eJournals unsere jugend 62/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2010.art46d
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2010
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Sexualisierte Gewalt durch Professionelle in Institutionen - eine fachliche Momentaufnahme zum Stand der Diskussion

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2010
Mechthild Wolff
Seit Monaten bewegt ein Thema die Medien, Politik und Fachwelt, das lange verschwiegen und nicht ernst genommen wurde. Berichte über Missbrauch in den Kirchen, Internaten, Heimen, Schulen und anderen Institutionen der Erziehung, Bildung und psychosozialen Versorgung scheinen nicht abzubrechen.
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460 uj 11+12 (2010) Unsere Jugend, 62. Jg., S. 460 -471 (2010) DOI 10.2378/ uj2010.art46d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel kinderrechte - kinderschutz Sexualisierte Gewalt durch Professionelle in Institutionen - eine fachliche Momentaufnahme zum Stand der Diskussion Mechthild Wolff Seit Monaten bewegt ein Thema die Medien, Politik und Fachwelt, das lange verschwiegen und nicht ernst genommen wurde. Berichte über Missbrauch in den Kirchen, Internaten, Heimen, Schulen und anderen Institutionen der Erziehung, Bildung und psychosozialen Versorgung scheinen nicht abzubrechen. Seit Frühjahr 2010 wurde nunmehr der Runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ von drei Ministerien eingerichtet (www.rundertisch-kindesmissbrauch.de). Dieser Artikel versteht sich angesichts der rasanten Entwicklungen als Momentaufnahme des begonnenen Diskurses. 1 Zu Beginn des Beitrags werden phänomenologische Aspekte zusammengestellt, aus denen sich dann Präventionsstrategien ergeben. Viel wird derzeit dazu ausgesagt. Das Besondere an meiner Zusammenschau ist, dass Aspekte eines Arbeitspapiers, das aus einer Arbeitsgruppe des Runden Tisches stammt, aus- und weitergeführt werden. Die komprimierten Erkenntnisse und Kategorisierungen, die sich in den nachfolgenden kommentierten Grafiken und Präventionsstrategien finden, sind das Ergebnis eines Diskussionsprozesses und Abgleichs zwischen elf Personen mit unterschiedlichen institutionellen Hintergründen und disziplinären Einschätzungen. Zur nachholenden Modernisierung in Sachen Kinderschutz in Deutschland In einigen Ländern Europas, aber auch in Übersee wurde die Öffentlichkeit in jüngerer Zeit durch schwerwiegende Fälle körperlichen und sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Institutionsformen wachgerüttelt: ab 1997 in Heimen und Erziehungseinrichtungen in Nordwales, ab 2002 in der katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten, 2009 in Kinderheimen in Portugal. In Deutschland erfuhr man im Jahr 1997 1 Die Abbildungen sowie einige Formulierungen dieses Beitrags entstammen einem Diskussionspapier, das von einer Unterarbeitsgruppe (UAG) von AG I Intervention, Prävention, Information des Runden Tisches gegen sexuellen Missbrauch unter der Federführung der Autorin dieses Beitrags entwickelt wurde. Der UAG gehörten ebenfalls an: Michael Büchler, Prof. Dr. Frank Häßler, Dr. Wolfgang Hammer, Fredi Lang, Eva-Maria Nicolai, Dr. Peter Mosser, Kai Sachs, Sr. Jordana Schmidt, Dr. Sabine Skutta, Monika Weber-Hornig. uj 11+12 (2010) 461 kinderrechte - kinderschutz durch die Medien von einer Strafanzeige wegen sexuellen Missbrauchs in der Odenwaldschule. Solche Vorkommnisse wurden auch in verschiedenen pädagogischen und therapeutischen Settings bereits in den 80er Jahren wahrgenommen (vgl. Fegert/ Wolff 2006, 9ff) und in kleinen Fachkreisen diskutiert. Eine notwendige breite Diskussion über den Kinderschutz in Institutionen fand nicht statt. Zwar war nach den skandalträchtigen Missbrauchsfällen