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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Wie erreichen wir verbindliche Standards für das Pflegekinderwesen?
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Judith Pierlings
Das Pflegekinderwesen in der Bundesrepublik ist, trotz immer wieder formulierter Forderungen nach einer einheitlicheren Arbeitsweise, geprägt von vielfältigen Unterschieden. Dies führt nicht selten dazu, dass mitunter benachbarte Pflegekinderdienste eine völlig unterschiedliche Praxis vertreten, dabei aber von der jeweils eigenen Vorgehensweise überzeugt sind.
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uj 6 (2010) 257 Unsere Jugend, 62. Jg., S. 257 -264 (2010) DOI 10.2378/ uj2010.art27d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Wie erreichen wir verbindliche Standards für das Pflegekinderwesen? Judith Pierlings Das Pflegekinderwesen in der Bundesrepublik ist, trotz immer wieder formulierter Forderungen nach einer einheitlicheren Arbeitsweise, geprägt von vielfältigen Unterschieden. Dies führt nicht selten dazu, dass mitunter benachbarte Pflegekinderdienste eine völlig unterschiedliche Praxis vertreten, dabei aber von der jeweils eigenen Vorgehensweise überzeugt sind. pflegekinder Unterschiede kristallisieren sich zum einen in der strukturellen Situation der jeweiligen Pflegekinderdienste heraus. Hierzu gehört etwa die Frage nach der Fallführung oder auch die Relationen zwischen Pflegefamilie und Fachkraft, die mitunter stark zwischen den einzelnen Diensten variieren, und von Empfehlungen, wie etwa der des Instituts für Soziale Arbeit (ISA) - 25 Familien oder 40 Kinder pro Fachkraft - (vgl. Landschaftsverband Rheinland 2009), deutlich abweichen. Zum anderen unterscheiden sich die konzeptionellen Leitideen. So divergieren etwa die Vorgehensweisen innerhalb der Bewerbung und Vorbereitung einer Pflegefamilie ebenso wie die Schritte zur Vermittlung und nachfolgenden Begleitung und Betreuung aller Beteiligten deutlich. Hier sei nur auf die offensichtlichen Unterschiede in der Gestaltung und Begleitung von Besuchskontakten verwiesen. Die Ausgestaltung der Hilfeform „Pflegefamilie“ ist ein weiterer Punkt, der Pflegekinderdienste deutlich voneinander unterscheidet: von dem alleinigen Angebot der reinen Dauerpflege bis zur Ausdifferenzierung in sehr verschiedene Unterstützungsformen wie Familiäre Bereitschaftsbetreuung, Verwandten-, Tages- und Ergänzungspflege sowie Angebote für spezielle Zielgruppen, etwa von Gewalt betroffene Mädchen. Hinzu kommen Haltungen und persönliche Prinzipien, die sich verfestigt haben und deren Irritation mitunter schwer möglich ist. Dies sind etwa Überzeugungen zur getrennten oder gemeinsamen Unterbringung von Geschwistern oder „Glaubenssätze“ wie die, dass das Pflegekind immer das jüngste Kind in der (Pflege-)Geschwisterreihe sein müsse oder dass Biografiearbeit für alle Pflegekinder wichtig sei. Viele dieser Haltungen haben mitunter eine sehr persönliche Färbung und basieren lediglich auf eigenen beruflichen Erfahrungen oder einem individuellen Berufsethos. Judith Pierlings Jg. 1978; Diplom-Sozialpädagogin, Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Pflegekinder Universität Siegen, Projektleitung im „Leuchtturmprojekt Pflegekinderdienst“ 258 uj 6 (2010) pflegekinder Die Auffassung zur Bedeutung der Herkunftsfamilie ist ein weiterer Punkt, der anhand solcher „Glaubenssätze“ behandelt wird. Die ideologischen Positionen, unter denen dies diskutiert wird, überhöhen auf der einen Seite die