eJournals unsere jugend 62/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2010
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Chancen im Umgang mit Schulverweigerung im Rahmen der stationären Erziehungshilfe

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2010
Joachim Rumpf
In der gegenwärtigen Forschung zur Schulverweigerung fehlt es an Untersuchungen zur Auswirkung stationärer Hilfen auf das Schulbesuchsverhalten von Kindern. Deshalb soll mit dem folgenden Beitrag darauf aufmerksam gemacht werden, dass ein Wechsel des sozialen Umfeldes das Schulbesuchsverhalten von Schulverweigerern positiv beeinflussen kann.
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uj 7 + 8 (2010) 325 Unsere Jugend, 62. Jg., S. 325 -333 (2010) DOI 10.2378/ uj2010.art35d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Chancen im Umgang mit Schulverweigerung im Rahmen der stationären Erziehungshilfe Joachim Rumpf In der gegenwärtigen Forschung zur Schulverweigerung fehlt es an Untersuchungen zur Auswirkung stationärer Hilfen auf das Schulbesuchsverhalten von Kindern. Deshalb soll mit dem folgenden Beitrag darauf aufmerksam gemacht werden, dass ein Wechsel des sozialen Umfeldes das Schulbesuchsverhalten von Schulverweigerern positiv beeinflussen kann. stationäre erziehungshilfe Stamm (2008, 68ff) unterscheidet bezüglich des Schulbesuchsverhaltens detailliert „Gelegenheitsschwänzer“, „massive Schulschwänzer, „Lektionenschwänzer“ „elterngestütztes Schule schwänzen“ und „Schulverweigerung“. Von „Schulverweigerung“ wird gesprochen, wenn die Schule länger als ein halbes Jahr nicht besucht worden ist und tendenziell eine irreversible Absenz vorliegt (vgl. auch Oehme 2007, 33ff). In meinem Beitrag werden alle Erscheinungsformen schulischen Absentismus unter die Begriffe „Schulverweigerung“ und „Schwänzen“ gefasst. S chauen wir auf die Bemühungen der gegenwärtigen Schulverweigerungsforschung, fehlen in entsprechenden Schriften Nachweise über die Auswirkungen stationärer Hilfen auf das Schulbesuchsverhalten von Kindern (Thimm 2000; Schulze/ Wittstock 2001; Simon/ Uhlig 2002; Oehme 2007). Stattdessen entsteht der Eindruck, als würden selbst von sozialpädagogischen Experten, wie zum Beispiel bei Birgit Warzecha (2001) stationären Einrichtungen eine die Schulverweigerung verstärkende Funktion zugeschrieben. Heimerziehung z. B. wird in ihrer Schrift über die Schulverweigerung im Zusammenhang mit „außerschulischen Maßnahmekarrieren“ genannt (Warzecha 2001, 53f), wobei sie auf einen Bericht des Stern über einen kriminalisierten Jugendlichen zurückgreift. Warzecha beschreibt sogar Schulverweigerung als Symptom außerschulischer mit ihren je verschiedenen Hilfesystemen … Mechanismen der Desintegration“ (Warzecha 2001, 58ff). W enn Heimerziehung in wissenschaftlichen Beiträgen im Zusammenhang mit kriminalisierten Lebensverläufen genannt und gleichsam als Desintegrationsinstanz angesehen wird, dann bestätigt dies zunächst einmal jenes Bild, das in der Medienlandschaft hartnäckig gepflegt wird. Die positiven Möglichkeiten dieser den Familien als Hilfsangebot zur Verfügung ste- Dr. Joachim Rumpf Jg. 1932; Lehrer bis 1973, Erziehungsleiter in einer Jugendhilfeeinrichtung bis 1999, freiberuflich für Einrichtungen der Jugendhilfe tätig 326 uj 7 + 8 (2010) stationäre erziehungshilfe hender alternativen Lebensform und ihre längst nachgewiesenen Erfolge kommen überhaupt nicht in den Blick. Dies, obwohl es eine Fülle an empirischen Studien gibt, die die Erfolge dieser Jugendhilfeform