durch Personensorgeberechtigte in jüngster Zeit der Kinderschutz in der Fachwelt geradezu allgegenwärtig, doch muss man reklamieren, dass die wichtige Seite des Kinderschutzes in Institutionen weitgehend außen vor geblieben ist. So wurden beispielsweise schon im Jahr 2001 im japanischen Yokohama im Rahmen des „Zweiten Weltkongresses gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern“ (vgl. „Informationszentrum Kindesmisshandlung Kindesvernachlässigung“ IzKK des Deutschen Jugendinstituts München) weitreichende Präventionserfordernisse für den Missbrauch in Institutionen auf internationaler Ebene diskutiert, aber erst heute fassen diese Erkenntnisse national Fuß in den Fachdebatten. Nur diese wenigen angesprochenen Fälle der jüngeren Vergangenheit zeugen von einem internationalen Problem der sexualisierten Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Erziehung, Bildung, der Freizeit und psychosozialen Versorgung. Sie zeugen von einem langen Weg durch die Instanzen und davon, wie hoch Barrieren für tabuisierte Themen sein können, bevor sie in der Fachwelt, Politik und Fachpolitik in Deutschland platziert werden können. Langwierige Anstrengungen müssen unternommen werden, um hartnäckige Vermeidungstendenzen zu durchbrechen. Internationaler Druck und eine starke Medienpräsenz der Opfer und ihrer Angehörigen haben endlich dazu geführt, dass der Diskurs in Deutschland angekommen ist. Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Institutionen ist endlich Thema der Politik, Behörden, Verbände, Fachverbände und Einrichtungen. Auf allen Zuständigkeitsebenen herrscht eine längst überfällige Betriebsamkeit, und gute Ideen und Vorschläge zur Intervention und Prävention haben Hochkonjunktur. Intensiv wird an der Entwicklung von Verfahren und Maßnahmen gearbeitet, die dazu beitragen können, Unrecht, das Kindern und Jugendlichen zuteil wird, zu stoppen. Was lange währt, wird endlich gut, so könnte man meinen. Das Bittere ist jedoch, dass mit dieser weiteren Enttabuisierung deutlich geworden ist, welchen weiteren Risiken Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung ausgesetzt sind. Die Allgegenwart sexualisierter Gewalt in der kindlichen Lebenswelt Schaut man sich an, in welchen Lebensbereichen von Kindern und Jugendlichen inzwischen Phänomene sexualisierter Gewalt angeprangert werden, so muss man festhalten, dass Kinder und Jugendliche tragischerweise in allen Lebensbereichen, in Prof. Dr. Mechthild Wolff Jg. 1962; Erziehungswissenschaftlerin (M. A.), Dozentin für erziehungswissenschaftliche Aspekte Sozialer Arbeit, stellvertretende Vorsitzende der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen e.V. (IGfH), Vorstandsmitglied des Fachbereichstages Soziale Arbeit, Mitglied des Runden Tisches Kindesmissbrauch 462 uj 11+12 (2010) kinderrechte - kinderschutz denen sie sich potenziell aufhalten und von denen sie maßgeblich geprägt werden, ein hohes Risiko haben, dort solchem Unrecht ausgesetzt zu sein. Empirisch können wir die in Abbildung 1 dargestellten Phänomene noch nicht abschließend überschauen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass sowohl im privaten und sozialen Nahraum wie auch im sozialen Umfeld sexualisierte Gewalt die psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen prägen kann. Dies müssen wir mit Bedauern reklamieren, obwohl Gewalthandlungen gegen Kinder und Jugendliche im gesamten Umfeld, d. h. auch in Institutionen der Erziehung, Bildung, Freizeit und psychosozialen Versorgung, grundsätzlich verboten sind. Internationales Recht (UN-Charta) wie nationales Recht haben hier klare Normen definiert, dennoch kommt es zu Gewalthandlungen aller Art gegen Kinder. Nichts Neues, so könnte man meinen, zumal die Debatte der häuslichen Gewalt