Herkunftsfamilie (Ergänzungsfamilienkonzept) bzw. auf der anderen Seite die Pflegefamilie (Ersatzfamilienkonzept) (vgl. Gehres/ Hildenbrand 2008). Nicht selten werden solche Grundsätze ohne Selbstzweifel oder Irritationen - etwa durch eine konträre Praxis andernorts oder gegenläufige Veröffentlichungen (vgl. zum Thema der Herkunftsfamilie etwa Sauer 2008) - aufrechterhalten. Dabei ist es für den jeweiligen Einzelfall wenig hilfreich, wenn er (nur) nach solchen inoffiziellen Standards - oder „Bauernregeln“, wie Klaus Wolf (2008) sie nennt - bewertet wird. Vor dem Hintergrund, dass allerorts die gleiche Rechtsgrundlage herrscht und es zudem aktuelle Wissensbestände zu den verschiedenen Themen (vgl. u. a. Gassmann 2010; Reimer 2008 sowie das neue Manifest zur Pflegekinderhilfe 2010) gibt, ist es schwierig zu verstehen, dass dennoch weiter große Unterschiede in der Praxis bestehen. Konsequenzen für das Pflegekinderwesen Betrachtet man diese Situation also entsprechend kritisch, so kann die Konsequenz nur die Entwicklung zentraler, konzeptioneller Leitideen für das Pflegekinderwesen sowie die gleichzeitige Überprüfung bestehender Prinzipien sein, um so Forderungen nach Mindeststandards (vgl. Landschaftsverband Rheinland 2009, www.pflegekindertagung2006.de) erfüllen zu können. Wie sollen aber diese fachlichen Standards so erarbeitet werden, dass sie die momentan herrschenden Schwierigkeiten tatsächlich verändern und Akzeptanz in der Praxis finden? Mögliche Barrieren auf dem Weg zu einem Transfer in die Praxis müssen dabei ebenso mitbedacht werden wie die Notwendigkeit der Bereitschaft zu einer tatsächlichen Veränderung. Optionen, dass etwa übergeordnete Kommissionen, beispielsweise auf Länderebene, Vorschläge in die Praxis geben, scheinen hier ebenso wenig erfolgversprechend wie Empfehlungen, die aus einer rein wissenschaftlichen Perspektive in die Praxis getragen werden und dabei deren Bedürfnisse nicht angemessen berücksichtigen. Hinzu kommt, dass wir bisher nur wenig über das Erleben der Pflegekinder selber wissen und kaum Kenntnisse über ihre Sicht auf die eigene Biografie haben. Wir gehen davon aus, dass es aber gerade diese Perspektive der eigentlichen „Experten und Expertinnen“ ist, die uns eine gute Möglichkeit bietet, einer Weiterentwicklung und Absicherung der Qualität im Pflegekinderwesen näherzukommen. Das Leuchtturmprojekt Pflegekinderdienst Vor diesem Hintergrund hat die Forschungsgruppe Pflegekinder an der Universität Siegen - unter Leitung von Prof. Klaus Wolf - im Juli 2009 das „Leuchtturmprojekt Pflegekinderdienst“ gestartet. Das zweijährige „Modellprojekt zur Steigerung der Wirksamkeit der Pflegekinderdienste“ ist eine Kooperation zwischen der Forschungsgruppe Pflegekinder der Universität Siegen, dem Landschaftsverband Rheinland (LVR), dem Jugendamt und den Pflegekinderdiensten der Stadt Düsseldorf sowie den Pflegekinderdiensuj 6 (2010) 259 pflegekinder ten der drei weiteren Modellregionen Bornheim, Kamp-Lintfort und Duisburg. Basierend auf narrativ-biografischen Interviews (vgl. Glinka 2003) mit ehemaligen Pflegekindern soll untersucht werden, wie es professionellen Pflegekinderdiensten bereits gelingt, Pflegekinder, deren Pflegefamilien sowie die Herkunftsfamilien gut zu unterstützen. Zudem soll herausgearbeitet werden, welche Qualitätsstandards für die weitere Leistungssteigerung und Qualifizierung der Pflegekinderdienste noch sichergestellt werden müssen. Gemeinsam mit ambitionierten PraktikerInnen aus den jeweiligen Standorten wird hierzu das gewonnene Material