eJournals unsere jugend 62/4

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2010
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Resilienz oder was macht Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte stark?

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2010
Haci-Halil Uslucan
Jugendliche mit Migrationshintergrund werden häufig im Kontext von scheiternden Integrationsbemühungen, Bildungsmiseren und Gewaltvorfällen thematisiert: Sie gelten als eine besondere Risikopopulation. Jedoch wird dabei übersehen, dass eine große Mehrheit von ihnen es immer wieder schafft, ihren Alltag zufriedenstellend zu gestalten, ohne durch Pathologien oder deviantes Verhalten aufzufallen. Welche Resilienzfaktoren können hier wirksam werden?
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uj 4 (2010) 151 Unsere Jugend, 62. Jg., S. 151 - 159 (2010) DOI 10.2378/ uj2010.art17d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel resilienz Resilienz oder was macht Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte stark? Haci-Halil Uslucan Jugendliche mit Migrationshintergrund werden häufig im Kontext von scheiternden Integrationsbemühungen, Bildungsmiseren und Gewaltvorfällen thematisiert: Sie gelten als eine besondere Risikopopulation. Jedoch wird dabei übersehen, dass eine große Mehrheit von ihnen es immer wieder schafft, ihren Alltag zufriedenstellend zu gestalten, ohne durch Pathologien oder deviantes Verhalten aufzufallen. Welche Resilienzfaktoren können hier wirksam werden? Einleitung Dass Migration bzw. Zuwanderungsgeschichte auch eine Chance sein kann, wird viel zu wenig thematisiert. Eine große Ausnahme stellt hier das jüngste Buch des Nordrhein-Westfälischen Integrationsministers Armin Laschet (2009) dar, das den bezeichnenden Titel trägt „Die Aufsteigerrepublik. Zuwanderung als Chance“. Auf psychologische Voraussetzungen und Folgen gelingender Integrationsverläufe ist bereits Uslucan (2005 a) eingegangen. Dabei liegt doch eigentlich der Blick auf Ressourcen und Resilienzfaktoren bei MigrantInnen recht nahe: Denn gerade wenn MigrantInnen unter intensiveren Risiken und höheren Stressbelastungen leiden, dann muss man sich fragen, auf welche Weise viele von ihnen es dennoch schaffen, eine ganz „normale“, unauffällige Lebensführung zu erreichen, d. h. im Wissenschaftsjargon, welche Resilienzfaktoren dafür verantwortlich sind, die sie vor bzw. in belasteten Lebenskontexten tatsächlich schützen bzw. zukünftig schützen könnten. Denn generell sind Entwicklungsauffälligkeiten und Pathologien als ein dynamisches Zusammenspiel von Risiken und ihnen entgegenstehenden Ressourcen zu verstehen (Petermann/ Scheithauer/ Niebank 2004). Festzuhalten bleibt aber, dass Forschungen zu Ressourcen von MigrantInnen ein Desiderat bilden, wie es zum Beispiel am Fehlen von Studien zu überdurchschnittlich begabten MigrantInnen deutlich wird - ein Manko, das nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Praxis zu verzeichnen ist. So liegt etwa der Anteil von Migrantenkindern in Hochbegabtenförderprogrammen sowohl in angelsächsischen Ländern als auch in Deutschland zwischen 4 bis 9 Prozent - obwohl es Konsens ist, dass Hochbegabung in allen Kulturen und Kontexten vorkommt (vgl. Stamm 2007) und PD Dr. Haci-Halil Uslucan Jg. 1965; Dr. phil., Dipl.