unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2010
627+8
Ambulante Krisenintervention in Familien
71
2010
Randi Speer
Siegfried Gröninger
Nach annähernd zehn Jahren ambulanter Kriseninterventionshilfe in insgesamt 490 Familien kann eine positive Bilanz gezogen werden. Besonders hervorzuheben ist, dass die familiäre Situation oftmals stabilisiert und damit außerfamiliäre Unterbringung von Kindern vermieden werden konnte.
4_062_2010_7+8_0301
uj 7 + 8 (2010) 301 Unsere Jugend, 62. Jg., S. 301 -310 (2010) DOI 10.2378/ uj2010.art32d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Ambulante Krisenintervention in Familien Randi Speer/ Siegfried Gröninger Nach annähernd zehn Jahren ambulanter Kriseninterventionshilfe in insgesamt 490 Familien kann eine positive Bilanz gezogen werden. Besonders hervorzuheben ist, dass die familiäre Situation oftmals stabilisiert und damit außerfamiliäre Unterbringung von Kindern vermieden werden konnte. ambulante erziehungshilfen Die Diakonische Jugendhilfe Region Heilbronn e.V. ist eine Jugendhilfeeinrichtung mit Standorten in Stadt und Landkreis Heilbronn (Baden-Württemberg) sowie in den angrenzenden Landkreisen. Derzeit arbeiten über 500 MitarbeiterInnen in differenzierten stationären, teilstationären und ambulanten Settings. Seit den neunziger Jahren liegt ein Schwerpunkt der „Diakonischen Jugendhilfe Region Heilbronn e.V.“ auf einzelfallbezogenen, ambulanten Hilfen. Dies sind u. a. neben Erziehungsbeistandschaft und Betreutem Jugendwohnen insbesondere die ambulanten Angebote für Familien, die u. a. das Kriseninterventions-Teams (KINT) durchführt. Die Ausgangssituation: Entstehung des Kriseninterventions-Teams Im März 1999 legte eine Jugend-Enquete- Kommission des Landtages Baden-Württemberg einen Bericht vor, in welchem Empfehlungen zur zukünftigen Gestaltung der Jugendhilfestruktur ausgesprochen wurden. Das Sozialministerium entschied daraufhin, diverse Projekte mit neuartigen Ansätzen finanziell zu fördern. Dazu gehörten neben Projekten zur Drogenprävention oder zur Mädchenarbeit auch die Projekte „Integriertes Konzept Wohnen und Arbeiten“ sowie „Sozialisations- und Erziehungshilfen für junge Menschen in extremen individuellen und sozialen Lebenslagen“ dazu. Zu jenem Zeitpunkt verfügte die Diakonische Jugendhilfe in diesem Bereich lediglich über Notfamilien, die in der Lage waren, kurzfristig Säuglinge und kleine Kinder aufzunehmen sowie über eine Inobhutnahmegruppe für ältere Kinder und Jugendliche (Bereitschaftspflege und Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII). Randi Speer Jg. 1963; Dipl.-Psychologin und Leiterin des Fachdienstes Siegfried Gröninger Jg. 1961; Dipl. Sozialpädagoge, Systemischer Familientherapeut und Berater (SG) 302 uj 7 + 8 (2010) ambulante erziehungshilfen Die Möglichkeit der ambulanten Krisenintervention bei Kindern und Jugendlichen war in der regionalen Jugendhilfelandschaft unzureichend und sollte in den folgenden Jahren systematisch aufgebaut werden. Durch die Ausschreibung des Sozialministeriums Baden-Württemberg erschlossen sich die Möglichkeiten für eine Zielgruppe, die weitgehend identisch mit den Kindern und jungen Menschen war, die in der stationären Krisenintervention untergebracht werden. In einer Modellphase sollte ein ambulanter Dienst aufgebaut werden, der die Begrenzungen des stationären Angebots, vor allem die traumatische Trennung von Bindungspersonen, überwinden hilft, und gleichzeitig ein präventives Arbeiten ermöglicht. Zielsetzung des neuen Projekts war der Aufbau eines interdisziplinären Teams zur ambulanten Krisenintervention in der Region Heilbronn. Damit sollte für Kinder und Jugendliche zwischen 0 - 18 Jahren und deren Familien in sich krisenhaft zuspitzenden individuellen und sozialen Problemlagen in enger Kooperation möglichst zeitnah ein professionelles Krisenmanagement eingeleitet werden. Am 6. 