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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2010.art29d
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Die Sicht der Pflegeeltern
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Karsten de Ponte
Meine Frau und ich haben zwei Pflegekinder. Unser Sohn kam mit fünf Jahren zu uns und ist inzwischen zwölf. Als er acht war, kam noch ein anderthalbjähriges Mädchen dazu, sie ist inzwischen fünf. Eigene Kinder haben wir nicht. Aus ganz verschiedenen Gründen war es mit beiden nicht immer leicht und doch waren wir immer sehr glücklich, uns für diese Kinder entschieden zu haben.
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uj 6 (2010) 275 Unsere Jugend, 62. Jg., S. 275 -278 (2010) DOI 10.2378/ uj2010.art29d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die Sicht der Pflegeeltern Karsten de Ponte Meine Frau und ich haben zwei Pflegekinder. Unser Sohn kam mit fünf Jahren zu uns und ist inzwischen zwölf. Als er acht war, kam noch ein anderthalbjähriges Mädchen dazu, sie ist inzwischen fünf. Eigene Kinder haben wir nicht. Aus ganz verschiedenen Gründen war es mit beiden nicht immer leicht und doch waren wir immer sehr glücklich, uns für diese Kinder entschieden zu haben. pflegekinder Ich persönlich empfinde das Leben mit Pflegekindern als sinnvoller, interessanter und aufregender, wenn ich uns mit anderen Familien vergleiche. Eine solche einmalige Möglichkeit, Intimes, Schönes, Aufregendes zu erleben, dabei etwas für sich selber und für andere zu tun und dann auch noch finanziell kompensiert zu werden, gibt es wohl kaum sonst auf der Welt! Trotz dieser rundum positiven Einstellung fällt es mir dann leider doch nicht leicht, anderen Menschen die Aufnahme von Pflegekindern zu empfehlen, da immer wieder die Gefahr besteht, dass sie in eine Situation der Überforderung geraten könnten. Diese mögliche Überforderung hat einerseits mit Dingen zu tun, die bei Pflegefamilien nun einmal aus rein sachlichen Gründen nicht zu vermeiden sind. Die Kinder kommen aus einer schwierigen Situation und sind durch diese mitgeprägt, und auch der Umgang mit den leiblichen Eltern wird selbstverständlich nicht immer problemlos sein. Andererseits hat die Überforderung aber auch mit einer allgemeinen Unsicherheit und fehlender Information zu tun, die eigentlich nicht sein müsste. Erwartungen Die ausgesprochen positive Einschätzung unserer eigenen Position hängt wahrscheinlich zu einem großen Teil damit zusammen, dass wir von vornherein nicht von falschen Erwartungen ausgingen. Zwar spielen die Erwartungen bei allen Eltern eine wichtige Rolle, wenn sie Kinder bekommen, aber bei Pflegeeltern dürfte dies noch wesentlich wichtiger sein als bei anderen. Für meine Frau und mich war von Anfang an klar, dass wir nicht ein Kind bekommen, das einfach unseren unerfüllten Kinderwunsch wahr werden ließ, sondern dass wir ein Kind von anderen Eltern durch Karsten de Ponte Jg. 1961; Diplom- Volkswirt, seit 8 Jahren Pflegevater 276 uj 6 (2010) pflegekinder die Höhen und Tiefen des Lebens begleiten. Wenn man dies als sinnvolle Aufgabe begreift, dann kommt man gar nicht erst in die Versuchung, das Familienleben in der Pflegefamilie immer mit einem (scheinbaren) Ideal des Familienlebens einer „normalen“ Familie zu vergleichen. Man erlebt die Komplikationen, die in der Familie und im Verhältnis zu den leiblichen Eltern auftreten, zwar einerseits als zum Teil sehr anstrengend, aber zugleich auch als eine Selbstverständlichkeit. Anforderungen an Pflegeeltern Die Anforderungen, die üblicherweise an Pflegeeltern gestellt werden, finde ich in mancher Hinsicht zu hoch, aber in anderer Hinsicht zu niedrig. Hier nur zwei Beispiele. Zu niedrige Anforderungen Unsere beiden Pflegekinder kamen beide nicht direkt aus ihren Herkunftsfamilien zu uns, sondern waren zuvor bei anderen Pflegeeltern. Meine Frau und ich waren entsetzt über die Zustände in diesen beiden Pflegefamilien, die beide schon viele Dutzende Kinder betreut hatten. Es ist hier nicht der Platz, darüber zu berichten. Was uns aber auffiel, ist die Art und Weise, wie man unseren Hinweisen auf gewisse Missstände begegnete. Immer wieder wurden wir mit folgendem Argument konfrontiert: „Seitdem das Kind nicht mehr in der Herkunftsfamilie, sondern bei der Pflegefamilie wohnt, hat sich der Gesamtzustand des Kindes deutlich verbessert. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schlimm das Kind damals aussah! “ Der Gedankenfehler, der diesem Argument zugrunde liegt, ist häufig bei der Beschäftigung mit Pflegefamilien anzutreffen. Bevor ein Pflegekind zu einer Pflegefamilie kam, ging es ihm oder ihr offensichtlich sehr schlecht. Sonst wäre das Kind ja nicht aufgefallen und schon gar nicht aus der Herkunftsfamilie herausgenommen worden. Man wird es doch als eine Selbstverständlichkeit unterstellen dürfen, dass es dem Kind in der Pflegefamilie dann besser geht. Das ist doch keine besondere Leistung! Der Maßstab darf nicht die bisherige katastrophale Lage sein. Dies ist nicht nur eine Frage der Qualität, sondern auch eine Frage des Selbstverständnisses von Pflegeeltern. Denn diese Art von fehlerhaftem Qualitätsverständnis geht oft Hand in Hand mit der Vorstellung, man habe doch „das arme Kind“ aus schlimmen Verhältnissen „errettet“ und sei deswegen doch an sich irgendwie schon moralisch gut. In solch einer Atmosphäre ist es schwierig, ein ganz normales Gespräch zu führen über die Qualitätsstandards in der Pflege. Zu hohe Anforderungen Bei unserer Tochter kam es zu einer juristischen Auseinandersetzung mit dem leiblichen Vater, und dies führte uns immer wieder an die Grenze der Überforderung. Oft dachten wir uns, dass man die gesamte Situation und vor allem, dass sie so lange anhält, eigentlich niemandem zumuten kann. Wir merkten, dass wenn wir anderen Menschen davon erzählten, dies für sie eigentlich die Konsequenz haben müsste: Nehmt bloß kein Pflegekind auf, denn das kann euch unter Umständen in eine jahrelange Zerreißprobe treiben! So wollen wir eigentlich nicht verstanden werden, denn wir sind ja nach wie vor sehr gerne Pflegeeltern und würden gerne anderen Mut machen, sich diese Option für ihr eigenes Leben auch mal näher anzuschauen. Man wird natürlich niemals ausschließen können, dass das Kind aus der Dauerpflege wieder herausgenommen wird, und uj 6 (2010) 277 pflegekinder auch nicht, dass es zuvor zu einer juristischen Auseinandersetzung kommt. Mit dieser Möglichkeit muss jede Pflegefamilie leben. In unserem Fall und bei ähnlich gelagerten Fällen haben wir allerdings mitbekommen, dass erst im Rahmen einer juristischen Auseinandersetzung klar wird, dass ganz am Anfang bei der Herausnahme und bei der Vermittlung in eine Dauerpflege vieles schief gegangen ist. Was am Anfang schief geht Es liegt in der Natur der Sache, dass Pflegeeltern ein ihnen zunächst vollkommen fremdes Kind aufnehmen. Die menschliche, emotionale Fremdheit kann abgebaut werden, indem man das Kind kennenlernt und eine Beziehung zu ihm aufbaut. Aber das Kind hat darüber hinaus auch eine eigene Geschichte und ein zweites Lebensumfeld, und beides lernt man nur bruchstückhaft kennen. Hier liegt meines Erachtens die Ursache für viele Schwierigkeiten, in die Pflegefamilien geraten. Bei unserer Tochter war es so, dass das Gesundheitsamt zwar gut und schnell gehandelt hatte, als sie im Alter von einigen Monaten vernachlässigt wurde. Nach der Inobhutnahme wurde aber nicht annähernd genug unternommen, um zu klären, wie ihr Lebensumfeld genau aussieht und welche Möglichkeiten es für sie gibt. Dieses Unwissen kam dann erst Jahre später zum Vorschein, als vor Gericht geklärt werden sollte, ob sie in der biologischen Familie des Vaters leben könnte. Obwohl ein psychologisches Gutachten über den Vater erstellt wurde, hat es auch nach fünf Jahren nicht einmal den Versuch gegeben, das Lebensumfeld des Vaters auch nur ansatzweise zu erforschen. Solche Unwissenheit führt einerseits zu unfundierten Unterstellungen, Gerüchten und Vermutungen und zu Konflikten mit den leiblichen Eltern. Es ist aber leider so: Wo keine Fakten vorliegen, ist man gezwungen, Vermutungen anzustellen. Andererseits führt eine solche Situation dazu, dass sowohl das Jugendamt als auch das Gericht abstrakte Entscheidungen treffen, die mit der möglichen zukünftigen Lebenswirklichkeit des Kindes in der leiblichen Familie nur sehr wenig zu tun haben. Bei unserem Sohn war es dagegen so, dass