- Psych., M. A., vertritt die Professur für Pädagogische Psychologie an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Helmut-Schmidt- Universität Hamburg 152 uj 4 (2010) resilienz der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung deutlich höher ist. Denkbar ist hier, dass gegenwärtig ungleiche Konzepte zum Umgang mit Hochbegabung folgerichtig zu einer ungleichen Selektion und dadurch zu einer Unterrepräsentation von MigrantInnen führen, da kulturspezifische Begabungen zu wenig berücksichtigt werden. Die Vorstellung, was als besonders gut und wer als begabt gilt, gehorcht spezifischen gesellschaftlichen Vorstellungen; insbesondere spiegeln sich darin die Ideale der herrschenden (Mittel- und Oberschicht-)Gruppen wider. MigrantInnen in Deutschland rekrutieren sich jedoch weitestgehend aus unteren Schichten bzw. anderen Milieus. Deshalb müssten beispielsweise Identifikationsprozeduren breiter angelegt werden, damit auch andere kulturelle Stärken Relevanz bekommen und eine Chance haben, entdeckt zu werden; auch Potenziale von MigrantInnen muss die pädagogische Praxis durch eine geschärfte Wahrnehmung erkennen. Resilienz aus entwicklungspsychologischer Perspektive Der gegenwärtige Aufschwung der „positiven Psychologie“, der u. a. mit dem Namen Martin Seligmann (1979) verbunden ist - einem Autoren, dessen wissenschaftliche Karriere bezeichnenderweise mit dem Konzept der „Erlernten Hilflosigkeit“ begann -, ist nicht nur als eine Modeerscheinung, als eine ephemere Zeitgeisttendenz zu verstehen. Ganz im Gegenteil: eine Fokussierung auf „optimistische“ Momente der Entwicklung hat unmittelbare gesundheitsförderliche Aspekte. So scheint Optimismus mit einer beharrlicheren Zielverfolgung, aber auch mit einer effektiveren Informationsverarbeitung zusammenzuhängen (Carver/ Scheier 1990): Entgegen bisheriger Annahmen haben OptimistInnen nicht eine geringere oder nur eine oberflächliche, sondern eine größere Aufmerksamkeit auch auf negative selbstrelevante Informationen; sie können sich jedoch schneller von diesen lösen und sich alternativen Aufgaben widmen (Aspinwall/ Staudinger 2003). Allein die Tatsache, dass Menschen die positiven Aspekte in ihrem Leben akzentuieren und die Aufmerksamkeit auf diese richten, um so mit widrigen Umständen besser umgehen zu können, kann als eine menschliche Stärke und Ressource betrachtet werden. Was genau ist aber mit Resilienz gemeint? Die Frage nach Resilienzfaktoren ist entwicklungspsychologisch aus zwei Perspektiven zu verstehen: • Wie kommt es, dass trotz elterlicher Risiken wie Arbeitslosigkeit und Armut, Drogenabhängigkeit, psychotischer Erkrankung und Scheidungserfahrung der Eltern ein gewisser Teil der von diesen Risiken betroffenen Kinder dennoch relativ erfolgreich das Leben meistert? • Wie kommt es, dass Kinder trotz eigener Risiken wie Geburtskomplikationen, körperliche Behinderungen etc. dennoch einen hohen Grad an Widerstandskraft und Robustheit zeigen? So verstanden, umschreibt Resilienz also die Fähigkeit von Menschen, relativ unbeschadet mit den Folgen belastender Lebensumstände umzugehen und dabei Bewältigungskompetenzen zu entwickeln. Resilienzfaktoren stärken die psychische Widerstandsfähigkeit von risikobelasteten Kindern. Auch Migrationserfahrungen bzw. eine Minderheitensituation lassen sich in dieser Konzeption aus kindlicher bzw. jugendlicher Sicht zunächst als eine „riskante“ Umwelt verstehen. Denn ethnischen Minderheiten stehen in der Regel nicht dieselben (sozialen, rechtlichen, finanziellen etc.) Ressourcen zu wie der Mehrheit. uj 4 (2010) 153 resilienz Entwicklungspsychologisch haben darüber hinaus Kinder mit Zuwanderungsgeschichte in der Adoleszenz neben der allgemeinen Entwicklungsaufgabe, eine angemessene Identität, ein kohärentes Selbst zu entwickeln, sich auch noch kritisch mit der deutlich anspruchsvolleren Frage der Zugehörigkeit zu einer Minderheit auseinanderzusetzen und eine „ethnische Identität“ auszubilden bzw. sich zur ethnischen Identität ihrer Eltern zu positionieren. Betrachtet man jedoch den Begriff der Resilienz genauer, so ist zunächst die Frage zu stellen, ob Schutzbzw. Resilienzfaktoren nur die Kehrseite von Risikofaktoren sind und worin genau der Unterschied zwischen ihnen liegt. Vielfach wird auch nur das Fehlen von Risiken als ein Schutzfaktor betrachtet. Definition und