10. 2000 erhielt die Diakonische Jugendhilfe Region Heilbronn e.V. (damals noch Kleingartacher e.V.) die Bewilligung des Regierungspräsidiums Stuttgart, am Projekt „Sozialisations- und Erziehungshilfen für junge Menschen in extremen individuellen und sozialen Lebenslagen“ teilzunehmen. Qualifizierung im Bereich „FamilienAktivierungsManagement“ (FAM) und „Clearing“ Bereits im Mai 2000 begannen zwei Mitarbeiterinnen eine Ausbildung zur FAM- Arbeiterin, die die Durchführung von „Clearing“ mit einschließt. FamilienAktivierungsManagement (FAM) ist ein intensives, sechswöchiges Angebot für stark belastete Familien, mit dem Ziel der Vernetzung der Familie in unterstützende Strukturen zur Verhinderung einer Fremdplatzierung der Kinder, sofern dies dem Wohl der Kinder dient. Durch intensive Trainings- und Kooperationshilfen mit dem „families first program of Michigan“ und dem „Behavioral Sciences Institute/ Homebuilders“ Seattle wurden die MitarbeiterInnen der Stiftung Hospital St.Wendel autorisiert, dieses Modell in Deutschland zu verbreiten und an die Besonderheiten des europäischen Kulturrahmens zu adaptieren. In enger Abstimmung mit den amerikanischen KollegInnen hat die Stiftung Hospital St. Wendel ein Ausbildungs- und Qualitätssicherungskonzept für das „families first program“ in Deutschland entwickelt. Neben der arbeitsbegleitenden Ausbildung durch intensive Schulungen - 39 Tage in zwei Jahren - wurden die AusbildungsteilnehmerInnen in einer wöchentlich stattfindenden Beratung durch qualifizierte und autorisierte FAM-BeraterInnen in ihrer inhaltlichen Arbeit begleitet. Diese Ausbildung qualifizierte die MitarbeiterInnen auch zur Durchführung von sogenannten „Clearings“. Das „Clearing“ stellt ein Angebot zur diagnostischen Abklärung der Situation in Familien mit Hilfebedarf dar und bedient sich derselben diagnostischen Techniken wie das Familienaktivierungsmanagement. N achdem das Projekt „Sozialisations- und Erziehungshilfen für junge Menschen in extremen individuellen und sozialen Lebenslagen“ mit den neuen ambulanten Kriseninterventionsmethoden in vier Jugendämtern der Region Heilbronn- Franken über den Vorstand bekannt gemacht worden war, konnte mit den ersten Einsätzen begonnen werden. Die ambulanten Kriseninterventionsmethoden uj 7 + 8 (2010) 303 ambulante erziehungshilfen „FamilienAktivierungsManagement“ und „Clearing“ wurden ab Ende 2000 von mehreren Jugendämtern in Anspruch genommen. Es wurde jedoch bald deutlich, dass diese Hilfeformen den entstandenen Bedarf an aktuellen Kriseninterventionsanfragen nicht ausreichend befriedigen konnten. Oft fehlte es zudem an geeigneten Anschlusshilfen. Weiterentwicklung der ambulanten Hilfeangebote: „FamilienStabilisierungs Programm“ (FSP) und „Familienaktivierende Hilfen“ (FaH) Gemeinsam mit dem Vorstand wurde entschieden, eine zusätzliche Hilfeform, das Familienstabilisierungsprogramm (FSP) einzuführen. Im Herbst 2001 führte ein Familientherapeut und ausgebildeter FSP- Trainer zusammen mit der Projektleiterin des Kriseninterventions-Teams als Co- Trainerin die erste einjährige FSP-Schulung in Kleingartach durch. ErzieherInnen und SozialpädagogInnen verschiedener Jugendhilfeeinrichtungen und MitarbeiterInnen eines Jugendamtes nahmen an der Ausbildung teil. Einige Monate nach Beginn der Ausbildung konnte der erste Einsatz des Familienstabilisierungsprogramms FSP beginnen. Das Angebot des ambulanten Kriseninterventions-Teams wurde somit sinnvoll um ein weiteres Hilfeangebot ergänzt. Ab Anfang 2002 wurde das FamilienStabilisierungsProgramm erfolgreich in vielen Familien eingesetzt. Jedoch erwies sich diese Hilfeform für einige Familien als Anschlusshilfe im Laufe der Zeit als zu