belegen, angefangen bei der kritischen Analyse von Liselotte Pongratz und Hans- Otto Hübner (1959) bis hinein in die Gegenwart wie zum Beispiel von Wolfgang Trede (2003). Die Gründe, die dazu führen, dass im Denkhorizont selbst von Fachleuten wie SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen die Hilfen zur Erziehung nach § 34 KJHG nicht oder nur selten und dann schon kaum öffentlich als sinnvolle Hilfe für ein Kind und dessen Familie betrachtet wird, sind sicher sehr vielschichtig. Sie bedürften einer sorgfältigen empirisch abgesicherten Analyse, die bisher noch nicht vorliegt. Ein nicht zu unterschätzender und bekannter Grund sind seit der zunehmenden finanziellen Not öffentlicher Haushalte die Kosten für Erziehungshilfe in Heimen (Bürger 2003). Dass stationäre Erziehungshilfen „nichts bringen“ und angesichts dessen, dass die angestrebten Ziele für die jeweiligen Mädchen und Jungen nicht erreicht werden, viel zu teuer seien, wie mir ein Jugendamtsleiter versicherte, das stimmt einfach so pauschal nicht. Vielmehr müsste darauf geschaut werden, wenn Jugendhilfeeinrichtungen im Hilfeplan vereinbarte Ziele nicht erreichen, wo die Gründe hierfür liegen. Und hierbei wird unter anderen festgestellt werden müssen, dass die für eine Erfolg versprechende Arbeit unabdingbare enge Verzahnung von Jugendhilfe und Schule (die Kooperation) unzureichend ist (Braun 2002, 22). Über die Ursachen für die Verweigerung von schulischen Leistungen, von Schulversagen bis hin zum gänzlichen Ausstieg, liegen mehrere Untersuchungen vor, von denen die von Karlheinz Thimm besonders informativ ist. Bei allen Vorbehalten und Differenzierungen, die Thimm bei der Frage nach den Gründen sieht, weist er dennoch im Rahmen seines multiperspektivischen Erklärungsansatzes der „Familiengeschichte, -struktur und -dynamik“ einen zentralen Platz ein (Thimm 2000, 129ff und 522). Wenn auch nachgewiesen ist, dass es vor allem der Unterricht an den weiterführenden Schulen ist, der Schulverdrossenheit und Schulversagen fördert, so dürfen die außerschulischen sozialen Milieus, zu der durchaus auch die Familie gehören kann (vgl. hierzu z. B. Kühn 1983), nicht unterschätzt werden. Neben den seit mehr als zehn Jahren an verschiedenen Orten in der Bundesrepublik laufenden Bemühungen, vor Ort - also da, wo die Schule verweigernden Kinder und Jugendlichen leben oder sich überwiegend aufhalten -, Hilfen zu leisten (vgl. u. a. Herz 2006), sollte auch ein Wechsel der sozialen Milieus als Hilfsangebot nicht ausgeschlossen sein. Im Abschnitt „Konzepte und Strategien bei Unterrichtsverweigerung“ (Thimm 2000, 544ff) aber findet sich diese Möglichkeit nicht. Ich möchte deshalb im Folgenden zunächst darüber berichten, dass stationäre Erziehungshilfen geeignet sein können, Schulschwänzen und Schulverweigerung zu beeinflussen, und werde anschließend vergleichbare Hilfen vor Ort als Organisationsform vorschlagen. Ich gehe hierbei von folgender Annahme aus: Wenn Schwänzen und Verweigern durch das soziale Umfeld ausgelöst oder gefördert wird und keine Aussicht besteht, in diesen Lebensbereichen wie Familie, Schule oder Peergroup Veränderungen zu bewirken, kann ein Wechsel dieses Umfeldes hilfreich sein. So gibt es Belege dafür, dass sich für die überwiegende Zahl der Kinder, die in Heime aufgenommen wurden, die Entwickuj 7 + 8 (2010) 327 stationäre erziehungshilfe lung - gemessen an einigen vergleichbaren Normen wie Schul- und Berufsabschlüsse - günstiger gestaltete, als es ohne diese Hilfeform bei diesen Kindern der