Operationalisierung von Schutzfaktoren müssen aber unabhängig von Risikofaktoren erfolgen. Auch muss begrifflich Resilienz stärker von der Wirksamkeit der Kompetenzen des Kindes getrennt werden. Zeitlich müsste der Nachweis gelingen, dass Resilienzfaktoren vor dem belastenden Ereignis bzw. dem Risiko vorhanden sind (Laucht/ Esser/ Schmidt 1997). Resilienz - verstanden als Schutzfaktor - ist also dann erst wirksam, wenn eine Gefährdung vorliegt. Nur so kann Entwicklung als Folge bzw. Ursache dieser Protektivfaktoren interpretiert werden. Deshalb sind hier längsschnittliche Methoden zu bevorzugen - die jedoch methodisch deutlich anspruchsvoller sind als Querschnittsdesigns und deshalb seltener durchgeführt werden. Ferner ist Konsens, dass einzelne Risiken wie Scheidung, Armut, psychische Störung, Migration etc. allein nur niedrige Korrelationen mit Erlebens- und Verhaltensstörungen aufweisen. Risikofaktoren müssen nicht zwangsläufig zu einer negativen Entwicklung führen; sie erhöhen lediglich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Störungen im Vergleich zu einer unbelasteten Kontrollgruppe; und es ist eher die Kumulation von Risiken bei einem gleichzeitigen Fehlen von Schutzfaktoren, die zu einer Störung führt. So zeigen beispielsweise die Studien von Scheithauer und Petermann (2002), dass bei mehr als drei Risikofaktoren - ohne dass gleichzeitig Schutzfaktoren wirksam sind - sich die Wahrscheinlichkeit für ein Problemverhalten um 75% erhöht. Nicht zuletzt scheinen risikoerhöhende Bedingungen in der Umwelt/ Umgebung des Einzelnen nur einen unspezifischen risikoerhöhenden Effekt zu haben. Erst in ihrer Verknüpfung und Interaktion mit risikoerhöhenden Bedingungen im Individuum selbst entfalten sie große Effekte. Zu erwähnen wäre etwa die Gewalt, die vom schulischen Umfeld eines Kindes ausgeht und dann negative Konsequenzen hat, wenn das Kind auch auf eigene Gewaltbereitschaft, höhere Irritabilität und Gereiztheit trifft. Migrationshintergrund/ Zuwanderungsgeschichte als Entwicklungschance Obwohl, wie bereits in der Einleitung festgehalten, oft die mit einer Migration einhergehenden Probleme überwältigend erscheinen (vgl. Uslucan 2005 b; Uslucan 2005c) und deshalb die Chancen einer Migration - und zwar sowohl für MigrantInnen als auch für die Aufnahmegesellschaft - kaum gesehen werden, ist doch zu konstatieren: • Zunächst ist eine (freiwillige) Migration stets mit dem Ziel angetreten worden, sich im weitestgehenden Sinn des Wortes zu entwickeln bzw. weiterzuentwickeln, sei es in ökonomischer, bildungsmäßiger, beruflicher oder familiärer Hinsicht. • Mobilität ist in der Moderne ein positiv besetzter Begriff; in diesem Sinne sind MigrantInnen eine äußerst mobile Population, die es wagte, als Pioniere (oder in der Ketten- 154 uj 4 (2010) resilienz migration) in der Hoffnung auf ein besseres Leben ihr Land zu verlassen, und daher Mut genug bewiesen hat, die Herausforderung der kulturellen und sprachlichen Fremdheit auf sich zu nehmen. Dadurch stehen sie - im Gegensatz zu nichtgewanderten Familien - vor Entwicklungsaufgaben, die anspruchsvoller sowohl als diejenigen der Heimat als auch die der Mehrheitskultur sind. Und wenn sie diese Hürde erfolgreich meistern, so kann hier das Wirken latenter Ressourcen vermutet werden. • Unter modernisierungstheoretischen Ansätzen hat eine Migration eine Katalysatorfunktion. MigrantInnen vermögen also das Entwicklungsgefälle zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland zu überbrücken, können aber auch zur Konservierung alter Werte und zur Ausbildung einer Defensivkultur in der Migrationssituation schreiten (vgl. Uslucan 2005 a). Im Folgenden werde ich auf exemplarische psychologische Motive wie Bikulturalität und Bilingualität eingehen, die sich für MigrantInnen als exzeptionelle Entwicklungs- und Entfaltungschancen