zeitintensiv. Deshalb wurde ein viertes Hilfeangebot entwickelt: die Familienaktivierende Hilfe (FaH). Sie ist eine zeitlich befristete Anschlusshilfe nach der Familienaktivierung (FAM), dem Clearing oder der Familienstabilisierung (FSP). Die Prinzipien der Familienaktivierenden Hilfe (FaH) sind die gleichen wie beim FamilienstabilisierungsProgramm, die Stundenzahl ist jedoch um die Hälfte reduziert. Personelle Rahmenbedingungen des Kriseninterventions-Teams Im Laufe der Jahre entstand ein Team von spezialisierten MitarbeiterInnen, das ausschließlich im Bereich der ambulanten Krisenintervention tätig ist. Dieses Kriseninterventions-Team (KINT) besteht derzeit aus neun MitarbeiterInnen: fünf SozialpädagogInnen, drei Erzieherinnen und einer Diplom-Psychologin. Drei der MitarbeiterInnen haben neben der Ausbildung im Bereich des FamilienAktivierungsManagements (FAM) und des FamilienStabilisierungsProgramms (FSP) eine Zusatzqualifikation als FamilientherapeutIn. Zwei Kolleginnen arbeiten mit einem Arbeitsumfang von 75 %, die anderen sechs MitarbeiterInnen mit einem Umfang von 100 %. Die Psychologin ist mit einem Arbeitsumfang von ca. 15 % eingeplant. Das Team wird geleitet von einem Koordinator, der als Sozialpädagoge über die Zusatzqualifikation des Familientherapeuten verfügt. Durch die betriebliche Vereinbarung eines Jahresarbeitszeit-Modells wurde die Flexibilität und Bedarfsorientierung beim Einsatz der MitarbeiterInnen verbessert. Somit kann bei hoher Nachfrage mehr gearbeitet, bei geringer Nachfrage können Überzeiten abgebaut werden. Arbeitsprinzipien und Methoden des Kriseninterventions-Teams Zu den zentralen Arbeitsprinzipien gehören Ressourcen- und Stärkeorientierung, das strukturierte und zielgerichtete Arbei- 304 uj 7 + 8 (2010) ambulante erziehungshilfen ten, die Handlungsorientierung und der Netzwerkgedanke. Bei diesen Schwerpunkten wird mit Methoden aus verschiedenen Therapierichtungen gearbeitet. Dazu gehören: • allgemeine Methoden (Gesprächsführung, Beobachtung etc.), • Eingangsdiagnostik (Genogramm, Zeitleiste, Soziogramm, Skulpturarbeit etc.), • Lösungsorientierung (Wunderfrage, Zielprotokoll, Methoden der Familientherapie), • Verhaltens-, Einstellungs- und Kommunikationsgestaltung (Arbeit mit der Kamera, „rational emotives Training“ etc.), • materielle Sicherung (Unterstützung bei Anträgen, Vermittlung zur Schuldnerberatung etc.), • Anleitung zum Elternsein (Modelllernen, Wissensvermittlung u. a. der Lerntheorien), • sozialräumliche Vernetzung (Gespräch mit Hort, Schule, Ärzten, Vereinen etc.). Alle Angebote erbringen Leistungen auf der Grundlage des § 27ff. SGB VIII. Leitlinien des Kriseninterventions-Teams Alle familienaktivierenden Hilfen sind geprägt von Wertschätzung und Respekt für die Familie und ihre einzelnen Mitglieder sowie deren Lebens- und Erziehungsstile und Ideen für Veränderungen. Des Weiteren gilt als wesentliche Grundhaltung, die Ziel- und Handlungsorientierung und eine strukturierte Ressourcenorientierung - also nicht eine Orientierung an den Defiziten der Familie. Handlungsleitend für die Klärung des Hilfebedarfs ist die jeweils individuelle Situation bzw. Problemkonstellation eines Kindes und dessen Familie (vgl. Stiftung Hospital St. Wendel 2007, 10f). Handlungsleitend ist somit, die Menschen, die Hilfe benötigen, „in den Mittelpunkt der Hilfe“ zu stellen. Es soll erreicht werden, die „Hilfen an Menschen anzupassen und nicht Menschen in Hilfen einpassen zu müssen“ (Römisch 2000, 475). Das „System“ Familie soll in seiner Ganzheit und im natürlichen Setting beobachtet und begleitet werden. Die wichtigste Leitlinie dieser Hilfen ist u. E., unnötige Bindungsabbrüche zu vermeiden. D. h. nur bei akuter Kindeswohlgefährdung oder wenn ein Jugendlicher oder dessen Eltern ausdrücklich den