bereits zu einer Entzauberung der Positivwirkung des sozialen Nahraums geführt hatte. Kommt jetzt einfach nur ein weiterer Risikoraum für Kinder hinzu? Vor der Entzauberung der Familie wurde Gewalt und deren Androhung lediglich außerhalb des familiären Nahraums für möglich gehalten, nicht aber in professionellen Insti- Abb. 1: Lebensbereiche von Kindern und Jugendlichen mit hohem Risiko uj 11+12 (2010) 463 kinderrechte - kinderschutz tutionen. Die Familie wurde als Ort gesehen, an dem Geborgenheit, Schutz, Vertrauen, förderliche Beziehungen sichergestellt werden, um psychosoziales Wachstum von Kindern zu gewährleisten. Erziehungstheoretisch haben wir die Entwicklungsphase Kindheit als Moratorium verstanden. Frei soll sie sein von negativen Einflüssen und störenden Faktoren, das Kind soll sich aus sich selbst heraus entwickeln können. Bestandteil dieser Vorstellung ist auch, dass sich Erwachsene mit ihren Ansprüchen und Vorstellungen über das Entwicklungstempo zurückhalten. Angesichts von familiärer Gewalt hat die Entzauberung dieser Vorstellung längst stattgefunden. Hoffnungen wurden in die professionellen Schutzräume für Kinder und Jugendliche gesetzt, die eigentlich frei von Gewalt sein sollten, und vor allem haftete professionellen Institutionen lange eine grundsätzliche Unschuldsannahme an. Professionelle Institutionen der Erziehung, Bildung und psychosozialen Versorgung müssten es eigentlich besser wissen, aber sie können nicht mehr ausgenommen werden vom Gewaltrisiko, sie bergen es in sich. Endgültig verabschieden müssen wir uns von jeglichen romantisierenden Ideen, die wir von Kindheit hatten. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Jugendphase: Die Vorstellung des Bildungsmoratoriums, also der Entwicklungsphase, in der wichtige Weichen für die Biografie für Jugendliche geschützt in Bildungsinstitutionen gestellt werden können, ist damit ebenfalls Geschichte. Auch diese Phase wird durch die Gefahr der sexualisierten Gewalt oder Gewaltandrohung in Bildungsinstitutionen überschattet. Resümierend muss man feststellen, dass uns die endlich stattgefundene Enttabuisierung der Gewalt in Institutionen vor Augen führt, dass Kinder und Jugendliche hier zusätzlichen Risikopotenzialen ausgesetzt sind. Und was noch viel schlimmer ist: Vor diesem Hintergrund hat sich die Liste der potenziellen TäterInnen erweitert. Jeder Mensch ein/ e potenzielle/ r TäterIn? Wir wissen, dass bei jeglichem Missbrauch der Faktor Macht eine wesentliche Triebfeder darstellt. Der Missbrauch von Macht gegenüber Kindern und Jugendlichen kann sich in Formen grenzüberschreitender Umgangsweisen, in unfachlichen und unsachgemäßen Interventionen, in strafrechtlich relevanten Gewalthandlungen, wie körperlichen und sexuellen Übergriffen, in Ausbeutung und Vernachlässigung (vgl. Enders/ Eberhardt 2007) sowie in emotionaler Erniedrigung und Deprivation ausdrücken. Mittlerweile ist auch offenkundig, dass sämtliche Formen des Machtmissbrauchs und der Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen von allen Personen ausgehen können, die für das Aufwachsen und den Schutz von Kindern in förderlichen Beziehungen in besonderer Weise Sorge und Verantwortung tragen. Wie Abbildung 2 zeigt, können sie sowohl dem familiären Nah- und Fernbereich als auch dem professionellen und ehrenamtlichen Umfeld angehören. Jedoch sind Gewalthandlungen durch Kinder und Jugendliche gegenüber anderen Kindern und Jugendlichen von solchen zu unterscheiden, die durch sorgeberechtigte und fürsorgepflichtige Erwachsene ausgeübt werden. Die Einordnung dieser Phänomene ist stets auch eine Definitionsfrage und darum nicht immer eindeutig. Besondere Vorkommnisse, wie solche, die hier zur Disposition stehen, werden oft aus Angst nicht gemeldet, darum