darbieten, die natürlich auch aktiv genutzt werden müssen. Bikulturelle Identität als Entwicklungschance Theoretische Annahmen wie auch empirische Befunde legen nahe, dass Bikulturalismus weit mehr ist als nur eine additive Verknüpfung der Orientierungsfähigkeit in zwei unterschiedlichen kulturellen Systemen, sondern durch Synthese der beiden Kulturen den Subjekten eine stärkere kognitive wie soziale Flexibilität abfordert (Ramirez 1983; Guiterrez u. a. 1988). Gelingende bzw. eine balancierte Bikulturalität ist als Zeichen dieser kognitiven Flexibilität zu werten, wie sie insbesondere amerikanische Studien zeigen (McShane/ Berry 1986; Osborne 1985). Mit Bikulturalität wird dabei gemeint, dass mindestens zwei kulturelle Einflüsse prägend für die Identität des Einzelnen sind, wobei dieser Einfluss nicht nur einer kurzen Phase, etwa einem touristischen oder vorübergehenden Gastaufenthalt, geschuldet ist, sondern einen wesentlichen Bestandteil der alltäglichen Lebenserfahrung darstellt. Menschen mit einer sichtbar anderen kulturellen Herkunft werden im Alltag - und Kinder in der Schule - besonders häufig auf ihre Herkunft angesprochen, was ihr Bewusstsein für ethnisch-kulturelle Differenz schärft und die Bildung einer ethnischen Identität forciert. Andererseits stellt die Begegnung mit einer anderen Kultur auch eine beständige Relativierung der eigenkulturellen Verhaltens- und normativer Standards dar. Der bikulturell Sozialisierte, der einerseits Insiderwissen über beide Kulturen besitzt, andererseits auch die Skepsis der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Minderheiten am eigenen Leibe kennt, kann durch seine außergewöhnliche Position zu einem kompetenten Kritiker und Beurteiler der dominanten Kultur - natürlich auch der eigenen - werden. Die Migrationssituation wird dann dazu führen, unreflektierte Gewohnheiten und Bindungen abzustreifen, und Anstoß geben für eine bewusste und individuelle Lebensgestaltung. Eine flexible Identität, so lässt sich das Paradoxon resümieren, ist sowohl Voraussetzung, um bikulturelle Erfahrung als Entwicklungschance zu nutzen, als auch erst Folgeprodukt einer gelingenden Migration und Integration. Denn diese Identität setzt eine ausreichende Ich-Stärke voraus, die es erlaubt, ohne Angst vor Identitätsverlust und Überwältigung durch Schuldgefühle (wie etwa Verrat an der alten Heimat, Verrat an elterlichen Werten) das Neue anzunehmen, sich den gewandelten Anforderungen zu stellen und in einem offenen Dialog mit der Herkunfts- und der neuen Kultur stehen zu können (Ardjomandi/ Streeck 1998). uj 4 (2010) 155 resilienz In einer experimentellen Situation konnten Benet-Martinez u. a. (2002) zeigen, dass Bikulturelle je nach Situation und Kontext in der Lage waren, ihre kulturelle Perspektive zu wechseln, und situationsspezifisch ein independentes bzw. interdependentes Selbst, individualistische und kollektivistische Orientierungen zeigten. Der gegenwärtige Diskurs, der sich von der Alltagsplausibilität westlicher Konzepte nährt, wonach nur ein individualistisches Selbstkonzept mit einer Zentrierung auf internale Kontrolle, problemfokussiertes Herangehen, aktives Coping etc. stets als die psychisch gesündere und reifere Persönlichkeit zu betrachten ist, verkennt, dass unter bestimmten Umständen eine eher „orientalische“ vermeidende, fatalistische Haltung durchaus funktional und förderlich sein kann, und zwar dann, wenn tatsächlich die Bedingungen subjektiver Kontrolle nicht gegeben sind - wie sie für MigrantInnen eben in höherem Maße fehlen - und Menschen den Umweltrestriktionen unterworfen sind (vgl. Staudinger/ Freund/ Linden/ Maas 1999). Bilingualismus als Entwicklungschance Sprache ist wohl das exemplarische Medium, mit dessen Hilfe sozialisierende Vorgänge eingeleitet und vermittelt sowie soziale Wirklichkeiten