unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2010.art04d
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2010
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Recht: Die Europäische Union. Von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Sozialunion Weg, Ziel oder Labyrinth?
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2010
Jörg Sonnabend
Globale Rezession, Bankenversagen, Firmeninsolvenzen, Ängste um Vermögen und Arbeitsplätze, offene Grenzen als Bedrohung - das Schutzempfinden der BürgerInnen ist verständlicherweise gestiegen. Wenn dann noch eine "anonyme" Bürokratie in Brüssel hinzukommt, ein neuer Vertrag von Lissabon, von dem sogar BefürworterInnen sagen, er sei unlesbar (so der irische Ministerpräsident), wenn man nicht weiß, ob "Brüssel" Segen ist oder Fluch, dann steigen Ängste vor dem Unbekannten und auch Zweifel an der Sinnhaftigkeit Europas.
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32 uj 1 (2010) Unsere Jugend, 62. Jg., S. 32 - 45 (2010) DOI 10.2378/ uj2010.art04d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel recht Die Europäische Union - Von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Sozialunion Weg, Ziel oder Labyrinth? Jörg Sonnabend Globale Rezession, Bankenversagen, Firmeninsolvenzen, Ängste um Vermögen und Arbeitsplätze, offene Grenzen als Bedrohung - das Schutzempfinden der BürgerInnen ist verständlicherweise gestiegen. Wenn dann noch eine „anonyme“ Bürokratie in Brüssel hinzukommt, ein neuer Vertrag von Lissabon, von dem sogar BefürworterInnen sagen, er sei unlesbar (so der irische Ministerpräsident), wenn man nicht weiß, ob „Brüssel“ Segen ist oder Fluch, dann steigen Ängste vor dem Unbekannten und auch Zweifel an der Sinnhaftigkeit Europas. 1 Es sei eingangs darauf hingewiesen, dass es derzeit sowohl die Union als auch die Gemeinschaft gibt. Da die beiden Institutionen mit dem Vertrag vom Lissabon fusionieren sollen und auch jetzt schon im Brüsseler Sprachgebrauch von der Union die Rede ist, wenn eigentlich die Gemeinschaft gemeint ist, soll in diesem Artikel nur von der Union die Rede sein. Dr. jur. Jörg Sonnabend Jg. 1949; Jurist, Leiter der Dienststelle Landshut des Landesamtes für Finanzen, ehrenamtlicher Richter, Lehrbeauftragter für Arbeits-, Wirtschaftsprivat- und Europarecht an der FH Landshut Quo vadis, Europa? Im Folgenden wird die Problematik diskutiert, ob die Europäische Union 1 die BürgerInnen schützt oder dem „kalten Wettbewerb“ aussetzt, letztlich also, ob sie sich von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Art „Sozialunion“ entwickelt hat. Eng verbunden damit ist natürlich die Frage des Zwecks, der Zielrichtung und der Sinnhaftigkeit Europas. Auch der Standpunkt der Europäischen Union im Gefüge der Mitgliedsstaaten (MSen) und der globalen Welt muss berücksichtigt werden. Tatsache ist, dass der Union durch die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ verschiedene Aufgaben und Ziele gesetzt wurden, dass es aber keine klar erkennbare oder definierte sogenannte Finalität gibt. Die Frage stellt sich also zu Recht, wohin die Union sich entwickelt, ob sie driftet oder wie ein Fahrrad am Laufen gehalten werden muss, damit sie nicht umfällt (wie Jaques Delors es einmal ausdrückte), ohne dass es darauf ankommt, wohin es fährt - Bewegung als lebenserhaltender Selbstzweck. uj 1 (2010) 33 recht Entwicklung der Ziele in den verschiedenen Verträgen Entwickelt sich die europäische Union von einer Handels-, Zoll- und Wirtschaftsunion, einem Binnenmarkt ohne Grenzen, zu einer Sozialunion? Ist der Vertrag von Lissabon in der langen Reihe der Verträge von Rom über Maastricht, Amsterdam und Nizza ein weiterer Schritt oder sogar der letzte zu einer Sozialunion? Im Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - dem EWG-Vertrag von Rom 1957 - wird in Art. 2 wirtschafts- und gemeinschaftsbetont statuiert: „Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilisierung, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind.“ Im Folgevertrag, der sogenannten Einheitlichen Europäischen Akte von 1986, heißt es in Art. 1 ebenso gemeinschaftslastig: „Die europäischen Gemeinschaften und europäische politische Zusammenarbeit verfolgen das Ziel, gemeinsam zu konkreten Fortschritten auf dem Wege zur europäischen Union beizutragen.“ In dem Vertrag über die Europäische Union von 1992, dem sogenannten Vertrag von Maastricht, statuiert Art. B schon politisch etwas weniger allgemein und dafür sozialbetonter: „Die Union setzt sich folgende Ziele: die Förderung eines ausgewogenen und dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, insbesondere durch Schaffung eines Rahmens ohne Binnengrenzen, durch Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhaltes und durch Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die auf längere Sicht auch eine einheitliche Währung nach Maßgabe dieses Vertrages umfasst.