ausgewertet. Auf diese Weise werden Erfahrungen und Wissensbestände aus der Praxis sowie die Perspektive der (ehemaligen) Pflegekinder umfassend berücksichtigt und in die Erarbeitung möglicher Standards eingeflochten. Biografische Interviews Der gewählte Zugang über die biografischen Interviews bietet dabei einen breiten Einblick in Lebens- und Lernfelder der ehemaligen Pflegekinder, in denen sie - häufig nach einem schwierigen Start ins Leben und unter schwierigen Bedingungen - Probleme bewältigen und Entwicklungsaufgaben lösen müssen (vgl. Wolf/ Reimer 2008). Die gewählte Perspektive bietet also einen Einblick in Sozialisationsverläufe, die GesprächspartnerInnen bieten aber auch Kenntnisse über ihre Erfahrung mit Herkunfts- und Pflegefamilie, mit Sozialen Diensten und weiteren Institutionen und somit die Möglichkeit, im weiteren Verlauf des Projektes zu betrachten, welche Prozesse in diesem Kontext misslungen oder aber auch gelungen sind. Der Kontakt zu den GesprächspartnerInnen wird mit Hilfe der KooperationspartnerInnen in den jeweiligen Modellregionen hergestellt, die mit einer vorbereiteten, kurzen Information über das Projekt an ihnen bekannte, ehemalige Pflegekinder herantreten. In einer ersten Kontaktaufnahme werden mögliche Fragen geklärt und ein Ort vereinbart, an dem das Gespräch in Ruhe und einer für den/ die GesprächspartnerIn passenden und angenehmen Atmosphäre stattfinden kann. Häufig ist das die Wohnung der GesprächspartnerInnen, es haben sich aber auch öffentliche Räume, wie etwa Cafés, als gute Orte bewährt. Basierend auf einer allgemeinen Erzählaufforderung berichten die InterviewpartnerInnen zunächst ihre individuelle Lebensgeschichte. Der/ die InterviewerIn lässt sich dabei auf die Erzählung seines/ ihres Gegenübers ein, folgt der individuellen Rekonstruktionsleistung und versucht, die Dramaturgie des Erzählten nachzuvollziehen und zu verstehen. Durch weitere Erzählanregungen und immanente Fragen wird versucht, die InterviewpartnerInnen zu weiteren Narrationen zu ermutigen. In einem zweiten - stärker fokussierten - Teil des Interviews werden die GesprächspartnerInnen gebeten, auf einem Zeitstrahl - von der Geburt bis heute - die für sie wichtigen Stationen ihres Lebens einzuzeichnen. Dieses Vorgehen löst zum einen nochmals weitere Erzählungen aus, eröffnet aber auch einen Zugang zu expliziten Deutungen und Erklärungen über die eigene Biografie. An dieser Stelle wird erneut dem subjektiven Relevanzsystem der GesprächspartnerInnen und der Entscheidung, welche Station und Situationen ihres Lebens sie als bedeutsam einstufen, gefolgt. Durch dieses Vorgehen wird nicht nur die Zeit in der Pflegefamilie berücksichtigt, sondern der Blick auf die Gesamtbiografie und die Einbettung der Zeit als Pflegekind in die gesamte Lebensgeschichte gerichtet. 260 uj 6 (2010) pflegekinder Aufbereitung und Auswertung Die Aufbereitung des transkribierten Interviewmaterials erfolgt vor dem Hintergrund der „Belastungs-Ressourcen-Balance“, also der Betrachtung der Relation von Belastungen und Ressourcen in der individuellen Biografie (vgl. Wolf 2007). Zugrunde gelegt wird die Annahme, dass Pflegekinder, genau wie andere Kinder auch, Entwicklungsaufgaben zu lösen haben (vgl. exemplarisch Rothgang 2009). Hinzu kommen aber zusätzliche Anforderungen, die ein besonderes, ein „pflegekinderspezifisches“ Profil haben. So müssen sich Pflegekinder beispielsweise mit der Ablösung von ihren Eltern zu einem Zeitpunkt und in einer Komplexität auseinandersetzen, die sich von der Situation, in der sich