hat man auch wenig gesichertes empirisches Wissen darüber. Ein 464 uj 11+12 (2010) kinderrechte - kinderschutz systematischer Aufriss der Dynamiken liegt ebenfalls noch nicht vor. In der öffentlichen und fachlichen Debatte wurden pädosexuelle Täter als Hochrisikogruppe innerhalb der Institutionen der Erziehung, Bildung und psychosexuellen Versorgung ausgemacht. Beunruhigend ist die dazugehörige Erkenntnis, dass epidemiologischen Daten zufolge die „Prävalenz pädophiler Neigungen“ bei ca. 1 % der männlichen Bevölkerung liegt (vgl. Beier et al. 2006). Stellt man zudem in Rechnung, dass dies nur eine spezifische Gruppe darstellt, die unterschiedlichen Ursachen (s. u.) für das Auftreten sexualisierter Gewalt aber keine spezifische Beschreibung einer Tätergruppe begründen, muss man wohl schließen, dass potenziell keine Person davor gefeit ist, einmal zum Täter oder zur Täterin werden zu können. Ursachen für sexualisierte Gewalt in Institutionen gibt es viele Die Gründe und Ursachenkomplexe für die beschriebenen Phänomene sind zumeist multikausal und vielschichtig und deshalb kaum eindimensional zu identifizieren. Sie können durch Organisationsstrukturen, Unternehmenskultur und Abb. 2: Personen, von denen Gewalt ausgehen kann uj 11+12 (2010) 465 kinderrechte - kinderschutz Kommunikationsabläufe innerhalb von Institutionen begünstigt werden (vgl. Abbildung 3) sowie in der Persönlichkeit und im Selbstverständnis der gewalttätig Handelnden begründet sein. Auch Faktoren wie z. B. noch bestehende Formen der Tabuisierung des Themas in der Gesellschaft kommt eine bedeutende Rolle zu. Phänomene der Diffusion von Grenzen durch sexualisierte mediale Öffentlichkeit, z. B. in Form sexualisierender Darstellungen von Personen, Gegenständen, Vorgängen und Interaktionen, spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Für die beiden Faktoren Persönlichkeit und Institution können bereits intensiv beschriebene Ursachenkomplexe genannt werden. In diesen Ursachenkomplexen gibt es fließende Übergänge, und die Ursachen können sich gegenseitig bedingen. Da die Menschen, die in Institutionen arbeiten, immer das institutionelle Klima gemeinsam herstellen, sind einfache Erklärungen und Begründungen unrealistisch. Die differenzierende Zusammenstellung zeigt auf, dass die Vielschichtigkeit von Ursachenkomplexen eine entsprechende Bandbreite möglicher Präventivmaßnahmen erfordert. Abb. 3: Institutionelle und gesellschaftliche Ursachen 466 uj 11+12 (2010) kinderrechte - kinderschutz Prävention kann auf allen Organisationsebenen ansetzen Aus praxisnahen Berichten, aus guten Projektbeispielen, aus Fachgesprächen und Fortbildungscurricula kennen wir bereits viele Anknüpfungspunkte und Strategien, die der Prävention von sexualisierter Gewalt in Institutionen dienen können. Grundlegend muss man allerdings vorausschicken, dass Geschlechtersensibilität und Geschlechtsidentität als übergreifendes Prinzip für alle nachfolgenden Präventionsstrategien angesehen werden. Ein gezielter Schutz für Kinder und Jugendliche setzt voraus, dass die unterschiedlichen Bedarfs- und Gefährdungslagen von Mädchen und Jungen bei der Entwicklung und Einführung von Interventions- und Präventionsmaßnahmen berücksichtigt werden. Des Weiteren erfordern die zusätzlichen Differenzkategorien Behinde- Abb. 4: Personenbezogene Ursachen uj 11+12 (2010) 467 kinderrechte - kinderschutz rung, Migration, Stadt - Land, soziale Ungleichheit gezielte Überlegungen in den Einrichtungen vor Ort. Reflexion ist dahingehend nötig, inwiefern diese Differenzkategorien möglicherweise spezifische Bedarfslagen bei Jungen und Mädchen mit sich bringen und auf die Gestaltung von Präventionsmaßnahmen ggf. Einfluss haben. Ebene der Kinder und Jugendlichen Aufklärung und