konstruiert werden, die wiederum ihrerseits in sprachlichen Inhalten internalisiert werden. Ferner spielt die Sprache eine entscheidende Rolle in der persönlichen Identitätsbildung. Denkt man die sprachliche Sozialisation aus der Perspektive des symbolischen Interaktionismus, so entwickelt sich in der Interaktion mit anderen stets auch eine soziale Orientierung, da sprachliche Symbole mit spezifischen Bedeutungen assoziiert werden. Durch Verwendung sprachlicher Symbole werden in den Individuen gleiche Reaktionen wie beim Kommunikationspartner ausgelöst (Mead 1934), womit stets Normen und Werte verinnerlicht werden. Spracherwerb geschieht stets in einem kulturellen Umfeld. Das Symbolsystem einer Sprache lässt sich daher nicht ohne die spezifischen Einstellungen des dazugehörigen sozialen Umfelds übernehmen. Sprache gilt sowohl in der Selbstwie in der Fremdzuschreibung als wichtiges Kennzeichen ethnischer bzw. kultureller Identität (Fthenakis/ Sonner/ Thrul/ Walbiner 1985). Besonders in bikulturellen Kontexten, in denen zugleich auch mindestens zwei Sprachsysteme für die Individuen relevant werden, wird der Zusammenhang zwischen Bikulturalität und Bilingualität evident. Für MigrantInnen bietet sich mit einer auf Dauer angelegten Migration die einmalige Chance, in einem natürlichen Kontext bilingual aufzuwachsen und ein bikulturelles Leben zu führen. Mit Bilingualismus ist dabei nicht nur die Fähigkeit gemeint, sich in zwei Sprachen verständigen zu können, sondern auch die Fähigkeit des Individuums, sich mit den beiden beteiligten Sprachgruppen zu identifizieren. Gute Sprachkompetenzen sind eine Ressource, schwache dagegen langfristig ein Vulnerabilitätsfaktor gegenüber Akkulturationsstress. So konnte Jerusalem (1992) in seiner Untersuchung mit türkischen Jugendlichen feststellen, dass nicht die Aufenthaltsdauer allein, sondern vielmehr die Sprachkompetenz mit einem höheren Akkulturationsniveau einherging; höhere Sprachkompetenzen reduzierten interethnische Spannungen, ermöglichten eine differenzierte Selbstdarstellung und erleichterten dadurch die soziale Akzeptanz. Und umgekehrt gilt in anderen, entwicklungspsychologischen Studien der Zusammenhang mit fehlenden sprachlichen/ kommunikativen Kompetenzen und höherer Gewaltbelastung als gesichert 156 uj 4 (2010) resilienz (Moffitt 1993). Dagegen erwies sich in der Untersuchung von Jerusalem eine lange Aufenthaltsdauer mit schlechter Sprachbeherrschung als kontraproduktiv, denn dann stieg die Belastung mit zunehmendem Aufenthalt. Die Chancen, die sich durch Bilingualismus ergeben, erstrecken sich auch auf kognitive Potenziale. So zeigt eine Reihe von empirischen Studien, dass bilinguale Personen sowohl im Bereich der allgemeinen Intelligenz als auch in den kognitiven Stilen und den metalinguistischen Fähigkeiten sich gegenüber monolingualen als überlegen erweisen (Bialystok 1988; Clarkson/ Galbraith 1992; Baker 1993). Bilingual erzogene Kinder neigen weniger dazu, Begriff und Referent zu verwechseln, die Differenz zwischen Wort und Gegenstand ist ihnen also eher gegenwärtig, weil sie durch ihre Zweisprachigkeit eine gewisse Distanz zur eigenen und der erworbenen Sprache entwickeln und so erkennen, dass sprachliche Symbole für die Bezeichnung von Gegenständen auswechselbar sind. Dabei wird davon ausgegangen, dass im Leben von bilingual aufwachsenden Kindern ein doppelter sprachlicher Input ihre metasprachlichen Fähigkeiten fördert, so etwa die oben erwähnte Einsicht in die Arbitrarität (Willkürlichkeit) des Zeichens erleichtert und insgesamt dem Abstraktionsvermögen zugute kommt. Cummins (1979, in Tracy/ Gawlitzek-Maiwald 1999) vertritt die These, dass ohne eine etablierte Kompetenz in der Muttersprache ein Zweitspracherwerb nicht vollständig erfolgen könne bzw. ab einem gewissen Alter nur noch mit einem