Gleichaltrige befinden, klar unterscheidet. Zu diesen Schwierigkeiten kommen häufig noch Erfahrungen mit grundlegenden Problemen hinzu, wie desolate Familienverhältnisse, Armuts- oder Vernachlässigungserfahrungen oder das Zusammenleben mit einem psychisch- oder suchtkranken Elternteil. Allerdings sind nicht nur die beschriebenen vielfältigen Belastungen in den Blick zu nehmen, sondern auch das Fehlen von Ressourcen, die die Bewältigung eben dieser Schwierigkeiten erleichtert hätten. Es stellt sich die Frage, welche Ressourcen dies gewesen wären und - bezieht man die professionelle soziale Arbeit mit ein - welche über die Sozialen Dienste zugänglich gemacht oder auch vorenthalten werden (vgl. Wolf 2008). Die Sozialen Dienste tauchen zudem im Erleben der Pflegekinder nicht selten als Einflussgrößen in der individuellen Biografie auf und können diese mitunter stark beeinflussen, also gegebenenfalls eine weitere Belastung darstellen. Der daraus resultierenden Verantwortung für die Entwicklung und die Entwicklungschancen müssen sich die beteiligten Sozialen Dienste bewusst sein (vgl. Siegener Erklärung). Gemeinsam mit ambitionierten PraktikerInnen aus den jeweiligen Standorten wird das so aufbereitete Material in einer einjährigen Werkstattphase, die Anfang 2010 begonnen hat, bearbeitet und ausgewertet. Dabei liefern die Interviews vor allem die Themen, die es zu diskutieren gilt, und bilden die Eckpunkte für die zu erarbeitenden Standards. Unter weiterer Berücksichtigung des fachlichen Knowhows der Fachkräfte sowie der einschlägigen Fachpublikationen und Forschungsergebnisse werden die Standards dann letztlich in einer Koproduktion mit den beteiligten Pflegekinderdiensten entwickelt und stützen sich auf eine breite und abgesicherte Basis. Relevante Themenfelder für das Pflegekinderwesen Nach bisheriger Betrachtung des Materials kristallisieren sich einige zentrale Themenfelder deutlich heraus. Diese sollen im Folgenden beispielhaft vorgestellt werden und - ergänzt um entsprechende Zitate aus den Interviews - weiter veranschaulicht werden. Zusätzlich werden mögliche Fragen formuliert, die durch das Material aufgeworfen werden und die es mit Hilfe der zu erarbeitenden Standards zu beantworten gilt. Der Umgang mit der Herkunftsfamilie Neben der Bedeutung, die die Herkunftsfamilie im individuellen Erleben hat, geht es hier vor allem um die Erfahrungen mit den stattgefundenen Besuchskontakten respektive dem Ausbleiben oder auch Ablehuj 6 (2010) 261 pflegekinder nen derselben. Deutlich werden sehr unterschiedliche Erfahrungen, vor allem was die Gestaltung sowie die entsprechende Vor- und Nachbereitung der Kontakte anbelangt. Fachliche Standards müssten Antworten geben auf Fragen wie: Was muss der Soziale Dienst leisten, damit Umgangskontakte weder für das Pflegekind selber noch für die Herkunfts- und Pflegefamilie schwierig oder sogar dramatisch verlaufen? Partizipation der Pflegekinder Die InterviewpartnerInnen berichten nachdrücklich über die Bedeutung, die es für sie hat, an Prozessen, wie etwa der konkreten Hilfeplanung, beteiligt zu sein, bzw. über das problematische Erleben, nicht zu wissen, was mit einem selber passiert. Die Bandbreite liegt hierbei zwischen der deutlichen Wahrnehmung, beteiligt und ernst genommen zu werden: „… ich hatte ja auch so ne Vorstellung von Behörde und Amt, und da is ja auch alles grau in grau und alles spießig, und dann rannte da diese Frau barfuß rum, und dann hab ich gedacht, toll so […] und die sprach auch ganz normal mit mir, also die sprach überhaupt