Fall gewesen wäre (Goldammer 1986; JULE 1998; Rosenau 2005; Schrenk 2009). Jürgen Blandow (2003, 61f) vermutet, dass trotz aller prinzipiellen Beschränkungen, denen eine Sozialisation in öffentlicher Erziehung unterworfen ist, ein Heim den einzelnen Kindern dennoch „Besseres bieten kann, als es ihre Familien konnten“. In Bezug auf das Thema „Schulverweigerung“ kann dies ebenfalls, eine optimale pädagogische Praxis vorausgesetzt (vgl. dazu Mehringer 1987), eine gute Alternative sein. H ier wird aus einem Heim A berichtet, das mit 36 Plätzen und 4 Plätzen in zwei Erziehungsstellen heute inzwischen schon zu den größeren Einrichtungen gehört. Dieses Heim gibt es seit Ende 1968. Zwischen Januar 1969 und Dezember 2008 wurden 325 Mädchen und Jungen dort entlassen. Das Durchschnittsalter bei der Heimaufnahme betrug 11 Jahre 3 Monate. Alle Mädchen und Jungen besuchten Schulen außerhalb dieses Heims. Nur zwei Kinder waren bei der Heimaufnahme noch nicht schulpflichtig. Bei allen anderen begründeten nicht zuletzt Lern- und Verhaltensschwierigkeiten im Raum der Schule, die von den Hilfe suchenden Angehörigen und von SozialarbeiterInnen ins Feld geführt wurden, eine Jugendhilfemaßnahme nach § 34 SGB VIII. Zu den am häufigsten genannten Auffälligkeiten wurden Schulschwänzen (65 %) und Leistungsverweigerung (51 %) genannt (Rumpf 1976, 22). Seit den siebziger Jahren haben schulische Probleme in den Begründungen für eine Heimunterbringung einen immer größeren Stellenwert eingenommen (Rumpf 1989, 205 - 216). In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich daran nichts geändert, wenn auch die Hilfsangebote vielfältiger wurden. Darauf deuten die von Mutke (2009, 61f) zusammengestellten Zahlen hin, die auf der Auswertung veröffentlichter statistischer Daten beruhen. Die Anteile, die die Schule selbst am Entstehen oder der Verstärkung von Schulvermeidungsverhalten hatte, werden noch zu wenig thematisiert. Dass die subjektiven Wirklichkeiten, die Bedeutungshorizonte und Phantasien von SchülerInnen die Basis von Unterricht und Schule sind und darum in deren Konzepten berücksichtigt werden müssen, darauf verweist z. B. der Schweizer Psychoanalytiker Allan Guggenbühl (2002, 49). Auch Interviews mit Schulverweigerern geben Aufschluss über entsprechende Defizite im Schulangebot. Sie erleben sich zum Beispiel von den LehrerInnen nicht ernst- und nicht wahrgenommen. Zwei Beispieläußerungen: „… sie kümmern sich zu wenig um mich und sehen am Ende auch bloß ihre Kohle …“. „Die Lehrer sind blöde. Sie schnauzen mich wegen jeder Kleinigkeit an …“ (Schulze/ Wittstock 2001, 255f). Die Schule wird, wie das ganze Leben, als „sinnlos“ erlebt (ebenda, 303). I n Begründungen für Erziehungshilfen spielt das Leistungs- und Schulbesuchsverhalten von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle. Zum Beispiel im Zusammenhang mit den Zugangsbedingungen in die Jugendhilfe bei Cornelia: Cornelia besuchte im Schuljahr 2005/ 2006 die Realschule ihres Heimatortes. Dort verweigerte die bis dahin recht gute Schülerin aktiv die Teilnahme am Unterricht, trat besonders ihren Lehrern gegenüber so provozierend auf, dass diese sie nicht einmal in der zur gleichen Schule gehörenden Hauptschule zurückversetzen wollten. Sie weigerten sich ihrerseits, Cornelia weiter zu unterrichten. 