“ Abb. 1 Quelle: www.verwaltung.bayern.de/ Anlage3981815/ BayerninEuropa.pdf, S. 10 34 uj 1 (2010) recht Auch in Art. G wird festgehalten: „Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie durch die Durchführung der … gemeinsamen Politiken oder Maßnahmen eine harmonische und ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, ein beständiges, nicht inflationäres und umweltverträgliches Wachstum, einen hohen Grad an Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Beschäftigungsniveau, ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten zu fördern.“ Im Vertrag von Amsterdam von 1998 erfolgt ein weiterer Schritt in Art. 1 (Einfügung des vierten Erwägungsgrundes): „In Bestätigung der Bedeutung, die sie den sozialen Grundrechten beimessen, wie sie in der am 18. 10. 1961 in Turin unterzeichneten Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 festgelegt sind.“ Der derzeit geltende Vertrag von Nizza (2001) enthält auf dem Gebiet der sozialen Belange keine wesentliche Änderung oder Weiterungen (wenn man von dem Ausschuss für Sozialschutz, Art. 144 des EG-Vertrages [EGV] einmal absieht), zumindest was Daseinszweck und Ziele der Union betrifft. Und auch in dem nunmehr - durch das wohl noch ausstehende Referendum in Irland - in der Schwebe hängenden Vertrag von Lissabon nennt Art. 2 die grundlegenden Werte, auf die sich die Union gründet: „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ Die Ziele der neuen Union werden in Art. 3 Absatz 1 des Vertrages von Lissabon (vgl. „Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“ [EUV], unterzeichnet am 13. Dezember 2007) definiert: „Ziel der Union ist es den Frieden, die Werte und das Wohlergeben der Völker zu fördern; sie wirkt nach Absatz 3 auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt hin und bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierung und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhang und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten.“ Dieser Vertrag, so er denn in Kraft tritt, bringt eine erhebliche politische und rechtliche Neujustierung - weg vom unbeschränkten Wettbewerb hin zu verstärkt egalitären Kräften der Nichtdiskriminierung, der Solidarität und des sozialen Ausgleichs. Was ist eigentlich ein Sozialstaat? Der „Sozialstaat“ im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Die Bundesrepublik Deutschland ist nach Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ und muss dies nach Art. 79 II GG auch bleiben: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche … die in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ Das Wort „sozial“ taucht dabei im GG insgesamt nur neun Mal auf, wobei in diese Zahl auch die bloße Erwähnung der national-sozialistischen und der Sozialgerichtsuj 1 (2010) 35 recht barkeit eingeschlossen sind. So muss z. B. die verfassungsmäßige Ordnung in den (Bundes-)Ländern nach Art. 28 GG „den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“, und gemäß Art. 23 GG „wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist“. Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe, das über die Einhaltung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland wacht, hat seit seiner Gründung im Jahr 1951 dazu beigetragen, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Ansehen und Wirkung zu verschaffen. Das gilt vor allem für die Durchsetzung der Grundrechte. Zur Beachtung des Grundgesetzes sind alle staatlichen Stellen verpflichtet. Kommt es dabei zum Streit, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Seine Entscheidung ist unanfechtbar. An seine Rechtsprechung sind alle übrigen Staatsorgane gebunden. Die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts hat auch politische Wirkung. Das wird besonders deutlich, wenn das Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Das Gericht ist aber kein politisches Organ. Sein Maßstab ist allein das Grundgesetz. Fragen der politischen Zweckmäßigkeit dürfen für das Gericht keine Rolle spielen. Es bestimmt nur den verfassungsrechtlichen Rahmen des politischen Entscheidungsspielraums. Die Begrenzung staatlicher Macht ist ein Kennzeichen des Rechtsstaats (vgl. www.bundesverfassungsgericht.de). Zur Problematik der Definition des Sozialstaates hat das BVerfG in mehreren Entscheidungen Stellung genommen und darin dem Gesetzgeber ein weites Ermessen eingeräumt. So urteilte es am 19. 12. 51 (Az. 1 BvR 220/ 51): „Wenn auch die Wendung vom ‚sozialen Bundesstaat‘ nicht in den Grundrechten, sondern in Art. 20 des Grundgesetzes (Bund und Länder) steht, so enthält sie doch ein Bekenntnis zum Sozialstaat, das bei der Auslegung des Grundgesetzes wie bei der Auslegung anderer Gesetze von entscheidender Bedeutung sein kann. Das Wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaates aber kann nur der Gesetzgeber tun; er ist gewiß verfassungsrechtlich zu sozialer Aktivität, insbesondere dazu verpflichtet, sich um einen erträglichen Ausgleich der widerstreitenden Interessen und um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle die zu bemühen, die durch die Folgen des Hitlerregimes in Not geraten sind.