Information Die Aufklärung und Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen über Formen, Kontexte, Hintergründe und Auswirkungen von Gewalt, Machtmissbrauch und (sexuellen) Übergriffen in schriftlicher und interaktiver Weise stellen zentrale Strategien dar. Auch die regelmäßige Information über Kinderrechte ist grundlegend, denn Kinder und Jugendliche benötigen dringend Orientierung, welches Verhalten von Professionellen oder ehrenamtlich Tätigen zulässig und welches nicht zulässig ist. Nur eine entwicklungsassoziierte Aufklärung und Information kann zur Enttabuisierung der lange verschwiegenen Problemkreise von sexualisierter Gewalt in Institutionen führen. Sprachregelung und Selbstwirksamkeit Vereinbarungen mit Kindern und Jugendlichen über eine Sprachregelung sind ebenfalls ein wichtiger präventiver Anknüpfungspunkt. Nur so kann sichergestellt werden, dass und wie Gewaltphänomene und Unrecht eindeutig angesprochen werden können. Kinder und Jugendliche müssten die Möglichkeit bekommen, erlebtem Unrecht einen Namen zu geben. Angesichts von Loyalitätskonflikten, Angst, Scham und Traumatisierung sind Erfahrungen von Selbstwirksamkeit essenziell. Hilfs- und Beschwerdeangebote Einrichtungen sollten Kindern und Jugendlichen unbedingt die Chance geben, die Ansprechpersonen und -organisationen zu kennen, denen sie sich anvertrauen können, wenn sie sich unsicher oder gefährdet fühlen bzw. wenn sie (sexualisierte) Gewalt erlebt haben oder den Verdacht haben, dass diese stattfindet. In solchen Situationen dürfen sie vor allem nicht alleingelassen werden. Sie sollten darauf vertrauen können, dass zuständige Erwachsene Verantwortung übernehmen. Auch wichtige Vertrauenspersonen aus dem Umfeld der Kinder und Jugendlichen sollten in solchen Momenten eingebunden werden. Ebene der Institutionen und Personen Leitungsverantwortung und Institutionsstruktur Führungs- und Leitungspersonen müssen in Einrichtungen und Organisationen für die Umsetzung von Maßnahmen der Kinderschutzpolitik Verantwortung übernehmen und sicherstellen, dass in Institutionen erforderliche organisatorische Voraussetzungen des Kinderschutzes in Form von Schlüsselprozessen implementiert werden. Hierunter fallen alle Maßnahmen der Gefahrenabwehr sowie Gewährleistungspflicht: Sicherstellung von Meldepflichten unter Berücksichtigung der Möglichkeiten und Grenzen bei Berufsgeheimnisträgern, Vorliegen eines Managementplans zum Vorgehen in Verdachtsfällen, Entwicklung von Dokumentationsverfahren, Angebote der themenspezifischen Fort- und Weiterbildung, Einrichtung von Beschwerdemöglichkeiten, Förderung von Teamkultur und Konfliktfähigkeit, verantwortliche Mitarbeiterakquise und -gespräche, Integration des Kinderschutzes in Qualitätssicherungsverfahren. Kinderschutz in Institutionen kann jedoch keineswegs auf eine 468 uj 11+12 (2010) kinderrechte - kinderschutz Gefahrenabwehr reduziert werden, sondern bedarf der Erarbeitung eines umfassenden positiven Leitbilds und der Qualitätsentwicklung. Die nachhaltige Implementierung all dieser aufgeführten Maßnahmen erfordert einen dialogischen Prozess mit den MitarbeiterInnen und deren Rückhalt. Transparenz und Klarheit Kinder und Jugendliche sollten sich in transparenten Organisationsstrukturen bewegen können, in denen Verantwortlichkeiten, Zuständigkeiten, Aufgaben und Rollen eindeutig geklärt sind und in denen Probleme nicht verschwiegen werden. Transparente Umgangsformen schließen zudem die Verständigung und Klärung über Nähe-Distanz-Bedürfnisse und professionelle Nähe-Distanz-Anforderungen ein. Für Kinder und Jugendliche sollte darum methodisch und didaktisch ihrem jeweiligen Entwicklungsstand angepasstes Informationsmaterial über den Beschwerdeweg, mögliche AnsprechpartnerInnen, das Leitbild