328 uj 7 + 8 (2010) stationäre erziehungshilfe Die Ursachen für das auffällige Verhalten der Fünfzehnjährigen waren, wie stets bei Verweigerungshaltungen, sehr komplex. Herausragend, und von ihr selbst als Gründe genannt, waren das angespannte Verhältnis zur Mutter, seit diese einen neuen Mann hatte, mit dem sie an einem anderen Ort zusammenleben wollte, und, parallel hierzu, die Beziehung Cornelias zu einem jungen Ausländer, die sie voll und ganz in Anspruch nahm. Dieser Beziehung und ihrer Begleiterscheinungen, wie häufigen Ausgang, nächtliches Ausbleiben und nachlassende Schulleistungen, setzte die Mutter heftigsten Widerstand entgegen. Als die Tochter beobachtete, dass sich die Mutter aus ihrer Sicht mit den LehrerInnen „verbündete“, eskalierte die Situation. In der Schule trat Cornelia nun erst recht gegen die Lehrer auf, blieb der Schule immer häufiger fern und verdarb es sich besonders mit dem Schulleiter, der überdies eine sehr konservative Auffassung von Schulverfassung und Schülerpflichten besaß. Dass eine Neuntklässlerin bereits einen festen Freund hatte, bei dem sie schlief, musste er als einen hohen Grad von Verwerflichkeit betrachten: „Für diese Schülerin ist an meiner Schule kein Platz! “ erklärte er der Sozialarbeiterin, an die er sich und die Mutter gewandt hatte. Die Mutter reagierte ähnlich und erklärte ihr gegenüber, dass sie ihre Tochter hinauswerfen würde. Die Sozialarbeiterin sollte sie in ein Heim bringen. Tatsächlich zog die Mutter mit ihrem Partner Anfang Februar 2007 in einen anderen Ort und ließ die Sachen ihrer Tochter in der alten, sonst leer geräumten Wohnung. Die Sozialarbeiterin musste rasch für Hilfe sorgen und fuhr mit Cornelia zu Bärbel und Hans, die in ihrem Haus, einer Außenstelle des Heimes A, zwei Plätze für junge Mädchen vorhielten, die aus ihren Familien herauswollten bzw. sollten. Cornelia wollte gern zu dieser Familie ziehen. Freilich konnten die beiden, die selbst als Pädagogen wenigstens teilweise berufstätig waren, nur Mädchen aufnehmen, die regelmäßig die Schule besuchten oder eine Berufsausbildung absolvierten. Die Leiterin der Hauswirtschaftlichen Berufsschulen in der Kreisstadt zeigte Verständnis für Cornelia und nahm sie in das Berufsvorbereitungsjahr auf, das zumeist von Mädchen und Jungen ohne Hauptschulabschluss besucht wird. In der neuen Schulumgebung war sie freundlich aufgenommen worden. Dort hatte Cornelia keine Probleme mit dem Lernen. Sie besuchte vom Tage ihres Einzuges an regelmäßig die Schule. Und da sie sich auch in ihrem Verhalten und Erscheinungsbild von den anderen Mädchen nicht unterschied, hatte sie überhaupt keinen Ärger mehr. Ihr Interesse an hauswirtschaftlichen Verrichtungen erlaubten ihr eine relativ selbstständige Haushaltsführung. Sie kochte sogar gelegentlich für ihre Mitbewohnerin, mit der sie, die sich in einer fast gleichen Situation befand, sich gut vertrug. Auch zu den Familienangehörigen dieser Erziehungsstelle hatte sie einen guten Kontakt. Die wenigen Regeln, die sie zu beachten hatte, wie sich bei Bärbel oder Hans abzumelden, damit die sich nicht unnötig um die Minderjährige Sorgen machen müssten, hielt sie zuverlässig ein. D as Schicksal von Cornelia bestätigt nicht nur die Komplexität, die in eine fast ausweglose schulische Situation führt, aus der junge Menschen keinen anderen Ausweg sehen, als sich völlig zu verweigern - selbst wenn sie, wie Cornelia, überdurchschnittlich begabt sind. Dieses Beispiel belegt auch, dass sich junge Menschen, deren Bedürfnisse wir nicht ernst nehmen, mit denen wir uns nicht auf Augenhöhe zu verständigen suchen, von Eltern und LehrerInnen abwenden und mit großer Konsequenz ihre eigenen Wege suchen und gehen. Wenn, wie in diesem Falle, sich eruj 7 + 8 (2010) 329 