subtraktiven Bilingualismus, nämlich mit unzureichenden Kenntnissen in beiden Sprachen, zu rechnen sei. An diesen Gedanken anknüpfend ist also die Frage zu stellen, unter welchen Bedingungen Bilingualität eher als eine Chance genutzt werden kann. Empirische Studien zum Zweitspracherwerb zeigen, dass diese phonologisch dann korrekt erworben wird, wenn mit ihrer Aneignung vor dem Alter von elf Jahren begonnen wird. Bei dieser Konstellation ist eher ein akzentfreier Erwerb zu erwarten, der auch die Voraussetzung für gelungene sprachliche Integration darstellt. Beim Zweitspracherwerb im Alter von 11 bis 15 Jahren ist häufiger ein Akzent anzutreffen, und beginnt er nach dem Alter von 15 Jahren, sind Akzente die Regel. Daraus kann abgeleitet werden, dass ein Spracherwerb im frühen Alter die beste Voraussetzung einer Integration darstellt (Mägiste 1985). Spontaneität und Kontaktbereitschaft sind vermutlich im jüngeren Alter deutlich größer, wodurch mehr Kommunikationssituationen entstehen, die wiederum bei den Beteiligten zu Sprechanlässen und zur Performanz bisheriger Kompetenzen führen und so die Motivation für den weiteren Erwerb steigern (Kuhs 1989). Das verdeutlicht, warum eine frühe Eingliederung von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte in vorschulische Bildungseinrichtungen/ Kitas höchst relevant ist. Ressourcenförderung/ Resilienzfaktoren bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund Generell gilt in der entwicklungs- und jugendpsychologischen Forschung, sich für eine positive Jugendentwicklung an den „five Cs: competence, confidence, connection, character and caring“ zu orientieren (Lerner u. a. 2005). Diese sollen nun stärker auf Migrantenjugendliche fokussierend betrachtet werden. • Zu den recht stabilen Befunden der Migrationsforschung zählen die hohen Bildungsaspirationen von Migrantenfamilien für ihre Kinder. Diese Ansprüche sind jedoch oft an große, zum Teil unrealistische Erwartungen gekoppelt und - durch den Mangel an eigeuj 4 (2010) 157 resilienz nen Kompetenzen - kaum mit der schulischen Unterstützungsleistung der Eltern einlösbar (Nauck/ Diefenbach 1997). Bei ausbleibendem oder geringem Erfolg der Kinder führt dieses Auseinanderklaffen dann zu Enttäuschungen aufseiten der Eltern und psychischen Belastungen bei den Kindern. Nicht selten sind jedoch solche hohen Erwartungen dem Umstand geschuldet, dass sozialer Aufstieg und anerkannte Berufe für viele Migranteneltern nur mit akademischen Berufen wie Arzt und Anwalt verknüpft sind. Daher gilt es, in Kontexten der Schul- und Berufsberatung Migranteneltern zum einen auf die belastende Wirkung hoher Erwartungen bei fehlender Unterstützung hinzuweisen, wie sie sich in aggressiven Akten nach außen oder in depressiven Verstimmungen nach innen entladen kann, und zum anderen ihnen in verständlicher Weise die Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten auch durch handwerklich-technische Berufe zu kommunizieren. • Eine Reihe von Studien zeigt, dass ein positives Schulklima eine fördernde und schützende Wirkung hat, insbesondere wenn eine gute Beziehung zu den LehrerInnen vorhanden ist, die die SchülerInnen als interessiert an ihnen und sie herausfordernd wahrnehmen. An diesen Befund anknüpfend, lässt sich folgern, dass eine Verbesserung des Schulklimas und mehr persönliches Engagement der Lehrkräfte bei Migrantenkindern resilienzfördernd wirken. Vor allem kann ein Schulklima, das die kulturelle Vielfalt der SchülerInnen als Reichtum und nicht als Hemmnis betrachtet, einen Beitrag zur Resilienz leisten, weil es so dem Einzelnen das Gefühl von Wichtigkeit, Bedeutung und Anerkennung verleiht (Speck-Hamdan 1999). • Als weitere Fördermöglichkeit ist im Schulkontext zu erwähnen, Migrantenjugendliche - ungeachtet ihrer möglicherweise geringeren sprachlichen Kompetenzen - noch stärker in verantwortungsvolle Positionen einzubinden. Sie werden sich dann erfahrungsgemäß stärker mit der Aufgabe identifizieren: Ihre inneren Bindungen zur Schule werden gestärkt, während sie auf diese Weise Erfahrungen der Nützlichkeit und der Selbstwirksamkeit machen. • Schulprojekte wie „Großer Bruder“ bzw. „Große Schwester“, wie sie exemplarisch vom deutsch-türkischen Forum in Stuttgart durchgeführt werden (dort ist das Projekt unter der türkischen Bezeichnung „Abi- Abla-Projekt“ aufgeführt), bei denen kompetente ältere Jugendliche Risikokindern (Kindern aus „chaotischen“, ungeordneten Elternhäusern, aus Elternhäusern mit psychischer Erkrankung der Eltern etc.) zugeordnet werden und Teilverantwortungen für sie übernehmen, haben resilienzfördernde Wirkung. Diese „Brüder“ oder „Schwestern“ werden zu positiven Rollenvorbildern und können wünschenswerte Entwicklungen stimulieren. • Auch haben sich sogenannte „Rucksackprojekte“, wie sie etwa von der „Regionalen Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien“ (RAA) durchgeführt werden und bei denen Mütter und Kinder gemeinsam in Bildungsprozesse einbezogen sind, als ressourcen- und integrationsförderlich bewährt. Sie zielen zum einen auf eine Förderung der Muttersprachenkompetenz, zugleich aber auch auf die Förderung des Deutschen und bei den Müttern auf die Förderung der Erziehungskompetenz ab. Denn insbesondere die Integration der Mütter ist für die Frage der intergenerativen (Nicht-)Weitergabe von Gewalt ein entscheidendes Merkmal: So konnten Mayer/ Fuhrer/ Uslucan (2005) zeigen, dass bei einer gut integrierten (türkischen) Mutter sowohl die Weitergabe der einst selbst als Kind erfahrenen Gewalt abgepuffert wurde und dass auch die Kinder dieser Mütter weniger in Gewalthandlungen verwickelt waren. Abschließend gilt es noch einmal zu unterstreichen, dass ein defizitorientierter Diskurs sowohl die Chancen einer Migration als auch die bislang erbrachten Leistungen von MigrantInnen schlichtweg unterschätzt; deshalb ist hier eine ressourcen- und resilienzorientierte Sicht unabdingbar. Daher ist etwa dem immer wieder gebrachten Vorwurf, MigrantInnen würden sich durch Rückzugstendenzen in landsmannschaftliche Gruppen selber des- 158 uj 4 (2010) resilienz integrieren, zu entgegnen, dass die Involvierung in ethnische Communities auch ein wichtiger Beitrag zur Stressminderung sowie eine wichtige Ressource der MigrantInnen bedeutet: Denn ethnische Communities können auch zu Organen der Interessenverarbeitung der Minderheiten werden, Druck auf die Mehrheitsgesellschaft ausüben, um Vorurteile und Diskriminierungen zu verringern, und somit die kollektive Handlungskompetenz von Minderheiten stärken (Gaitanides 1992). Literatur Ardjomandi, M. E./ Streeck, U., 1998: Migration - Trauma und Chance. In: Kiesel, D./ Lüpke, H. v. (Hrsg.): Vom Wahn und vom Sinn. Krankheitskonzepte in der multikulturellen Gesellschaft. Frankfurt am Main, S. 53 - 71 Aspinwall, L./ Staudinger, U. M. (Hrsg.), 2003: A Psychology of Human Strengths: Perspectives on an Emerging Field. Washington Baker, C., 1993: Foundations of Bilingual Education and Bilingualism. Clevedon Benet-Martinez, V./ Leu, J./ Lee, F./ Morris, M., 2002: Negotiating Biculturalism. Cultural Frame Switching in Biculturals With Oppositional Versus Compatible Cultural Identities. In: Journal of Cross Cultural Psychology, Vol. 33, S. 492 - 516 Bialystok, E., 1988: Levels of Bilingualism and Levels of Linguistic Awareness. In: Developmental Psychology, Vol. 24, S. 560 - 567 Carver, C. S./ Scheier, M. F., 1990: Origins and Functions of Positive and Negative Affect: A Control Process View. In: Psychological Review, Vol. 97, S. 19 - 35 Clarkson, P. C./ Galbraith, P., 1992: Bilingualism and Mathematics Learning: Another Perspective. In: Journal of Research in