und ggf. den Kodex der Institution bereitgestellt werden. Auch Eltern sollten in die Aufklärungs- und Informationsmaßnahmen intensiv eingebunden werden. Mitsprache und Selbstbestimmung Formen der Mitsprache und Selbstbestimmung in Institutionen wird inzwischen eine eindeutige protektive Wirkung zur Schaffung von sicheren Orten für Kinder und Jugendliche beigemessen. Beteiligungschancen beziehen sich sowohl auf Kinder und Jugendliche, auf Sorgeberechtigte wie auch auf MitarbeiterInnen. Fest verankerte Gremien und Verfahren zur Mitsprache, aber auch die Umsetzung von Beteiligung in pädagogischen Interaktionen dienen der Entstehung eines Klimas der Partizipation und des Vertrauens. Die Sicherung von ausreichend differenzierter sprachlicher Verständigung aller Beteiligten ist unabdingbarer Bestandteil dieser Präventionsstrategie. Externe Beratung und Begleitung Institutionen müssen gerade in Krisensituationen handlungsfähig bleiben. Dies erfordert eine höchstmögliche Transparenz aller Abläufe und eingeleiteten Schritte. Institutionen müssen deshalb im Vorfeld von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt in den Kinderschutzstrukturen vernetzt sein und Kooperationen verabreden. Unabhängige, externe BeraterInnen müssen mit eingebunden werden, die Hinweise für den professionellen Umgang mit den betroffenen Kindern, Jugendlichen, deren Eltern und mit MitarbeiterInnen geben können. Erfahrungen zeigen, dass in Konfliktfällen eine externe Beratung und Begleitung dabei helfen kann, die ebenfalls für die Institution beeinträchtigenden bis traumatisierenden Vorkommnisse aufzuarbeiten und für die Zukunft sicherzustellen, dass Fälle nicht verschleppt, verschwiegen oder unangemessen bearbeitet werden. Ebene der Eltern Elternkompetenzen und Elternverantwortung Wenn sich Eltern für eine Institution entscheiden, sollten sie dazu motiviert und darin bestärkt werden, im Sinne des Verbraucherschutzes Verantwortung zu übernehmen sowohl bei der Auswahl von Institutionen als auch im Entscheidungsprozess. Sie sollten auch motiviert werden, den Schutz und die Sicherheit ihrer Kinder und Jugendlichen einzufordern und die Institutionen genauer zu überprüfen. Institutionen der Elternbildung, -beratung und -erholung übernehmen hierbei eine zentrale Funktion und müssen in dieser Hinsicht dringend gestärkt werden. uj 11+12 (2010) 469 kinderrechte - kinderschutz Ebene der Bildung Aus-, Fort- und Weiterbildung Studierende und Auszubildende, die für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen qualifiziert werden, sollten in der Ausbildung darin geschult werden, Gewaltphänomene zu erkennen, sie qualifiziert einordnen und Maßnahmen der Intervention planen und professionell einleiten zu können. In Aus-, Fort- und Weiterbildung sollten Fachkräfte zudem in die Lage versetzt werden, Methoden der Prävention anzuwenden, eigene Einstellungen und Haltungen zum Thema Gewalt zu reflektieren und kooperatives Arbeiten innerhalb von Teams und in Hilfesystemen einzuüben. Auch Personen, die ehrenamtlich tätig werden wollen, sollten zu diesen Themen im Vorfeld aufgeklärt und fortgebildet werden. Dies sollte auch für ehrenamtlich tätige Jugendliche gelten, denen Jüngere anvertraut sind. Ebene der potenziell gefährdenden Personen Kinderschutzbezogene und hilfeorientierte Beratung Personen, die ihre Beziehungen zu Kindern oder Jugendlichen sexualisieren, indem sie deren Zuwendungsbedürfnisse und Abhängigkeit ausnutzen, und Personen, die ein Risiko haben, dies zu tun, benötigen Hilfe und müssen verstärkt motiviert werden, aus dem Dunkelfeld herauszutreten. Sie benötigen die Chance, so früh wie möglich niedrigschwellige Beratungsmöglichkeiten wahrzunehmen. Spezifischer Aufmerksamkeit bedürfen auch Personen mit pädosexueller