Wunsch äußern, nicht mehr zusammenleben zu wollen, werden Kinder in den Familien während der sozialpädagogischen Diagnostikphase und der ambulanten Kriseninterventionshilfen nicht in den Familien belassen. Die Angebote des Kriseninterventions-Teams Die Einsätze des Kriseninterventionsteams umfassen je nach Bedarf der Familien und ihrer Kinder: • Familienaktivierungsmanagement (FAM) • Clearing (diagnostische Abklärung des Hilfebedarfs) • FamilienStabilisierungsPogramm (FSP) und • Familienaktivierende Hilfen (FaH) FamilienAktivierungsManagement (FAM) FamilienAktivierungsManagement (FAM) ist ein Angebot für Familien zur ambulanten Krisenintervention im Vorfeld einer drohenden Fremdunterbringung oder zur Sicherung und Stabilisierung bei einer unklaren Reintegration der Kinder nach einer stationären Maßnahme. Diese Hilfe ist auf sechs Wochen befristet. Die Erreichbarkeit einer MitarbeiterIn ist in dieser Zeit „rund um die Uhr“, also über 24 Stunden gewährleistet. Zwischen 8 und 20 Uhr ist die zuständige FAM-MitarbeiterIn selbst, ab 20 Uhr sowie an Feiertagen und Wochenuj 7 + 8 (2010) 305 ambulante erziehungshilfen enden der Rufbereitschaftsdienst des Kriseninterventions-Teams (aktuell vier KollegInnen), erreichbar. Beim Erstgespräch werden die Familien darüber informiert, dass auch unangekündigte Hausbesuche erfolgen können. Die Arbeit wird hauptsächlich im Haushalt der Familie durchgeführt. Das FamilienAktivierungsManagement wird eingesetzt, wenn sich eine Familie in einer schweren Krise befindet, aus der sie allein oder mit Hilfe einer traditionellen ambulanten Familien- oder Erziehungshilfe nicht mehr herausfindet. Es droht die Fremdplatzierung eines oder mehrerer Kinder. Voraussetzung ist die Bereitschaft der Familie, sich auf eine intensive Krisenintervention einzulassen und daran mitzuarbeiten. Ausschlusskriterien sind u. a. eine akute Kindeswohlgefährdung, unbehandelte psychiatrische Störungsbilder und ausgeprägtes Suchtverhalten oder Suizidalität der Eltern. Als Ausschlusskriterium gilt ebenso, wenn die Eltern oder der/ die Jugendliche trotz intensivem Hinterfragen auf einer Trennung von den Kindern beharren. Das FamilienAktivierungsManagement (FAM) geht davon aus, dass Menschen besonders in Krisen zur Veränderung bereit sind. Über ein strukturiertes, konsequentes methodisches Vorgehen, den absichernden Rahmen einer 24-Stunden-Erreichbarkeit und ein klares fachliches Unterstützungssystem für die FAM-Fachkräfte - es finden z. B. wöchentliche Mitarbeiterberatungen statt, an denen speziell qualifizierte FAM-BeraterInnen und FSP-BeraterInnen teilnehmen - soll die Fremdplatzierung vermieden werden, sofern dies dem Wohl des Kindes dient. Die FAM-Mitarbeiterin macht von Anfang an deutlich, dass die Familie selbst initiativ werden muss und nicht in der Abhängigkeit der HelferInnen bleibt. FamilienAktivierungsManagement orientiert sich konsequent an den Stärken und nicht an den Defiziten der Familie. Dies setzt eine positive Grundhaltung der professionell Handelnden gegenüber der Familie voraus. Die Methoden und Arbeitstechniken des FAM sind aus der Praxis der Familienarbeit entwickelt worden. Sie stützen sich auf eine Vielzahl von theoretischen Grundlagen und therapeutischen Ansätzen. Die Familie wird bei Bedarf in soziale Hilfseinrichtungen vernetzt, die für vorhandene Probleme Spezialwissen bereithalten, wie z. B. Schuldnerberatung oder Suchttherapie. Das sechswöchige FamilienAktivierungsManagement (FAM) ist in drei Phasen eingeteilt. Die ersten 14 Tage dienen dem Kennenlernen und der Diagnostik. Am Ende der ersten zwei Wochen müssen einzelne Zielprotokolle (Arbeit an konkreten Veränderungen) erstellt worden sein. Danach findet ein gemeinsames Gespräch in und mit der Familie statt, an dem die zuständige FAM-MitarbeiterIn, der/ die BeraterIn und der/ die zuständige SozialarbeiterIn teilnehmen. In den folgenden zwei Wochen sollen vereinbarte Ziele auf der Handlungsebene (siehe Zielprotokolle) in kleinen Schritten umgesetzt werden. Danach erfolgt erneut ein gemeinsames Gespräch, bei dem eine eventuelle Anschlussmaßnahme besprochen wird. In den letzten 14 Tagen geht es u. a. um weitere Zielannäherung, Vernetzung, Dokumentation des Prozesses und die Vorbereitung einer eventuellen Anschlussmaßnahme. Am Ende der sechs Wochen wird der Abschlussbericht, inklusive Risiko- und Ressourcenprofil der Familie zusammen mit der Familie und der zuständigen SozialarbeiterIn des Jugendamtes besprochen. 306 uj 7 + 8 (2010) ambulante erziehungshilfen Clearing Das „Clearing“ stellt ein Angebot zur diagnostischen Abklärung der Situation in Familien mit Hilfebedarf dar. Ein „Clearing“ wird eingesetzt, wenn: • das Jugendamt einen Zugang zu einer Familie sucht, den es bisher aus unterschiedlichsten Gründen nicht bekommen konnte, • Fragen nach dem passgenauen Hilfebedarf der Familie zu beantworten sind, • überprüft werden soll, inwiefern eine Familie die Grundfunktionen noch erfüllt oder eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Ziel ist es, ein Risiko- und Ressourcenprofil zu erarbeiten, welches die Familie eben dazu befähigt, ihren jeweiligen individuellen sowie genauen Hilfebedarf zu formulieren. Angestrebt wird, Unklarheiten zu bearbeiten, Informationen zu sammeln, Problemkonstellationen, Kompetenzen, Kapazitäten, Stärken und Ressourcen im Familiensystem herauszuarbeiten, wodurch dem/ der SozialarbeiterIn des Jugendamtes die Entscheidung für eine effektivere Hilfeform als bisher bzw. eine Anschlusshilfe ermöglicht wird (vgl. Römisch 2000, 471, 479). Die MitarbeiterIn des Kriseninterventions-Teams besucht mehrmals wöchentlich, zu den unterschiedlichsten Tages- und Abendzeiten, sowie an Wochenenden den Haushalt der Familie, um möglichst viele Informationen und einen breiten Einblick zu erhalten. Im Einzelfall holt sie sich auch, nach Absprache mit der Familie, Informationen aus dem sozialen Umfeld der Familie. Dieses Angebot, das keinen Veränderungsauftrag hat, sondern lediglich der Informationsgewinnung dient, ist auf zwei bis vier Wochen befristet. Die weiteren Rahmenbedingungen entsprechen denen des Familienaktivierungsmanagements, d. h. der Arbeitsumfang beträgt 20 Stunden pro Woche inklusive Regiezeit, Rufbereitschaft rund um die Uhr, unangemeldete Besuche je nach Bedarf, wöchentliche Beratung durch speziell qualifizierte BeraterInnen und regelmäßige Dokumentation sowie das Verfassen eines Abschlussberichts (inklusive Risiko- und Ressourcenprofil der Familie). Das FamilienStabilisierungsProgramm (FSP) Das FamilienStabilisierungsProgramm wurde von der Stiftung Hospital St. Wendel ursprünglich als Folgemaßnahme des FamilienAktivierungsManagements (FAM) entwickelt, ist jedoch als eigenständige Hilfeform nicht zwingend an einen vorangegangenen FAM- oder Clearing-Einsatz gebunden. Das FamilienStabilisierungsProgramm richtet sich an Familien, die bei der Entwicklung und Förderung ihrer Kinder bzw. Jugendlichen in eine Krise geraten sind, die sie alleine mit den ihnen zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Mitteln nicht bewältigen können. Ziel ist u. a., eine Gefährdung der Kinder und Jugendlichen zu vermeiden bzw. ihr entgegenzutreten. Dabei wird vorausgesetzt, dass mindestens ein Elternteil bereit ist, an Veränderungen zu arbeiten. Diese Ziele werden mit den Kindern bzw. Jugendlichen und deren Bezugspersonen entwickelt und mit dem Jugendamt abgestimmt, dann operationalisiert und im Hinblick auf die Erreichbarkeit im Einsatzzeitraum der Methode in Handlungsschritte gegliedert. Leitlinien in der Zielfindung sind: • Stabilisierung