das Kind bereits in der zweiten Pflegefamilie lebte, ohne dass jemals ein ernsthafter Versuch unternommen wurde, herauszufinden, wer denn sein leiblicher Vater sei. Nur auf unsere Initiative hin wurde er gefunden. In diesem Fall führte dies alles zu keinen größeren Problemen, aber eine Unsicherheit und Unklarheit bestand immer, insbesondere bei unserem Sohn. Immer wieder wurden wir als Pflegeeltern in die Rolle gedrängt, dass wir recherchieren, aufklären und vermitteln mussten, obwohl das nicht unsere Aufgabe ist. Bei unserer Tochter belastete dies dann auch das Verhältnis zur biologischen Familie. Wir hatten zuvor ein sehr positives Verhältnis zu ihnen aufgebaut, aber dies wurde nun durch die Rolle, in die wir leider gedrängt wurden, zunichte gemacht. Es ist ein Fehler, Kinder in Dauerpflege zu geben, ohne dass zuvor der psychosoziale Zustand des Kindes, seine Lebensumstände und sein Umfeld umfassend analysiert und dokumentiert wurden. Ein umfassendes Gutachten müsste erstellt werden über alle relevanten Aspekte wie den Gesundheitszustand, die Erziehungsfähigkeit der Eltern, die Ressourcen anderer Verwandter und Personen im Umfeld und noch vieles andere mehr. Der Umfang der notwendigen Recherchen würde von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein, aber es sollten auf jeden Fall viele, viele Gespräche geführt werden, und zwar auch „vor Ort“ bei den Menschen, die mit dem Kind im weitesten Sinne zu tun haben. 278 uj 6 (2010) pflegekinder Ein solches umfassendes Gutachten wäre natürlich sehr teuer, aber diese einmalige Investition würde sich auf die Dauer mehr als bezahlt machen. Das beginnt damit, dass das Jugendamt und das Familiengericht klarere und bessere Entscheidungen hinsichtlich der Notwendigkeit einer dauerhaften Unterbringung treffen könnten. In gewisser Hinsicht ist diese Entscheidung nämlich viel schwieriger als die ursprüngliche Entscheidung, das Kind in Obhut zu nehmen. Es gibt vergleichsweise objektive, direkt beobachtbare Kriterien dafür, ob das Wohl eines Kindes in seiner Familie akut gefährdet ist. Dagegen ist die Entscheidung für oder gegen Dauerpflege immer eine, die zukünftige mögliche Entwicklungen prognostizieren und deshalb viel genauer die vorliegenden Ressourcen analysieren muss. Gerade weil es hier nie ein 100 % sicheres „Ja“ oder „Nein“ geben kann, muss besonders tief gegraben und vor allem für alle transparent dargelegt werden, wieso man sich letztlich für (oder gegen) die Dauerpflege entschieden hat. Wenn ein solches umfassendes Gutachten vorläge, könnte dann auch die Vermittlung einer Pflegefamilie viel bedarfs- und sachgerechter durchgeführt werden. Welche Familie kommt in Frage? Welche Unterstützung braucht sie? Wie wahrscheinlich ist es, dass das Kind wieder zur leiblichen Familie zurückkehrt? Können die Pflegeeltern mit diesem Ausmaß an Unsicherheit leben? All dies kann in der heutigen Praxis anhand der notgedrungen lückenhaften Aktenlage der Jugendämter nicht annähernd zufriedenstellend geklärt werden. Heute erahnt man nur die Probleme und lebt in einer permanenten Unsicherheit, und diese Unsicherheit kann dann nur durch Vermutungen, Vorurteile oder aber durch eigene Recherchen ersetzt werden. Dies ist kein guter Zustand, weder für die Pflegefamilie noch für die leiblichen Eltern. Am allerschlimmsten wirkt es sich allerdings auf die Kinder selbst aus. Wahrscheinlich wäre es aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht möglich, den potenziellen Pflegeeltern den gesamten Inhalt des umfassenden Gutachtens mitzuteilen, aber es müsste eine Art anonymisierte Fassung geben, die deutlich macht, worauf man sich einlässt. Potenzielle Probleme, die man von vornherein kennt, sind später für Pflegeeltern leichter zu bewältigen. Eine verständliche, nachvollziehbare Unsicherheit ist etwas ganz anderes als die Angst vor dem Unbekannten, die heute weitestgehend vorliegt. Letztlich wäre es auch für die Pflegekinder selbst sehr gut, wenn sie - spätestens beim Erreichen der Volljährigkeit - selber nachlesen könnten, was im Gutachten steht und was die offiziellen Gründe dafür waren, dass sie in eine Dauerpflegefamilie kamen. Der Autor Karsten de Ponte Lausitzer Straße 6 10999 Berlin kgdeponte@gmx.de