“ Am 18. 7. 67 erging folgende Entscheidung (Az. 2 BvF 3, 4, 5, 6, 7, 8 - 62; 2 BvR 139, 140, 334): „Wenn Art. 20 Abs. 1 GG ausspricht, daß die Bundesrepublik ein sozialer Bundesstaat ist, so folgt daraus nur, daß der Staat die Pflicht hat, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen; dieses Ziel wird er in erster Linie im Wege der Gesetzgebung zu erreichen suchen.“ Und am 19. 10. 83 (Az. 2 BvR 485, 486/ 80) urteilte das BVerfG: „Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes enthält infolge seiner Weite und Unbestimmtheit regelmäßig keine unmittelbaren Handlungsanweisungen, die durch die Gerichte ohne gesetzliche Grundlage in einfaches Recht umgesetzt werden könnten. Insoweit ist es richterlicher Inhaltsbestimmung weniger zugänglich als die Grundrechte.“ Die Europäische Union - eine soziale Union? Nach Auffassung des BVerfG ist die Union (noch? ) kein Staat, sondern ein sogenannter Staatenverbund. Daraus folgt natürlich nicht, dass sie kein sozial orientiertes Gemeinwesen sein kann. Eine ähnliche Legal- 36 uj 1 (2010) recht definition wie im Grundgesetz, wie immer wenig fassbar und auslegungsbedürftig sie sein mag, fehlt allerdings in den Verträgen der Union. Es werden dort „nur“ Ziele genannt. Soziale Rechte (und Pflichten) regeln also das Verhältnis der UnionsbürgerInnen unter- und zueinander und gegenüber der Union bzw. ihren Heimat-Mitgliedsstaaten. Tatsache ist, wie oben dargelegt, dass das Wort „sozial“ in der einen oder anderen Zusammensetzung in dem gültigen Vertrag, der die Europäische Union (bzw. die Gemeinschaft) regelt, doch relativ häufig vorkommt, jedenfalls häufiger als im Grundgesetz. Kann daraus geschlossen werden, dass die EU sozialer ist als die BRD? Immerhin taucht das Wort „sozial“ im (noch nicht in Kraft getretenen) Vertrag von Lissabon insgesamt 171 Mal auf. Wird die Lissaboner Union also fast zwanzig Mal sozialer als die Bundesrepublik? Was heißt „sozial“ in der Union? Die Aufführung der einzelnen Verträge der Union verdeutlicht, dass eine - wenn auch vielleicht vage, unspezifizierte - Entwicklung zu mehr sozialen Aspekten festzustellen ist, ohne dass dieser Begriff definiert wird. Diese Entwicklung vollzog sich aber nicht stetig, geplant und organisch nach einem Masterplan, sondern es ist eher von einem unkoordinierten Wildwuchs zu sprechen. Das anfangs erwähnte Labyrinth der Begriffe und Ziele rührt daher, dass die Ziele der Verträge durch die Erweiterung der Union und den Zusammenschluss immer neuer Mitgliedsstaaten (von zuerst sechs auf nunmehr 27) verschiedener geschichtlicher, sozialer und politischer Traditionen in die Gefahr geraten, durch bewusste sprachliche Unschärfen einen zwar gemeinsamen, aber nur minimalen Konsens zu finden. Einen solchen Konsens kann man ggf. auch ungestraft bis zur Bruchstelle verletzen. Da schon in den einzelnen Mitgliedstaaten der Begriff „sozial“ vieldeutig ist, die Staaten Europas unterschiedliche Sozialsysteme, -vorstellungen und -rechte haben, sollte es nicht verwundern, wenn es kein „Europäisches Sozialsystem“ im Sinn der deutschen Sozialgesetzbücher (SGB I - XII) gibt und dieser Begriff auch in der Union diffus verwandt wird. Es gibt also eine verwirrende Fülle von Rechtskreisen (z. B. die Konventionen des Europarates - Europarecht im weiteren Sinn), eine unendliche Zahl von bindenden oder nur deklaratorischen Rechtsvorschriften, unverbindlichen, aber wohlklingenden Stellungnahmen und Absichtserklärungen, Beschlüssen der verschiedensten Institutionen etc. Sie alle verwenden den Begriff „sozial“ in verschiedenen Deutungen und Sprachen, was in der Fülle der Unions-Amtssprachen bei den Übersetzungen nicht besser wird („lost in translation“). Diese Rechtsinstrumente gewähren den UnionsbürgerInnen Rechte gegen ihren Heimatstaat respektive Pflichten untereinander (oder auch nicht). Sie binden die Mitgliedsstaaten gegenüber ihren Staatsangehörigen und untereinander und gegenüber europäischen Institutionen (oder auch nicht) und stehen in einem hierarchischen Rangverhältnis. Es handelt sich um ein schillerndes Kaleidoskop, das je nach Standpunkt ständig andere Facetten zeigt. Als Einstieg in die Problematik dieser Bedeutungsvielfalt des Begriffes „sozial“ im europäischen Sprachgebrauch muss wieder einmal die EWG fungieren. Als die Union gegründet und die ersten Begriffe geprägt wurden, war sie eine reine Wirtschaftsgemeinschaft, deren Bezugspunkt uj 1 (2010) 37 recht eben die Ökonomie war. Die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen zählte von Anfang an zu den vier sogenannten Grundfreiheiten des Warenverkehrs, der Personen, des Kapitals und der Dienstleistungen. Es sei hier allerdings auch zur Ehrenrettung der als ach so „marktradikal“ gescholtenen Union angeführt, dass zu den vom Europäischen Gerichtshofe (EuGH) anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses (die eine Abweichung von den oben erwähnten Grundfreiheiten zulassen) auch der Schutz der ArbeitnehmerInnen gehört: „Da die Gemeinschaft somit nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Zielrichtung hat, müssen die sich aus den Bestimmungen des Vertrags über den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr ergebenden Rechte gegen die mit der Sozialpolitik verfolgten Ziele abgewogen werden, zu denen … insbesondere die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, … ein angemessener sozialer Schutz und der soziale Dialog zählen“ (vgl. EuGH vom 11. 