Mathematics Education, Vol. 23, S. 34 - 44 Cummins, J., 1979: Linguistic Interdependence and the Educational Development of Bilingual Children. In: Review of Educational Research, Vol. 49, S. 222 - 251 Fthenakis, W. E./ Sonner, A./ Thrul, R./ Walbiner, W., 1985: Bilingual-bikulturelle Entwicklung des Kindes. München Gaitanides, S., 1992: Psychosoziale Versorgung von Migrantinnen und Migranten in Frankfurt am Main. Gutachten im Auftrage des Amtes für Multikulturelle Angelegenheiten. In: IZA - Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit, H. 3/ 4, S. 127 - 145 Guiterrez, J./ Sameroff, A. J./ Karrer, B. M., 1988: Acculturation and SES effects on Mexican American Parents’ Concepts of Development. In: Child Development, Vol. 59, S. 250 - 255 Jerusalem, M., 1992: Akkulturationsstreß und psychosoziale Befindlichkeit jugendlicher Ausländer. In: Report Psychologie, H. 2, S. 16 - 25 Kuhs, K., 1989: Sozialpsychologische Faktoren im Zweitspracherwerb: Eine Untersuchung bei griechischen Migrantenkindern in der Bundesrepublik Deutschland. Tübingen Laschet, A., 2009: Die Aufsteigerrepublik. Zuwanderung als Chance. Köln Laucht, M./ Esser, G./ Schmidt, M. H., 1997: Wovor schützen Schutzfaktoren? Anmerkungen zu einem populären Konzept der modernen Gesundheitsforschung. In: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, H. 3, S. 260 - 271 Lerner, R. M./ Almerigi, J. B./ Theokas, C./ Lerner, J., 2005: Positive Youth Development. A View of the Issues. In: Journal of Early Adolescence, Vol. 25, S. 10 - 16 McShane, D./ Berry, J. W., 1986: Native North Americans: Indian and Inuit Abilities. In: Irvine, J. H./ Berry, J. W. (Hrsg.): Human Abilities in Cultural Context. Cambridge, S. 385 - 426 Mägiste, E., 1985: Gibt es ein optimales Alter für den Zweitspracherwerb? In: Psychologie in Erziehung und Unterricht, 32. Jg., S. 184 - 189 Mayer, S./ Fuhrer, U./ Uslucan, U., 2005: Akkulturation und intergenerationale Transmission von Gewalt in Familien türkischer Herkunft. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht, 52. Jg., S. 168 - 185 Mead, G. H., 1934: Mind, Self and Society. Chicago Moffitt, T. E., 1993: Adolescence-limited and Lifecourse-persistent Antisocial Behavior: A Developmental Taxonomy. In: Psychological Review, Vol. 100, S. 674 - 701 Nauck, B./ Diefenbach, H., 1997: Bildungsbeteiligung von Kindern aus Familien ausländischer Herkunft. Eine methodenkritische Diskussion des Forschungsstands und eine empirische Bestandsaufnahme. In: Schmidt, F. (Hrsg.): Methodische Probleme der empirischen Erziehungswissenschaft. Baltmannsweiler, S. 289 - 307 Osborne, B., 1985: Research into Native North Americans’ cognition: 1973 - 1982. In: Journal of American Indian Education, Vol. 24, S. 9 - 25 Petermann, F./ Scheithauer, H./ Niebank, K., 2004: Entwicklungswissenschaft. Berlin/ Heidelberg Ramirez, M., 1983: Psychology of the Americas. Elmsford, NY Scheithauer, H./ Petermann, F., 2002: Prädiktion aggressiv/ dissozialen Verhaltens: Entwicklungsmodelle, Risikobedingungen und Multiple-Gating-Screening. In: Zeitschrift für Gesundheitspsychologie, 10. 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Göttingen, S. 495 - 535 Uslucan, H.-H., 2005 a: Chancen von Migration und Akkulturation. In: Fuhrer, U./ Uslucan, H. H. (Hrsg.): Familie, Akkulturation & Erziehung. Stuttgart, S. 226 - 242 Uslucan, H.-H., 2005 b: Lebensweltliche Verunsicherung türkischer Migranten. In: Psychosozial, 28. Jg., S. 111 - 122 Uslucan, H.-H., 2005 c: Heimweh und Depressivität türkischer Migranten in Deutschland. In: Zeitschrift für klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, S. 230 - 248 Der Autor PD Dr. Haci-Halil Uslucan Helmut-Schmidt-Universität Hamburg Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften Holstenhofweg 85 22043 Hamburg Tel.: 0 40 - 65 41-28 49 haci@uslucan.de