stationäre erziehungshilfe wachsene Personen zur Verfügung stellen und ohne Aufdringlichkeit Beziehungsangebote machen, dann besteht die Chance, dass ein junger Mensch seine Verweigerungshaltung aufgibt. Ein Ergebnis in diesem Falle war, dass Cornelia, nachdem sie das Aggressionen auslösende Feld der eigenen Familie und eine Schule, deren LehrerInnen für sie kein Verständnis zeigten, verlassen hatte, wieder regelmäßig eine Schule besuchte, dort gut mitarbeitete und später, nach erfolgreichem Hauptschulabschluss eine zweijährige Berufsfachschule besuchte. C ornelia half der Wechsel vom alten Wohnumfeld in eine Erziehungsstelle; bei Reinhold bewirkte ein Heim ebenfalls Veränderungen bezüglich seines Schulbesuchs, wie das folgende Beispiel zeigt. Reinhold besuchte bis in sein viertes Schuljahr hinein die Schule regelmäßig und hatte in allen Fächern gute Noten erhalten. In diesem Schuljahr zog die Mutter von ihrem Heimatort in Sachsen nach Württemberg um und mit ihr die drei Kinder, von denen Reinhold das älteste war. Reinhold hatte gerade sein Halbjahreszeugnis erhalten, das er in der neuen Schule vorlegte. Mit dem Umzug allerdings war er überhaupt nicht einverstanden, da er seine Spielgefährten aus dem Heimatort schmerzlich vermisste. Außerdem konnte er seinen Vater, an dem er sehr hing, nicht mehr im Gefängnis besuchen, wo dieser wegen einer Straftat einsaß. Reinhold konnte nicht verstehen, dass die Mutter mit ihrem Wegzug auch eine räumliche Distanz zwischen ihrem Mann und sich schaffen wollte. Die Ehe war schon vor Antritt der Haft wegen der Alkoholprobleme ihres Mannes sehr belastet gewesen. Reinhold, den die neuen Lebensumstände sehr belasteten, kam in der neuen sozialen Umgebung nicht zurecht. Auch nicht in der Klasse. Nur sehr knapp, und weil er neu zugezogen war, erhielt er ein Versetzungszeugnis in die fünfte Klasse. Nun war für ihn neben der ungeliebten Umgebung auch noch schulisches Versagen als Belastungsmoment hinzugekommen. Da er der Mutter Schuld an der entstandenen Situation gab, ließ er sich von ihr immer weniger sagen. Die jüngeren Geschwister, die mit den veränderten Bedingungen besser zurechtkamen, hatten ebenfalls mehr und mehr unter ihm zu leiden. In einem Gutachten aus dieser Zeit, das Halbjahreszeugnis stand vor der Tür, hieß es unter anderem: „… Reinhold wird wegen ständiger Schulschwänzerei und der daraus erwachsenden Leistungsmängel nicht versetzt werden können. Nach vielen kleineren pädagogischen und disziplinarischen Maßnahmen beantragte die Schulleitung am 6. Februar und am 20. Februar die Zuführung durch die Polizei. Auch am 6. März wurde er durch die Polizei zur Schule gebracht. Zwei Tage später schwänzte er bereits wieder …“. Reinholds Mutter stellte den Antrag auf Hilfe zur Erziehung nach § 34 SGB VIII. Dem Antrag wurde stattgegeben. Er sah sich eine in Frage kommende Einrichtung an, stimmte der Unterbringung in das Heim A notgedrungen zu und lebt nun in diesem Heim, fernab vom Wohnort der Mutter. Wenn seine seelische Not auch noch längst nicht behoben ist und er wohl noch lange brauchen wird, um Kraft für eine andere, konstruktivere Einschätzung seiner Situation zu gewinnen, so besucht er wenigstens nun die neue Schule regelmäßig. Es zeichnet sich sogar ab, dass er seine natürliche Begabung einsetzen kann, um die Schule mit gutem Erfolg zu besuchen. Allerdings ist er noch immer ein sehr auffälliger Schüler, allein schon darum, weil er mit inzwischen sechzehn Jahren in einer siebten Klasse sitzt …“. 