12. 07 C 438/ 05, International Transport Workers’ Federation versus Viking Line). Die Frage, ob oder wie sozial die Union nun ist, lässt sich mit Blick auf die verschiedenen Aspekte des Gemeinschaftsrechts (Abbildung 2), die auf den folgenden Seiten abgehandelt werden, in gewisser Weise herausfiltern, ohne den Versuch einer Begriffsbestimmung zu wagen. Da eine Begriffsbestimmung im Sinn einer Legaldefinition nicht existiert (sozial ist, wenn …), muss versucht werden, die vorhandenen Begriffe einzuordnen. „Gefährlich“, weil missverständlich, ist, dass sehr häufig, wenn im Jargon (Eurospeak) Abb. 2 38 uj 1 (2010) recht das Wort „sozial“ gebraucht wird, nicht eine Anknüpfung an das Sozialversicherungsrecht im deutschen Sinn gemeint ist, sondern an das Arbeitsrecht. Das Arbeitsrecht der Union Wie oben erwähnt, wurde die Union als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet; Ziel war der gemeinsame Markt ohne Grenzen. Geht man zur Einstimmung in diese Problematik auf die Unterseite „Sozialpolitik“ des Online-Zugangs zu den Rechtsvorschriften der Europäischen Union, Eur- Lex, so muss man feststellen, dass hier eben ein eindeutiger Schwerpunkt auf dem Arbeitsrecht liegt, was sich schon aus der Zahl der Rechtsakte ergibt: • Allgemeine Sozialvorschriften (Anzahl der Rechtsakte: 81) • Europäischer Sozialfonds (ESF) (Anzahl der Rechtsakte: 6) • Arbeitsbedingungen (Anzahl der Rechtsakte: 107) • Arbeitslosigkeit und Beschäftigung (Anzahl der Rechtsakte: 110) • Soziale Sicherheit (Anzahl der Rechtsakte: 110) • Angleichung einiger Sozialbestimmungen (Anzahl der Rechtsakte: 13) Einige Verweisungen sind darüber hinaus leider für unseren herkömmlichen Sprachgebrauch irreführend. Der Punkt „soziale Sicherheit“ z. B. wird weiter untergliedert in „Grundsätze der sozialen Sicherheit“ (Anzahl der Rechtsakte: 5) und „Anwendung auf die Wanderarbeitnehmer“ (Anzahl der Rechtsakte: 91). „Sozialrecht“ im europäischen Sinn ist also häufig Arbeitsrecht, und hier sind die Kompetenzen der Union stark ausgeprägt, sodass sich nationales Arbeitsrecht ohne europäisches nicht mehr traktieren, d. h. auslegen und anwenden lässt. Die Zuständigkeiten der Union bezüglich des Arbeitsrechtes ergeben sich insbesondere aus dem Art. 137 des EG-Vertrages (EGV): „(1) Zur Verwirklichung der Ziele des Art. 136 unterstützt und ergänzt die Gemeinschaft die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf folgenden Gebieten: a) Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer, b) Arbeitsbedingungen, c) soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer, d) Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrags, e) Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer, f) Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschließlich der Mitbestimmung, vorbehaltlich des Absatzes 5, g) Beschäftigungsbedingungen der Staatsangehörigen dritter Länder, die sich rechtmäßig im Gebiet der Gemeinschaft aufhalten, h) berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen, unbeschadet des Art. 150, i) Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbehandlung am Arbeitsplatz, j) Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, k) Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes.“ Europäische Antidiskriminierungsrichtlinien In Zusammenhang mit der Frage, was in der Union als „sozial“ verstanden wird, dürfen die Antidiskriminierungsrichtlinien der Union nicht unerwähnt bleiben. Sie wurden durch das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in nationales Recht transponiert und verbieten im Arbeitsrecht (und teilweise auch im Zivilrecht) jegliche Form der Diskriminierung, von begründeten Ausnahmen und systemwidrigen Formen der „affirmative uj 1 (2010) 39 recht action“ (d. h. der gezielten Bevorzugung, um einer vorhandenen Benachteiligung einer Gruppe entgegenzuwirken, was wiederum per se diskriminierend wirkt) in § 5 AGG einmal abgesehen. Gerade im Bereich des Arbeitsrechtes hat der Europäische Gerichtshof schon sehr früh die mittelbare Diskriminierung der Teilzeitkräfte (Teilzeitkraft ist gleich weiblich, eine Benachteiligung der Teilzeitkraft ist gleich eine mittelbare Diskriminierung der Frau) angeprangert und verboten (vgl. EuGH v. 9. 9. 99, C-281/ 97, Andrea Krüger gegen Kreiskrankenhaus Ebersberg) bzw. ihnen den Weg in den Beruf (hier: Bundeswehr) geebnet (vgl. EuGH v. 11. 1. 