Orientierung. Auch sie benötigen leicht zugängliche Hilfeangebote, die sie dabei unterstützen, Mechanismen der Selbstregulation und Selbstkontrolle zu erlernen. Jede kinderschutzbezogene Beratung von potenziell gefährdenden Personen zielt darauf ab, dass diese keine sexualisierte Gewalt mehr ausüben. Ausblick: Institutioneller Kinderschutz braucht Verbindlichkeit Diese guten Ansätze zur Prävention findet man in der Praxis, aber nicht flächendeckend und nicht verbindlich. Inzwischen müsste klar geworden sein, dass man sich angesichts der Tragweite der Problematik vom Prinzip des „good-will“ verabschieden muss. Aus Eigeninteresse sollten Institutionen und Organisationen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, hinter Mindeststandards nicht zurücktreten. Wie sonst will die Praxis angesichts der Vehemenz der Vorwürfe sexualisierter Gewalt in Institutionen in der Öffentlichkeit, gegenüber Eltern von Opfern und den Opfern selbst ihre Glaubwürdigkeit und ein Vertrauen wiederherstellen? Als grundlegende neue Strategie hat die Arbeitsgruppe I des Runden Tisches der Politik empfohlen, einige Auflagen an Einrichtungen und Organisationen, die mit Kindern und Jugendlichen professionell arbeiten, an deren Förderung zu koppeln. Es geht um die Implementierung von basalen Kinderschutzmaßnahmen in Einrichtungen und Organisationen und das Führen eines Nachweises darüber. Den finanzierenden, Aufsicht führenden und übergeordneten Institutionen und Behörden kommt damit eine zentrale Funktion und Verantwortung bei der Umsetzung dieser Mindeststandards zu. Der Nachweis und die Überprüfung der Implementierung folgender verbindlicher Maßnahmen werden als förderrelevant angesehen: 470 uj 11+12 (2010) kinderrechte - kinderschutz • trägerspezifisches Präventionskonzept • Institutionsanalyse zu Gefährdungspotenzialen und Gelegenheitsstrukturen • internes und externes Beschwerdeverfahren • hausinterner Managementplan im Falle eines Verdachts • Hinzuziehung einer externen Fachkraft • Dokumentationswesen für Verdachtsfälle • themenspezifische Fortbildungsmaßnahmen für MitarbeiterInnen Diese Vorschläge sind noch längst nicht ausdiskutiert. Unklar sind Fragen, welche Garantien ein erweitertes Führungszeugnis bieten kann, welche zusätzliche Infrastruktur insgesamt notwendig ist, welche Kosten entstehen und wer sie übernehmen wird. Diskutiert wird auch, welche Auflagen ehrenamtlichen Organisationen gemacht werden können und sollen. Vorgebracht wird, dass zu viele Auflagen Gift für die ehrenamtlichen Strukturen sind und das Engagement mindern werden. Wie auch immer diese Diskussion weitergehen wird, indirekt geht es im Kontext dieser Entscheidungen um die Kardinalsfrage: Wie viel ist uns der Kinderschutz wert, aber was geben wir dafür auf? In dieser Frage stehen wir an einem wichtigen Scheideweg, denn dahinter steckt die grundsätzliche Verortung Sozialer Arbeit zu Kontrollmaßnahmen. Im Dienste des Kinderschutzes werden intensivere Kontrollen, Auflagen, Nachweise sowie neue Gesetze gefordert. Da ein Generalverdacht besteht, soll die Kontrolle kleinmaschig und eng sein, so die Argumentation. Für notwendig erachtet werden intensive Screenings von MitarbeiterInnen, nicht nur vor Ausübung einer beruflichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit mit Kindern und Jugendlichen, sondern auch während dieser Tätigkeiten. Recruitment-Techniken und Assessment-Strategien und Vorgaben für Behörden, Leitungskräfte, Einrichtungen und MitarbeiterInnen werden in diesem Zusammenhang in Erwägung gezogen. Für diejenigen, für die die Stunde des Kinderschutzes schlägt, ist die Verführung groß, nun sämtliche bereits bekannte Präventionsmaßnahmen zusammenzubinden und alle gleichzeitig und gleichermaßen verbindlich einzuführen. Die