und Rekonstruktion der Familie, • Stärkung der Elternkompetenz, • Gestaltung von Entwicklungsräumen für die Kinder und Jugendlichen. uj 7 + 8 (2010) 307 ambulante erziehungshilfen Ein wesentliches Ziel ist die Vernetzung der Familienmitglieder im positiven Kraftfeld des Familiensystems und die Verankerung der Familie in unterstützende Strukturen professioneller Hilfen, in der Nachbarschaft, in Vereinen u. a. m. Für die Familienmitglieder müssen das Erreichen der Ziele und die Effizienz der Interventionen kontrollierbar sein. Die Arbeit findet überwiegend im Haushalt der Familie statt und bezieht das Gemeinwesen mit ein. Die Zeitdauer des Programms ist begrenzt auf maximal 6 Monate. Die Zielsetzung, Zielerreichung und Programmdauer wird jeweils nach 4 Wochen überprüft und entsprechend den Fortschritten der Familie modifiziert. Das Programmende ist jeweils zu diesen Tagen möglich. Nur in besonderen Fällen kann das Programm nach 6 Monaten in Absprache mit der Familie und dem Jugendamt bis zu dreimal 4 Wochen verlängert werden. Die wöchentliche Stundenintensität beträgt 10 Wochenstunden. Die zuständigen MitarbeiterInnen des KINT-Teams nehmen 14-tägig an Beratungen im KINT- Team teil. Familienaktivierende Hilfen (FaH) Familienaktivierende Hilfen (FaH) wurde in Zusammenarbeit mit den örtlichen Jugendämtern entwickelt, weil im Laufe der Zeit der Bedarf einer weniger intensiven, aber ähnlich strukturierten Hilfe als Anschlussmaßnahme nach FAM, FSP oder Clearing entstand. Neu erworbene Erziehungskompetenzen der Familien können somit weiter unter professioneller Begleitung selbstständig angewendet, reflektiert und die Fortschritte aus den vorausgegangenen Hilfemaßnahmen stabilisiert werden. Diese Hilfe ist auf maximal drei Monate begrenzt, bei einem Zeitumfang von fünf Stunden pro Woche. Die zuständigen MitarbeiterInnen des KINT-Teams nehmen für diese Hilfeform alle vier Wochen Beratung in Anspruch. Aufnahme und Hilfeverlauf Wenn ein/ e SozialarbeiterIn des allgemeinen sozialen Dienstes des Jugendamtes sich für ein Angebot des ambulanten Kriseninterventions-Teams entschieden hat, wird der Koordinator des Teams direkt kontaktiert. Es kommt zu einem ersten Informations- und Beratungsgespräch am Telefon, bei dem geklärt wird, welche Hilfeform für die geschilderte Problemkonstellation geeignet erscheint. Ist die Indikationfüreine ambulanteKriseninterventionshilfe gegeben, wird der/ die SozialarbeiterIn des Jugendamtes beauftragt, die zur Verfügung stehenden Informationen (Protokolle, Berichte etc.) in Verbindung mit der schriftlichen Anfrage nachzureichen. Gleichzeitig wird zeitnah ein Termin vereinbart, an dem das Aufnahmegespräch in der Familie stattfinden kann. Die Aufgabe des Koordinators besteht darin, schnell (innerhalb weniger Tage) eine geeignete MitarbeiterIn des Kriseninterventions- Teams zur Verfügung zu stellen. Da jede MitarbeiterIn über besondere Fähigkeiten, individuelle Stärken und Erfahrungen verfügt, wird immer versucht, eine optimale Passung zwischen MitarbeiterIn und Familie zu ermöglichen. Am Aufnahmegespräch in der Familie nehmen neben dem/ der MitarbeiterIn des Jugendamtes die KINT-MitarbeiterIn und die KINT-BeraterIn teil. In diesem Gespräch werden Indikation, Auftragsklärung, Anliegen und Motivation der Familie geklärt und im Aufnahmebogen festgehalten. Die Hilfeform entspricht in den meisten Fällen jener, die im Vorfeld als geeignet betrachtet wurde. Gelegentlich ist zu beobachten, dass die Situation sich vor Ort 308 uj 7 + 8 (2010) ambulante erziehungshilfen anders darstellt und entweder keine oder eine andere Hilfeform vereinbart werden muss. So kann es vorkommen, dass bei vermuteter latenter Kindeswohlgefährdung weder Einsicht noch Motivation seitens der Bezugspersonen vorhanden sind. Anstelle eines