2000, C-285/ 98, Tanja Kreil gegen Bundesrepublik Deutschland), um die beiden deutschen Sündenfälle zu erwähnen. Somit kann mit Fug und Recht gesagt werden, dass die (zumindest rechtliche) Emanzipation der Frau im Arbeitsleben ohne die Union und insbesondere ohne den EuGH nicht so weit fortgeschritten wäre, wie sie es derzeit ist. Globalisierungsfonds (EGF) Um die virulent gewordenen negativen Kräfte der Globalisierung für die Arbeitsmärkte sozial abzufedern, wurde in dem neuen Globalisierungsfonds statuiert, dass „ungeachtet der positiven Auswirkungen der Globalisierung auf Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand und der Notwendigkeit, die europäische Wettbewerbsfähigkeit durch strukturellen Wandel weiter zu verbessern, die Globalisierung jedoch auch negative Folgen für die schwächsten und am wenigsten qualifizierten Arbeitnehmer in einigen Sektoren nach sich ziehen kann. Es ist deshalb angezeigt, einen allen Mitgliedstaaten zugänglichen Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (im Folgenden als „der EGF“ bezeichnet) einzurichten, mit dessen Hilfe die Gemeinschaft ihre Solidarität mit aufgrund von Veränderungen im Welthandelsgefüge arbeitslos gewordenen Arbeitnehmern unter Beweis stellen kann“ (siehe die förmliche Rechtsgrundlage des Globalisierungsfonds, die „Verordnung (EG) Nr. 1927/ 2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. 12. 2006 zur Einrichtung des Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung“). Der Globalisierungsfonds stellt in den Fällen Mittel bereit, in denen weitgehende strukturelle Veränderungen im Welthandelsgefüge zu einer schwerwiegenden Störung des Wirtschaftsgeschehens führen. Der Fonds verfügt allerdings über keinen eigenen Etat. Im Fall, dass einem Antrag stattgegeben wird, zweigt die Haushaltsbehörde aus den Töpfen des Europäischen Sozialfonds übrig gebliebene Mittel ab und transferiert sie auf das Konto des EGF; vorgesehen ist ein Umfang von 500 Millionen Euro pro Jahr. Bisher flossen Mittel spärlich; ob sich das nun angesichts der Wirtschaftskrise ändert, bleibt abzuwarten und - wie im Gesetzestext ausdrücklich vermerkt: Der EGF finanziert keine passiven Sozialschutzmaßnahmen. Europäisches Sozialversicherungsrecht im Sinne der deutschen Sozialgesetzbücher (SGB I - XII)? Auf dem Gebiet der Sozialversicherung im Sinne deutschen Rechts hat die Union kaum Kompetenzen, zumindest nicht in dem Sinn, dass eine Vereinheitlichung der verschiedenen nationalen Systeme ein Ziel oder eine Aufgabe der Europäischen Union wäre. Eine Harmonisierung der verschiedenen Sozialversicherungssysteme findet also nicht statt, aber die Mitglieds- 40 uj 1 (2010) recht staaten dürfen WanderarbeiterInnen aus anderen Mitgliedstaaten nicht diskriminieren. Die Anknüpfung an das Arbeitsrecht ist gerade dem deutschen Sozialversicherungsrecht (SozVersR) durchaus nicht fremd; in Frage gestellt wird durch das Unionsrecht das Territorialprinzip. Es gibt also insoweit Berührungspunkte, als UnionsbürgerInnen, die in einem Aufnahmestaat arbeiten, dort dieselben sozialen Wohltaten genießen sollen wie ihre inländischen KollegInnen. Auch hier besteht wieder der Bezugspunkt: das Arbeitsrecht mit den grenzüberschreitenden ArbeitnehmerInnen (im Jargon: WanderarbeiterInnen) bzw. Selbstständigen. In der „Verordnung (EWG) Nr. 1408/ 71 des Rates über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige“ ist in Art. 2 statuiert, dass die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedsstaats wohnen, die gleichen Rechte und Pflichten haben wie die Staatsangehörigen dieses Staates. In Art. 4 wird der sachliche Geltungsbereich der Verordnung ausgeführt. Diese sogenannte Wanderarbeiterverordnung gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die Leistungsarten, wie z. B. Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft, Leistungen an Hinterbliebene, Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Leistungen bei Arbeitslosigkeit oder Familienleistungen, betreffen. Im Übrigen soll hier nur auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) verwiesen werden, die die Transportabilität sozialer Rechte fördert (vgl. EuGH in dem Urteil v. 5. 3. 1998 - Rs. C-160-96 - Molenaar vs AOK Baden- Württemberg). Ein weiterer Schritt bezüglich des europäischen Sozialversicherungsrechts, losgelöst vom stringenten Arbeitnehmerbegriff, ist der Vorschlag der Kommission vom 2. 7. 