Gefahr ist hier groß, dass die Autonomie, der Freiraum und das hohe Innovationspotenzial, das sich nur jenseits übermäßiger Kontrollen entfalten kann, auf der Strecke zu bleiben drohen. Die Autonomie der Sozialen Arbeit und die Authentizität sozialpädagogischer Prozesse stehen auf dem Spiel. Es geht um einen sensiblen Balanceakt zwischen zu viel Kontrolle und zu wenig Verbindlichkeit. Fegert hat diese beiden grundlegend verschiedenen Strategien auf die Formel „Abschreckung vs. Prävention durch Empowerment“ (vgl. Fegert 2007) gebracht. Angesichts der Tatsache, dass bislang viele Fachleute diese Debatte ohnehin für überflüssig gehalten hatten, macht es nunmehr auch wenig Sinn, sich geradezu selbstbezichtigend auf einmal strengen Kontrollvorgaben zu unterjochen. Die deutsche Geschäftigkeit und eng verstandener Kinderschutz dürfen nicht dazu führen, dass die Soziale Arbeit noch verregelter, kontrollierter und angstbesetzter wird. Außerdem wissen wir zu wenig über die Wirkungsweisen all der Präventionsmaßnahmen, die in die Diskussion eingeführt worden sind. Eine systematische Würdigung und Analyse von Beispielen guter Praxis liegt bis dato ebenfalls nicht vor. Ob dann sämtliche Maßnahmen zusammengenommen sicherstellen können, dass das uj 11+12 (2010) 471 kinderrechte - kinderschutz Vorkommen sexualisierter Gewalt gänzlich ausgeschlossen wird, steht ohnehin in Zweifel. Es wird solche Vorkommnisse immer geben. Erfahrungen zeigen, dass Veränderungen in Institutionen lange Zeit brauchen. Es muss erst Überzeugungsarbeit geleistet werden, und Fachleute müssen wissen, warum sie Veränderungen in Institutionen herbeiführen wollen und sollen (vgl. Wolff 2009). Kurzfristige Lösungen, Positionspapiere und ein schnelles Festzurren von Maßnahmen kommen dem Handlungsdruck der Politik nach, sie entsprechen aber nicht dem erforderlichen grundsätzlichen Umdenken in Institutionen in Sachen Kinderschutz. Vielerorts muss überhaupt erst einmal damit begonnen werden, in einen innerinstitutionellen Diskurs über Schutzrechte, Beschwerde- und Mitbestimmungsrechte von Kindern und Jugendlichen einzutreten. Dazu muss Freiraum bestehen, um diesbezügliche Konzepte und wirkungsvolle Maßnahmen ausprobieren und weiterentwickeln zu können. Zu viele Auflagen, zu viel Druck sind derzeit kontraproduktiv und helfen nicht mit, für Engagement auf allen Ebenen zu werben. Ein guter Anfang in Sachen Kinderschutz in Institutionen ist gemacht. Literatur Beier, K. M./ Schäfer, G. A./ Goecker, D./ Neutze, J./ Ahlers, C. J., 2006: Präventionsprojekt Dunkelfeld. Der Berliner Ansatz zur therapeutischen Primärprävention von sexuellem Kindesmissbrauch. In: Humboldt-Spektrum, 14. Jg., H. 3, S. 4 - 10 Enders, U./ Eberhardt, B., 2007: Traumatisierte Institutionen. Wenn eine Einrichtung zum Tatort sexueller Ausbeutung durch einen Mitarbeiter/ eine Mitarbeiterin wurde. In: Zartbitter e.V. (Hrsg.): Grenzen achten! Schutz vor sexuellen Übergriffen in Institutionen. Köln Fegert, J. M./ Wolff, M. (Hrsg.), 2 2006: Sexueller Missbrauch durch Professionelle in Institutionen. Prävention und Intervention - ein Werkbuch. Weinheim/ München Fegert, J. M., 2007: Prävention von Missbrauch in Institutionen durch Abschreckung vs. Prävention durch Empowerment. In: Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis, 52. Jg., H. 4, S. 100 - 105 Wolff, M., 2009: Vom Mehrwert des Dialogs. Zur Sicherstellung des Kinderschutzes in Institutionen. In: Krause, H.U./ Rätz-Heinisch, R. (Hrsg.): Soziale Arbeit im Dialog gestalten. Theoretische Grundlagen und methodische Zugänge einer dialogischen Sozialen Arbeit. Leverkusen, S. 239 - 249 Die Autorin Prof. Dr. Mechthild Wolff Hochschule Landshut, Fakultät Soziale Arbeit Am Lurzenhof 1 84036 Landshut mwolff@fh-landshut.de