nicht so Kind und Erwachsener, sondern die sprach, die sprach recht deutlich, also ja dass das letztendlich n Versuch wär und vieles auch davon abhinge, ob, ob da ne Basis entstehen würde“. Und der Erfahrung, dass die Klärung über das eigene Leben und die weiterführende Perspektive von Außenstehenden bestimmt wird: „… dann wurden dann doch hinter mein - letztendlich hinter meinem Rücken Absprachen getroffen, mit den Erziehern, und da sollt ich dann das machen und dann in diesen Verein gehen und das machen, und obwohl ich das gar nich wollte. Das war dann auch so, dass ich dann raus musste in diesem Zeitraum. Normalerweise soll ich ja also eigentlich immer anwesend sein, aber da wurd ich oft, teilweise bis zu eine Stunde, rausgeschickt und so, und da haben die miteinander gesprochen. Ich denk mal, die haben auch meine Entwicklung besprochen, das is ja ganz ok, aber hab das natürlich auch belauscht viele Sachen […] Ja, und da hab ich sie dann irgendwann mal drauf, bin ich dann reingeplatzt, hab ich gesagt, ich weiß, man soll nicht lauschen, aber was ich hier höre und so, das find ich überhaupt nich gut und so, dann sagen Sie mir das doch ins Gesicht, ich meine, ich bin n Kind noch, aber ich bin nich blöd“. Deutlich zeigt sich, dass es für die interviewten Jugendlichen nicht nur darum geht, gefragt zu werden, sondern auch in ihrer individuellen Entscheidung ernst genommen zu werden. „Ja klar, ich wurde andauernd gefragt. Wirklich von jedem. Ich hab natürlich auch soviel Leute vom Jugendamt kennengelernt, weil immer wieder jemand Neues für mich zuständig war. Und jeder hat mich dieselbe Frage gefragt: ‚Ja, wie sieht’s denn mit Besuchen und deiner Mum aus? ‘ Hab ich immer dasselbe gesagt: ‚Nein! Auf gar keinen Fall.‘ Ich meine, wenn’s eine liebe, harmlose Frau gewesen wäre, hätte ich das natürlich im Leben nie gesagt. Da hätt ich auch keinen Grund für gehabt. Aber ich hatte halt schon meine Gründe so. Wie ich heute auch noch habe.“ Fachliche Standards hätten hier Fragen zu klären wie: Wie können Soziale Dienste gewährleisten, dass Pflegekinder tatsächlich und angemessen beteiligt werden? Beziehungsabbrüche und Diskontinuitätserfahrungen Hier berichten die GesprächspartnerInnen nicht nur von Brüchen im familiären Umfeld, häufigen örtlichen Wechseln und un- 262 uj 6 (2010) pflegekinder günstigen Bindungserfahrungen, sondern auch von den Beziehungsabbrüchen seitens der Professionellen, etwa durch einen Wechsel der Zuständigkeit, was nicht selten am Höhepunkt einer Krise passiert und als große Belastung erlebt wird. Es wird aber ebenso die Bedeutung, die kontinuierliche Zuständigkeiten und Verlässlichkeiten gehabt haben, herausgestellt. Hinzu kommen in diesem Kontext Unsicherheitserfahrungen über die weitere individuelle Perspektive. Wie können es die Sozialen Dienste vermeiden, dass sie Abbrüche - sowohl in Form von örtlichen Wechseln, aber auch Zuständigkeitswechseln - und Diskontinuitätserfahrungen produzieren? Der Wechsel in eine andere Familie Dieser Wechsel entspricht häufig einem Übergang in eine andersartige Familienkultur. Das Ankommen in der Pflegefamilie ist hierbei oft ein entscheidender Aspekt in den Erinnerungen der ehemaligen Pflegekinder. „Kannst du dich noch erinnern, wie das dann war, in die Familie zu kommen? Das war total super so. Das war n großes Haus so. Die hatten sogar n Hund. Ich hab Tiere geliebt, schon immer. Ich liebe immer noch Tiere. Das war alles so aufregend, so toll. Und ich war halt froh, dass ich halt da weit weg war. […] Und da war halt für mich erstmal Sicherheit und auch Geborgenheit. Und unten wohnt unsere Oma. Und da hat unser Opa auch da gewohnt, der lebt inzwischen nicht mehr. Bin ich so runter gerannt und meine so: ‚Ja, darf ich Opa zu dir sagen? ‘ So, das war sofort für mich klar, dass das meine Familie wird.