08 (KOM(2008) 414 endgültig) für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. Diese Richtlinie schafft einen allgemeinen Rahmen für eine sichere, hochwertige und effiziente grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung und ist anwendbar auf jegliche Gesundheitsversorgung, unabhängig davon, wie sie organisiert, ausgeführt oder finanziert wird bzw. ob sie öffentlich oder privat erfolgt. Soziale Grundrechte in Europa Von der Frage der europäischen Sozialpolitik respektive der europäischen Sozialrechte grundsätzlich zu unterscheiden sind die sozialen Grundrechte in Europa, die in verschiedenen Dokumenten mit unterschiedlicher Bindungswirkung zu finden sind. Das Europäische Parlament (EP) verabschiedete erstmals am 4. April 1973 eine „Entschließung über die Berücksichtigung der Grundrechte der Bürger in den Mitgliedstaaten bei der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts“. Dieser folgte die „Entschließung über den Vorrang des Gemeinschaftsrechts und den Schutz der Grundrechte“ vom 15. Juni 1976, und das wichtigste Dokument des Europäischen Parlamentes ist die (allerdings nicht Rechte begründende) Erklärung über Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12. April 1989. Sie enthält einen umfassenden Grundrechtskatalog, der neben den klassischen Grundrechten auch soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen aufnimmt, die in Tabelle 1 aufgelistet werden. Hier handelt es sich aber mehr um politische Absichtserklärungen, keinesfalls um Teilhabe- oder gar Anspruchsrechte gegen die Mitgliedsstaaten oder gegen die Union als solche. uj 1 (2010) 41 recht Charta der Grundrechte Die Charta der Grundrechte fristet derzeit noch eine Randexistenz. Sie ist in weiten Teilen dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes nachgebildet, welches relativ wenige explizit ausformulierte soziale Rechte kennt. Sie geht aber gerade im Bereich der Arbeitnehmerrechte (Titel IV. Solidarität) darüber hinaus. Sie gilt allerdings gemäß Art. 51 nur für die Organe der EU; inwieweit sie (auch) subjektive Rechte für die einzelnen UnionsbürgerInnen begründet, soll hier nicht weiter untersucht werden. Die Organe müssen die Charta aber bei ihrem Tun und insbesondere bei der Rechtsetzung beachten. In dem nicht angenommenen Vertrag über eine Verfassung für Europa (abgelehnt durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden) wäre sie als Teil II integrierter Teil des Verfassungsvertrages geworden. Die Charta der Grundrechte ist nicht in den Vertrag von Lissabon aufgenommen worden, sondern es wird nur in Art. 6 EUV auf sie verwiesen. Die Erklärung Nr. 1 zum Vertrag von Lissabon schreibt vor, dass sie am Tag der Unterzeichnung der zwei veränderten Verträge „feierlich durch das europäische Parlament, den Rat und die Kommission verkündet“ werden soll. Diese Erklärung nimmt auch den ganzen Text Artikel 7 Die Familie genießt rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz. Artikel 13 I Jeder hat das Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen. Artikel 13 II Es werden die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz und zur Gewährleistung eines Arbeitsentgelts, das ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht, getroffen. Artikel 14 III Die Arbeitnehmer haben das Recht, regelmäßig über die Wirtschafts- und Finanzsituation ihres Unternehmens unterrichtet und zu Beschlüssen, die ihre Interessen berühren können, gehört zu werden. Artikel 15 I Jeder hat das Recht auf alle sozialen Maßnahmen, die ihm den bestmöglichen Gesundheitszustand gewährleisten. Artikel 15 II Arbeitnehmer, Selbständige und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf soziale Sicherheit oder eine gleichwertige Regelung. Artikel 15 III Jeder, der nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat das Recht auf soziale und medizinische Hilfe. Artikel 15 IV Jeder, der aus von ihm nicht zu verantwortenden Gründen nicht über eine angemessene Wohnung verfügt, hat Anspruch auf entsprechende Unterstützung durch die zuständigen staatlichen Stellen. Artikel 16 I Jeder hat das Recht auf Bildung und Ausbildung gemäß seinen Fähigkeiten. Artikel 24 Integrierender Bestandteil jeder Gemeinschaftspolitik ist die Erhaltung, der Schutz und die Verbesserung der Qualität der Umwelt, der Schutz der Verbraucher und der Benutzer vor einer Gefährdung ihrer Gesundheit und Sicherheit sowie gegen unlautere Handelspraktiken. Die Gemeinschaftsorgane sind gehalten, alle notwendigen Maßnahmen zur Verwirklichung dieser Ziele zu ergreifen. Erklärung über Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12. April 1989 Tab. 1 42 uj 1 (2010) recht der Charta wieder auf. Der Art. 6 des EUV (Europäischer Unionsvertrag, 1. Teil des Vertrags von Lissabon) zu den Grundrechten ist neu geschrieben worden, um auf die Charta hinzuweisen, „die denselben rechtlichen Rang genießt wie die Verträge“. Die Charta ist demnach „rechtlich verbindlich“ (Erklärung 31), aber eben nur für die Organe der EU - mehr ein Programm als Anspruchsgrundlage? Die Charta wird schon jetzt vom Europäischen Gerichtshof zur Auslegung der Grundrechte herangezogen und wie geltendes Recht erwähnt (vgl. EuGH v. 13. 3. 07, Rechtssache C-432/ 05). Gerade die sozialen Grundrechte in der Charta werden also aller Wahrscheinlichkeit nach eine Aufwertung durch den EuGH erfahren und sich möglicherweise von Programmsätzen zu Teilhaberechten entwickeln. Die sozialen Grundrechte der Charta umfassen folgende Rechte (vgl. Tabelle 2). Der Europäische Gerichtshof führte als oberstes Gericht der Union z. B. im sogenannten Brenner-Sperre-Urteil zum Wert der Grundrechte allgemein aus: „Insoweit ist daran zu erinnern, daß die Grundrechte nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. … Daraus folgt, daß in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als rechtens anerkannt werden können, die mit der Beachtung der so anerkannten und gewährleisteten Menschenrechte unvereinbar sind“ (vgl. EuGH vom 12. 