geplanten FAM-Einsatzes muss folgerichtig ein Clearing installiert werden. Der Zwangskontext bleibt bestehen, aber die Hilfe erhält nun einen anderen Charakter: Die MitarbeiterIn ist viel weniger auf Kooperation angewiesen, da es beim Clearing nicht um Veränderungen geht. Bei einer FAM-Maßnahme wird vorausgesetzt, dass die Familie einer drohenden Fremdunterbringung entgegentreten will und sich deshalb um Veränderungen auf der Handlungsebene bemüht. Beim Aufnahmegespräch wird bereits der erste Termin für eine Zwischenauswertung mit allen Beteiligten vereinbart. Durch regelmäßig stattfindende Auswertungsgespräche ist eine enge Anbindung des/ der MitarbeiterIn des Jugendamtes gewährleistet. Sobald die Aufträge erfüllt, bzw. die Ziele erreicht worden sind, kann die Hilfe beendet oder eine niederschwelligere Hilfe installiert werden. Dies wird in einem Abschlussgespräch in der Familie besprochen. Grundlage ist der Abschlussbericht, in dem die Aufträge des Jugendamtes, das Anliegen der Familie, die Ausgangssituation, der Verlauf, ein Risiko-Ressourcenprofil, die Ergebnisse und evtl. der weitere Bedarf schriftlich festgehalten werden. Der Abschlussbericht wird im Vorfeld mit der Familie besprochen, damit sie vorbereitet und ohne Überraschungen am Abschlussgespräch teilnehmen kann. Wenn jedoch die Lage eines Kindes sich im Laufe einer Kriseninterventionshilfe zuspitzt und eine akute Kindeswohlgefährdung vorliegt, wird das Jugendamt umgehend benachrichtigt, um das Kind in Obhut zu nehmen. Wenn die Familie mehrere Termine nacheinander absagt oder nicht anzutreffen ist, wird diese Information ebenfalls unverzüglich an das Jugendamt weitergeleitet. Es kommt immer wieder vor, dass eine begonnene Hilfe nach ein bis zwei Wochen in ein „Clearing“ umgewandelt werden muss, da weder Kooperation noch eine Veränderungsbereitschaft seitens der Familie zu erkennen ist. In solchen Situationen entscheidet der/ die KINT-MitarbeiterIn, in Absprache mit dem/ der BeraterIn des KINT-Teams und dem/ der zuständigen MitarbeiterIn des Jugendamtes, dass ein Clearing-Bericht geschrieben und die Hilfe beendet wird. Das Jugendamt entscheidet daraufhin in den meisten Fällen, sich an das Familiengericht zu wenden. Qualitätssicherung und Weiterentwicklungen Die Qualitätssicherung erfolgt u. a. durch die Richtlinien des Dachverbands FAM e.V. (vgl. Internetauftritt des Dachverbandes Familienaktivierungsmanagement e.V. unter http: / / familienaktivierung.de). Die Arbeit der MitarbeiterInnen des Kriseninterventions-Teams zeichnet sich durch eine regelmäßige, verbindliche praxisnahe Kontrollberatung durch BeraterInnen und TeamkollegInnen aus. Es besteht die Möglichkeit, in Krisensituationen den/ die BeraterIn kontaktieren zu können. Auch die einjährige Fortbildung im Bereich FamilienStabilisierungsProgramm bzw. die Zusatzqualifikation in familienaktivierenden Methoden, die jede MitarbeiterIn des KINT-Teams absolvieren muss, steht für Qualität. PädagogInnen, ErzieherInnen und eine Psychologin, die regelmäßig an weiteren Fortbildungen teilnehmen müssen, arbeiten in einem multiprofessiouj 7 + 8 (2010) 309 ambulante erziehungshilfen nellen Team zusammen. Daneben wird auch, um die Qualität der Arbeit zu gewährleisten, viel Wert darauf gelegt, das Hilfeprogramm beständig fortzuschreiben und weiterzuentwickeln. Ein weiterer Qualitätsbaustein ist die Dokumentation von Prozessen und Interventionen in den dafür vorgesehenen Formularen: Aufnahmebögen, wöchentliche Zusammenfassungen zur Beratung, schriftliche Vorbereitungen für die Zwischenauswertungen und der Abschlussbericht. Die kontinuierliche Überprüfung von Zielerreichung, z. B. anhand von Zielprotokollen, zeichnet die Qualität der Arbeit aus. B edingt durch die Arbeit mit und in Krisenfamilien werden in der Reflexion