt werden kann. Der hohe Abstimmungsbedarf, der durch diese Übersetzungskulisse entsteht, ist beabsichtigt. LeserInnen, die sich eher im Deutschen als im Englischen zu Hause fühlen, haben als Amateur-LektorInnen eine willkommene Gelegenheit, sich in der Community zu engagieren. Sie erwerben dadurch ebenfalls das Recht auf den Gesamttext. Die LektorInnen korrigieren die eingereichten Übersetzungen zu vier bis fünf zusammenhängenden Kapiteln. Ohne den jeweiligen Sprachstil anzutasten, achten sie auf Orthografie, formale Korrektheit und die Einhaltung der gemeinsam vereinbarten Begriffe. Die Übergänge zwischen den einzelnen Kapitelteilen müssen sorgfältig formuliert werden, damit aus der Fülle der individuellen Übersetzungsleistungen ein gut zu lesendes „Übersetzungs- Patchwork“ entsteht. Begleitend zur Übersetzung werden in einem betreuten Internet-Forum Fragen zur Übersetzung und zu technischen Problemen schnell und gründlich beantwortet. Hier ist auch der Ort, wo die Regularien der Übersetzung ausgehandelt werden. Im Gegensatz zu den übersetzten Texten ist das Forum der HaD-Homepage öffentlich. Dort werden alle Probleme und Fragen rund ums Übersetzen erörtert und mit großer Hilfsbereitschaft beantwortet. Der ermutigende Umgangston, der dabei konsequent gepflegt wird, hat diese Plattform populär gemacht. An manchen Tagen werden Dutzende Fragen gleichzeitig gestellt und auch jeweils mehrfach beantwortet, Fragen wie z. B. „Wird FC puddlemere mit FC Pfützensee übersetzt oder behält man im Deutschen besser den englischen Eigennamen bei? “ Durch breite Debatten im Forum entsteht die Übersetzung als Produkt einer intensiven Kommunikation und ist nicht (mehr) ein einsamer Job im stillen Kämmerlein. Gerne helfen hier auch Erwachsene mit Tipps und Ratschlägen, weniger aus Interesse an Fantasy-Literatur, uj 3 (2010) 119 soziale arbeit im netz sondern vielmehr, weil es ihnen Freude macht, mit ihren Englischkenntnissen anderen zu helfen und ihr Englisch dabei aufzufrischen. HaD versteht sich somit nicht als Alternative zum Buch, sondern als notwendige Kommunikationsplattform, um weltweit einen Gedankenaustausch zwischen den LeserInnen herzustellen. Das Besondere an HaD sind der kollektive Wissens- und Erfahrungsschatz und das übergreifende Lernen. Die Priorität der sprachlichen Einheitlichkeit eines literarischen Werkes wird bei HaD aufgegeben zugunsten der Vernetzung von unterschiedlichen Lebenswelten der beteiligten Jugendlichen, die alle ihre individuellen Kombinationen an gelesenen Büchern, gesehenen Filmen und eigener Phantasie mitbringen. Durch diese Vernetzung artikuliert der deutsche Text einen (kollektiven) Wissens- und Erfahrungsschatz, den ein/ e einzelne/ r professionelle/ r ÜbersetzerIn kaum erreichen kann. Von hoher Bedeutung ist weiterhin die Bündelung von fachübergreifenden Kompetenzen: Deutsch, Englisch, Informatik, Kommunikation und Teamarbeit sowie generationenübergreifendes Lernen, da nicht selten Großeltern, Eltern und Geschwister an einem Tisch sitzen, um die bestmögliche Übersetzung ins Internet zu stellen. Der Autor Bernd Koeleman Warthestraße 51 12051 Berlin yacado@gmx.de