330 uj 7 + 8 (2010) stationäre erziehungshilfe J edes Kind im Heim hat seine eigene Geschichte mit einem jeweils anderen familiären Hintergrund, wie es die hier vorgetragenen Beispiele andeuten. Es lassen sich folgende Gemeinsamkeiten, bezogen auf das Schulbesuchsverhalten und das schulische Arbeiten von schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen in einem Heim der Kinder- und Jugendhilfe und bezogen auf den Zeitraum meiner 40-jährigen Erfahrung festhalten: • Ganz gleich aus welchen Gründen die betreffenden Kinder und Jugendlichen sich weigerten, eine Schule zu besuchen, so fügten sich die meisten sofort und einige nach wenigen Versuchen ausnahmslos der im Heim gelebten Norm: Jeden Morgen gehen alle Kinder zur Schule. • Kein Kind musste mit irgendwelchen pädagogischen Mitteln (Drohungen, Strafen, Belohnungen) gezwungen werden, zur Schule zu gehen. Es gab aber auch keine Diskussion darüber. Im Gegenteil: die Routine half den meisten Kindern, sich nicht schon am frühen Morgen der Schule zu verweigern. Alle Kinder beherrschten die Abläufe - vom Aufstehen, Waschen, Anziehen, Betten auslegen, zum Frühstücken gehen, die Schultasche und die Sportsachen aus den „Schulfächern“ nehmen, in der Garderobe Anoraks und Schuhe anziehen und hinunter zum Schulbus laufen - relativ rasch und selbständig. • Wohl aber waren pädagogische Reaktionen zweckmäßig, wenn ein Kind schulische Leistungen - sei es innerhalb der Schule oder während der Hausaufgabenstunde im Heim, verweigerte. Auch andere Konflikte traten innerhalb der Schule auf. Die brachten den betroffenen Kindern, auch wenn sie eine Schule für Erziehungshilfe besuchten, Schulstrafen ein, die bis zu kurzfristigen Schulausschlüssen führen konnten. Die betreffenden Kinder waren dann allein im Hause. Sie erhielten zwar eine schulische Einzelbetreuung durch ihre ErzieherInnen, wofür die LehrerInnen Aufgaben zur Verfügung stellten, doch in den Ausgang durften sie nicht. Es gehört zur Norm in dieser Einrichtung, die von allen strikt beachtet wird, dass die, die ihre schulischen Pflichten nicht erfüllen, das Heimgelände nicht verlassen. Darum bemühten sich die meisten betroffenen Jugendlichen sehr um das Wohlwollen von ErzieherInnen und LehrerInnen, um bald wieder zur Schule gehen zu können, da dort die anderen GefährtInnen waren und es allerlei Kurzweil gab und nicht so langweilig und öde war wie am Vormittag im Heim. • Es kam vor, dass Kinder „abhauten“. Sie taten das dann gern im Zusammenhang mit dem Schulweg. Sie stiegen also in den Schulbus ein, gingen aber an den Schulen, von denen auch einige in der nahe gelegenen Kreisstadt sind, vorbei. Die Motive dieser Kinder aber waren nicht in der Schule zu suchen, sondern wurzelten in ihrer Sorge, von den Angehörigen vergessen worden zu sein oder gar verlassen zu werden. Nicht selten beendeten die Personensorgeberechtigten dann die Jugendhilfemaßnahme und nahmen die Kinder wieder bei sich auf. • Alle Mädchen und Jungen, die von den Personensorgeberechtigten vorher nicht wieder in die Familien aufgenommen wurden - weil es im Hilfeplan vorgesehene Befristungen gab, die einen Heimaufenthalt bis zum Ende der Schulzeit nicht vorsahen oder weil Eltern einseitig die Hilfemaßnahme beendeten -, erreichten während ihres Heimaufenthalts den ihnen jeweils möglichen Schulabschluss. Das waren von den 325 Kindern 206. Oder konkreter: Wenn zum Ziel uj 7 + 8 (2010) 331 stationäre erziehungshilfe der Hilfen gehörte, dass ein Kind vom Heim aus einen Schulabschluss erreichen sollte, dann wurde dieses Ziel auch