6. 03, Rechtssache C 112/ 00. Der Verein zum „Schutz des Lebensraumes in der Alpenregion“ hatte in einer genehmigten Demonstration gegen den Schwerlastverkehr den Brenner gesperrt, um auf die Umweltschäden aufmerksam zu machen. Ein Spediteur hat die Republik Österreich wegen Behinderung des freien Warenverkehrs und damit wegen Verstoßes gegen Europarecht auf Schadensersatz verklagt. Der EuGH hielt die Grundrechte der freien Meinungsäußerung und der Versammlungsfreiheit für höher stehend als den freien Warenverkehr.) Europäischer Sozialfonds (ESF) Der Europäische Sozialfonds (ESF) findet seine Rechtsgrundlage im Art. 146 EGV Art. 27 Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen Art. 28 Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen Art. 29 Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst Art. 30 Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung Art. 31 Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen Art. 32 Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz Art. 33 Familien- und Berufsleben Art. 34 Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung Art. 35 Gesundheitsschutz Art. 36 Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse Art. 37 Umweltschutz Art. 38 Verbraucherschutz Soziale Grundrechte der Charta Tab. 2 uj 1 (2010) 43 recht (und im Detail in der Verordnung Nr. 1081/ 2006). Er ist einer der Strukturfonds der EU, die eingerichtet wurden, um die Unterschiede bei Wohlstand und Lebensstandard in den Mitgliedsstaaten und Regionen der EU abzubauen und dadurch den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu fördern. Der ESF dient der Förderung der Beschäftigung in der EU. Er steht den Mitgliedsstaaten zur Seite, wenn es darum geht, Europas Arbeitskräfte und Unternehmen für die neuen und globalen Herausforderungen zu rüsten. Kurz gesagt: Das Geld fließt in die Mitgliedsstaaten und Regionen, insbesondere in jene, deren wirtschaftliche Entwicklung am wenigsten fortgeschritten ist.Der ESF wurde mit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 ins Leben gerufen. Seit dieser Zeit schafft er Arbeitsplätze, unterstützt die Menschen durch Ausbildung und Qualifizierung und trägt zum Abbau von Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt bei. Ziel der Europäischen Union ist es, dass alle Menschen eine berufliche Perspektive erhalten. Jeder Mitgliedsstaat und jede Region entwickelt dabei im Rahmen eines Operationellen Programms eine eigene Strategie. Damit kann den Erfordernissen vor Ort am besten Rechnung getragen werden. Finanzielle Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds (im Zeitraum 2007 bis 2013 vergibt der ESF Mittel von rund 75 Mrd. Euro an Mitgliedsstaaten und Regionen in der EU) können öffentliche Verwaltungen, Nichtregierungsorganisationen, Wohlfahrtsverbände sowie Sozialpartner erhalten, die im Bereich Beschäftigung und soziale Eingliederung aktiv sind. Die Vergabe richtet sich nach Kriterien, die in den ESF-Richtlinien und den ESF- Förderprogrammen des Bundes und der Länder festgelegt sind. Unter der Federführung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sind die folgenden vier Bundesressorts an der Umsetzung des ESF-Bundesprogramms beteiligt: das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Dies ist eine deutliche Ausweitung der Ressortbeteiligung gegenüber der vorherigen Förderperiode. Das ESF-Bundesprogramm verfolgt vier Programmschwerpunkte: Beschäftigte, Unternehmen und Existenzgründung, Weiterbildung und Qualifizierung, Beschäftigung und soziale Integration, Transnationale Maßnahmen (vgl. www.esf.de/ portal/ gene rator/ 944/ esf_grundlagen.html). Die Unionsbürgerschaft Die Unionsbürgerschaft, Art. 17 EGV, die durch die nationale Staatsangehörigkeit vermittelt wird und zu dieser hinzutritt, war primär nicht dazu gedacht, Rechte gegen die Union oder insbesondere andere Mitgliedsstaaten zu vermitteln oder zu gewähren. Sie gewährt zuvörderst ein Aufenthaltsrecht (plus Wahlrecht zum Europäischen Parlament, Petitionsrecht, Recht auf konsularischen Schutz durch andere Mitgliedsstaaten in Ländern, in denen der Heimatstaat nicht vertreten ist). Diese Rechte gelten auch unabhängig von der Berufsausübung, sodass sich die Unionsbürgerschaft somit von der wirtschaftlichen Komponente entfernt und einem allgemeinen, auch sozialen Recht annähert. Auch hier hat der EuGH mit der vom ihm bevorzugten teleologischen Auslegungsmethode „effet utile“ versucht, die Ziele des Vertrages möglichst umfassend zu erreichen, in dem er die Unionsbürgerschaft in Verbindung mit dem Diskrimi- 44 uj 1 (2010) recht nierungsverbot (Art. 12 EG) in Bezug auf soziale Sicherungssysteme zu einem subjektiven sozialen Anspruch gegen den Aufenthaltsstaat entwickelte. So urteilte der EuGH (7. 