“ Wie kann der Übergang in eine neue Familie durch den Sozialen Dienst angemessen begleitet werden, um ein gutes Ankommen - für alle Beteiligten - zu sichern? Schwierige Normalitätsbalance Dies umfasst die vielfältigen Erfahrungen der Pflegekinder, sich als Kind, das „irgendwie anders“ ist, zu erleben und erklären zu müssen. Erfahrungen, nicht das biologische Kind einer Familie zu sein, gehören genauso zu diesem Aspekt wie Stigmatisierungserfahrungen, etwa in der Schule. Was sind Lebensbereiche, in denen sich ein Pflegekind möglicherweise als anders wahrnehmen kann, und wie kann entsprechenden Erfahrungen vorgebeugt werden? Die eigene Biografie Viele ehemalige Pflegekinder berichten über biografische Lücken und Fragen über die eigene Herkunft, einige lehnen aber auch eine zu intensive Betrachtung der eigenen Herkunftsgeschichte deutlich ab. Wird sich mit der eigenen Biografie auseinandergesetzt, geht es nicht selten auch um Themen wie erbliche Belastung, etwa bei psychischen Erkrankungen der Eltern. „Ja vor allem, weil ich dachte, toll, jetzt hat der so ne Erkrankung, ist das genetisch? Krieg ich das auch? Und hab ich das vielleicht schon? Und kann ich das weitergeben? Wo Frau Meier (Mitarbeiterin PKD, Anm. J. P) sich aber direkt, die hatte mir das erzählt und die hatte mir direkt gesagt: ‚Ja also, ich hab mich auch schlau gemacht, dass das auch ne Erziehungssache ist und dass das nur ein Prozent der Menschen bekommen.‘ […] Da bin ich auch ganz froh, dass Frau Meier direkt so mitgedacht hat und gesagt hat: ‚Also, ich kann Sie beruhigen, es ist nicht, dass Sie das unbedingt haben müssten.‘ Ja, da war ich ganz froh.“ Wie findet sich das individuelle entsprechende Maß für Biografiearbeit? Wie kann der Soziale Dienst angemessen bei der Klärung offener Fragen behilflich sein? uj 6 (2010) 263 pflegekinder Verwandtenpflege Dies ist ein aktuelles Thema, das in der Praxis diskutiert wird und häufiger in die „Angebotspalette“ aufgenommen werden soll, bisher aber nur unzureichend betrachtet worden ist: Wie kann Verwandtenpflege für alle Beteiligten gut gestaltet werden? Die Bedeutung von MitarbeiterInnen Sozialer Dienste und anderer Institutionen Fachkräfte haben eine Funktion als „Guide“ im Leben der Pflegekinder, vor allem bei Veränderungen. „Dass man wie so’n Begleiter hat, dass man nicht das Gefühl hat, das is irgendwie ne Institution, n Amt oder irgendwie so, sondern für mich war es immer so das Gefühl, da is halt jemand und der guckt so mit da drauf. Wie so’n ,ja was weiß ich, wie so’n Lehrer oder irgendwie so was. Jemand, der mit dir geht und auf dich aufpasst quasi.“ Wie kann der/ die MitarbeiterIn des Sozialen Dienstes diese Rolle adäquat für sich und das Pflegekind ausfüllen? Die Bedeutung von „Normalität“ Viele GesprächspartnerInnen berichten über die hilfreiche und unterstützende Erfahrung, in einem als normal erlebten Alltag aufzuwachsen und sich in einem als normal erlebten Umfeld zu bewegen. Wie können solche Erfahrungen zugänglich gemacht werden? Resümee Exemplarisch sind dies einige der Themen und Fragen, die sich aus den geführten Interviews herauskristallisieren. Ziel des Projektes ist es, auf einer breiten Basis aus empirischem Material, fachlichem und theoretischem Know-how Standards und Handlungsempfehlungen