dieser Tätigkeit Grenzen erkannt, die einerseits Veränderungen familiärer Situationen bewusst machen und andererseits weiteren (Jugendhilfe)Entwicklungsbedarf aufzeigen. Dazu gehören sowohl fachliche als auch organisatorische Herausforderungen: • Erkennen von und Umgang mit psychischen Erkrankungen/ Suchterkrankungen bei Eltern und Kindern, • Erkennen von und Umgang mit Hinweisen einer Kindeswohlgefährdung, insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern, • Begleitete Rückführungen von Kindern und Jugendlichen in ihre Herkunftsfamilie nach vorheriger Fremdunterbringung, • Hochfrequente, längerfristige Unterstützung von Familien im FAM-Setting als Alternative zur stationären Betreuung von Eltern bzw. allein Erziehenden mit Kindern. Ergebnisse und Ausblick Nach annährend zehn Jahren ambulanter Kriseninterventionshilfe kann eine durchaus positive Bilanz gezogen werden. Zwischen 1. 1. 2003 und 31. 12. 2009 wurden insgesamt 490 Familien durch das Kriseninterventions-Team betreut. Der Erfolg hängt u. E. damit zusammen, dass alle Beteiligten von diesen Hilfen profitieren. Für Kinder und Jugendliche bedeutet eine ambulante Krisenintervention, vor allem bei Verdacht einer latenten Kindeswohlgefährdung, dass sie zunächst in ihrer Familie bleiben können und so unnötige Bindungsabbrüche vermieden werden können. Nichts ist für die Entwicklung eines Kindes bekanntermaßen entwicklungshemmender und schädlicher als (wiederholt) aus seiner Herkunftsfamilie herausgenommen zu werden. Für die Eltern bedeutet eine ambulante Hilfe, dass ihr Kind bzw. die Kinder zumindest vorerst in der Familie verbleiben können und die Familie Gelegenheit hat, mit intensiver professioneller Hilfe an Veränderungen zu arbeiten. Für das Jugendamt, das in der Regel über geringe Zeitressourcen verfügt, ergeben sich ebenfalls mehrere Vorteile. Gut qualifizierte MitarbeiterInnen des ambulanten Kriseninterventionsteams stehen kurzfristig für einen intensiven Einsatz in der Familie zur Verfügung. Da die Kosten dieser Hilfe eine entsprechende klassische Hilfe zur Erziehung nicht übersteigt, ist diese Intervention auch finanziell zu rechtfertigen. Da die Arbeit in der „natürlichen“ Umgebung stattfindet, kann mit allen Familienmitgliedern konkret und zielbewusst an Veränderungen gearbeitet werden. Dies ist bei einer stationären Unterbringung eines oder mehrerer Kinder in dieser Form selten gegeben. Falls die ambulanten Kriseninterventionshilfen nicht greifen, bzw. wenn dadurch keine Veränderungen erreicht werden, kann davon ausgegangen werden, dass aktuell eine ambulante Hilfe nicht geeignet oder ausreichend ist, um die derzeitige Problemkonstellation der Familie zu lösen. 310 uj 7 + 8 (2010) ambulante erziehungshilfen Auch die Diakonische Jugendhilfe Region Heilbronn e.V. profitiert in hohem Maß und in vielerlei Hinsicht von dem Aufbau und der Arbeit des ambulanten Kriseninterventionsteams. Neben der Tatsache, dass sich die Hilfe wirtschaftlich trägt, haben bereits eine große Zahl von MitarbeiterInnen des Trägers und anderer Einrichtungen von den internen, qualitativ anspruchsvollen Fortbildungen profitieren können. Zahlreiche KollegInnen aus stationären, teilstationären und ambulanten Hilfen haben an beruflicher Sicherheit gewonnen, da sie sich nicht nur weitere Methoden aneignen konnten, sondern auch fundiertes Wissen durch spezialisierte Fachkräfte, wie Familientherapeuten und Psychologen, vermittelt bekamen. Dieses Wissen befähigt sie, die Elternarbeit und den Umgang mit den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen über diese konkrete Hilfe hinaus kompetenter und professioneller zu gestalten. Die AutorInnen Randi Speer Siegfried Gröninger Diakonische Jugendhilfe Region Heilbronn e.V. Walder-Weissert-Str. 6 75031 Eppingen-Kleingartach