9. 04 - C 456/ 02 im Fall Trojani): „Einem Bürger der Europäischen Union, der im Aufnahmemitgliedstaat nicht kraft Artikel 39 EG, 43 EG oder 49 EG ein Aufenthaltsrecht besitzt, kann dort bereits aufgrund seiner Unionsbürgerschaft in unmittelbarer Anwendung von Artikel 18 Absatz 1 EG ein Aufenthaltsrecht zustehen. Die Wahrnehmung dieses Rechts unterliegt den in dieser Bestimmung genannten Beschränkungen und Bedingungen, jedoch haben die zuständigen Behörden dafür Sorge zu tragen, dass bei der Anwendung dieser Beschränkungen und Bedingungen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Sobald eine Person, die sich in einer Situation wie der des Klägers befindet, jedoch eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, kann sie unter Berufung auf Artikel 12 EG eine Leistung der Sozialhilfe … beanspruchen.“ Fazit Der Europäische Gerichtshof hat bereits sehr früh, nämlich im Urteil vom 5. 2. 1963 (Rs. 26 - 62 in der Sache van Gend & Loos gegen Niederländische Finanzverwaltung) ausgeführt: „Das Ziel des EWG-Vertrages ist die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, dessen Funktionieren die der Gemeinschaft angehörigen Einzelnen unmittelbar betrifft; damit ist zugleich gesagt, daß dieser Vertrag mehr ist als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet. Diese Auffassung wird durch die Präambel des Vertrages bestätigt, die sich nicht nur an die Regierungen, sondern auch an die Völker richtet. … Zu beachten ist ferner, daß die Staatsangehörigen der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten dazu berufen sind, durch das europäische Parlament … zum Funktionieren dieser Gemeinschaft beizutragen.“ Die Union ist also die Union ihrer BürgerInnen, denen sie durch den gemeinsamen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ ohne Grenzen helfen möchte, die NachbarInnen anderer Mitgliedsstaaten kennenzulernen, in anderen Mitgliedsstaaten möglichst ohne engstirnige politische oder bürokratische Hindernisse gleichberechtigt und ohne Diskriminierung zu studieren, zu arbeiten und zu leben, ohne ihre Identität aufzugeben. Auf diesem Weg hat sich die Union zweifellos zu einer sozialen Union entwickelt, weil gerade der EuGH sehr früh er- und anerkannt hat, dass ein Leben (zumal im Ausland und sei es auch das europäische) ohne eine gewisse soziale Sicherheit kaum oder nur für wenige möglich ist. Diese immer engere Union der UnionsbürgerInnen ist das Ziel, das teilweise bereits erreicht ist, an dem aber weitergearbeitet werden muss und das auch durch Gleichgültigkeit gefährdet werden kann. Es ist eindeutig, dass die Union von einer reinen Handels-, Zoll- und Wirtschaftsunion immer mehr zu einer Sozialunion wurde, ohne dass dieser Begriff konkret fassbar oder definiert wurde oder vielleicht sogar definierbar wäre. Den einen geht die Sozialunion zu weit, den anderen nicht weit genug: ein bekannter Aspekt in der jeweils nationalen Europapolitik. Die sozialen Normen sind weit verstreut, übereinander gelagert, betreffen in weitem Umfang Arbeitsrecht, bieten aber nicht immer subjektive Rechte. Um auf die Anfangsfragen zurückzukommen: Ein Weg? Ja. Ein Ziel? Vielleicht. Ein Labyrinth? Bestimmt. uj 1 (2010) 45 recht Literatur Europäisches Parlament, Generaldirektion Wissenschaft, 2000: Arbeitsdokument soziale Grundrechte in Europa. Reihe Soziale Angelegenheiten, SOCI 104 DE Fuchs, M. (Hrsg.), 4 2005: Europäisches Sozialrecht. Baden-Baden Kingreen, T., 2007: Die Universalisierung sozialer Rechte im europäischen Gemeinschaftsrecht. In: Europarecht (EuR), 42. Jg., Beiheft 1, S. 43 - 74 Kuka, C., 2002: Die europäische Gemeinschaft nach dem Vertrag von Amsterdam: europäische Sozialunion oder soziale Union Europa? Inauguraldissertation. Juristische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf Schlögl-Jettmar, A., 2006: Europäisches Sozialrecht, Diskussionspaper Nr. 14 der Discussion Paper Series des Sonderforschungsbereichs „International Tax Coordination“ an der Wirtschaftsuniversität Wien. Wien Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EUV) unterzeichnet am 13. Dezember 2007, http: / / eur-lex.europa.eu/ LexUriServ/ LexUri Serv.do? uri=OJ: C: 2008: 115: 0013: 0045: de.pdf, 10. 8. 2009, 33 Seiten Von der Groeben, H./ Schwarze, J. (Hrsg.), 6 2003: Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Baden-Baden Der Autor Dr. jur. Jörg Sonnabend Landesamt für Finanzen, Dienststelle Landshut Maximilianstraße 21 84028 Landshut joerg.sonnabend@lff.bayern.de drsonnabend@justice.com Besuchen Sie uns auf dem 22. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE)! Vom 15. -17. März 2010 findet in Mainz der 22. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) statt! Wir freuen uns über Ihren Besuch an unserem Verlagsstand im Philosophicum der Johannes Gutenberg-Universität. 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