zu erarbeiten, die die aufgeworfenen Fragen möglichst beantworten und die Praxis des Pflegekinderwesens für alle Beteiligten weiterentwickeln. Durch die Kooperation mit erfahrenen und engagierten Fachkräften und unter Berücksichtigung der Perspektive der (ehemaligen) Pflegekinder erhoffen wir uns außerdem eine breite Akzeptanz der Ergebnisse in der Praxis und damit die Anregung innovativer Entwicklungen. Damit die Ergebnisse unserer Arbeit über das Rheinland hinaus Beachtung finden und in der Weiterentwicklung des Pflegekinderwesens in Deutschland berücksichtigt werden, planen wir für Herbst 2011 eine bundesweite Tagung an der Universität Siegen. Literatur Gassmann, Y., 2010: Pflegeeltern und ihre Pflegekinder. Empirische Analysen von Entwicklungsverläufen und Ressourcen im Beziehungsgeflecht. Münster Gehres, W./ Hildenbrand, B., 2008: Identitätsbildung und Lebensverläufe bei Pflegekindern. Wiesbaden Glinka, H.-J., 2003: Das narrative Interview. Eine Einführung für Sozialpädagogen. Weinheim Neues Manifest zur Pflegekinderhilfe. Eine Initiative der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) und des Kompetenz- Zentrums Pflegekinder e.V. zur qualitativen Weiterentwicklung der Pflegekinderhilfe (2010). www.kompetenzzentrum-pflegekinder.de/ Neues Manifest_Gesamt_11 03 2010.pdf, 18. 3. 2010, 48 Seiten Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.), 2009: Rahmenkonzeption „Pflegekinderdienst“. www. lvr.de/ jugend/ fachthemen/ erziehungshilfe/ rahmenkonzeptionpflegekinder230609.pdf, 12. 3. 2010, 34 Seiten Reimer, D., 2008: Pflegekinder in verschiedenen Familienkulturen. Belastungen und Entwicklungschancen im Übergang. Siegen Rothgang, G.-W., 2009: Entwicklungspsychologie. Stuttgart Sauer, S., 2008: Die Zusammenarbeit von Pflegefamilie und Herkunftsfamilie in dauerhaften Pflegeverhältnissen. Widersprüche und Bewältigungsstrategien doppelter Elternschaft. Leverkusen/ Opladen 264 uj 6 (2010) pflegekinder Siegener Erklärung zur Kontinuität in der Biografie von Pflegekindern. www.uni-siegen.de/ pflegekinder-forschung/ siegener_erklaerung/ ? lang=de, 12.3.2010, 2 Seiten Wolf, K./ Reimer, D., 2008: Belastungen und Ressourcen im biografischen Verlauf. Zur Entwicklung von Pflegekindern. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 6. Jg., H. 3, S. 226 - 257 Wolf, K., 2008: Forschung zum guten Aufwachsen von Pflegekindern und Praxis. Was hat die Praxis von der erziehungswissenschaftlichen Forschung? In: Siegen sozial - Analysen - Berichte - Kontroversen, 13. Jg., H. 1, S. 27 - 33 Wolf, K., 2007: Die Belastungs-Ressourcen-Balance. In: Kruse, E./ Tegeler, E. (Hrsg): Weibliche und männliche Entwürfe des Sozialen. Opladen/ Farmington Hill, S. 281 - 292 Die Autorin Judith Pierlings Universität Siegen Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) Adolf-Reichwein-Straße 2 57068 Siegen Tel.: 02 71 - 7 40 34 36 judith.pierlings@uni-siegen.de (Handlungskompetenzen in der Sozialen Arbeit; 3) 2010. 151 Seiten. 8 Abb. 1 Tab. (978-3-497-02125-3) kt Dieser Band sensibilisiert für die vielfältigen Probleme, die Gegenstand der Fokussierten Beratung sein können. Entsprechend variieren die Angebotsformen von der Einmalberatung bis zur Betreuung von „Dauerklienten“. Aus meist multifaktoriell bedingten Problemlagen resultiert eine Vernetzungsnotwendigkeit mit anderen Institutionen. Praxisbeispiele veranschaulichen diese Zusammenhänge, gehen auf die Berührungspunkte zu anderen Aufgabenfelden der Sozialen Arbeit ein und greifen aktuelle Entwicklungen auf. a www.reinhardt-verlag.de