erreicht, wenn die Personensorgeberechtigten die Maßnahme nicht von sich aus aufkündigten. Bei denen, die nach ihrem Schulende vom Heim aus noch eine Lehre absolvierten oder gar eine weiterführende Schule besuchen wollten, wurden ausnahmslos eine Veränderung hin zu mehr Selbstständigkeit bei der Regelung ihrer schulischen Angelegenheiten und eine deutlich veränderte Motivation für die schulischen Anforderungen beobachtet. Und das auch bei jenen, bei denen Schulschwänzen bzw. Schulverweigerung die Erziehungshilfe ursprünglich begründeten. • Es geht hier, das muss ausdrücklich betont werden, um den regelmäßigen Schulbesuch auch jener Kinder, die daheim die Schule verweigerten und auf unterschiedliche Weise den schulischen Anforderungen Widerstand entgegensetzten. Mit dem Eintritt in ein Heim A änderte sich in Bezug auf die Haltung schulischen Ansprüchen gegenüber jedoch fast nichts. Schulbesuchsverhalten und Lernverhalten sind keineswegs gleichzusetzen. Im Heim wird darauf geachtet, dass die Kinder zur Schule gehen, die Arbeiten für die Schule erledigen, ihr schulisches Werkzeug stets in Ordnung halten, diejenigen eine Förderung erhalten, die sie brauchen, und dass mit den LehrerInnen kooperiert wird. Alles dies kann ohne Übertreibung als die den Alltag dominierende Herausforderung für die Kinder und ihre ErzieherInnen betrachtet werden. Freude am Lernen, so wie Manfred Spitzer sie unter dem Schlagwort „Schule soll Spaß machen“ (2002, 421) einfordert, wurde dadurch meist nicht erreicht. Das Heim übernimmt in Bezug auf schulisches Lernen jene Leistungen, die in unserer Gesellschaft von Eltern erwartet werden. Weder HeimerzieherInnen noch Eltern aber haben Einfluss auf die pädagogischen Konzeptionen von LehrerInnen oder von Schulen. Einige Schlussfolgerungen Stationäre Hilfe zur Erziehung wird Familien und deren Kindern dann gewährt, wenn die Bedürfnisse der betreffenden Kinder im Lebensbereich Familie und deren Umfeld als unzureichend befriedigt betrachtet werden müssen. Werden in einem anderen Lebensbereich - im o. a. Beispiel ein Heim A - im Erleben eines Kindes seine Bedürfnisse hinreichend befriedigt, kann es seine Verhaltensauffälligkeiten reduzieren und zum Beispiel nun regelmäßig die Schule besuchen. Zu den Bedürfnissen, die im neuen Lebensbereich besonders aufmerksam beachtet werden, gehören unter anderem Annahme, Verlässlichkeit, Führung, Orientierung und Förderung (Rumpf 2009). Verallgemeinernd lässt sich festhalten: in allen Lebensbereichen, in denen Kinder sich entwickeln, in denen sie Erziehung und Bildung erfahren, sind es die Grundbedürfnisse von Kindern, die das Fundament bilden, auf dem sich das gemeinsame Leben von Kindern und Erwachsenen vollzieht. Weisen die Fundamente Lücken auf, müssen sie gefüllt oder ein anderer Lebensbereich mit einem für das Kind günstigeren Fundament gesucht werden. D ieser neue Lebensbereich - und damit komme ich zu dem oben angekündigten „vergleichbaren Hilfen vor Ort“ - muss keineswegs eine der bisher üblichen stationären Formen der Erziehungshilfe sein. Es sind allein wegen der Dimensionen, die die Hilfebedürftigkeit von Kindern und ihrer Familien in unserer Gesellschaft angenom- 332 uj 7 + 8 (2010) stationäre erziehungshilfe men haben, neue Wege zu bedenken. Da ist an bewährte Konzepte zu erinnern, die sich in der Geschichte des Erziehungs- und Bildungswesens im vergangenen Jahrhundert herausbildeten. Denken wir allein an die pädagogische Reformbewegung und erinnern an Persönlichkeiten wie Ellen Key, Maria Montessori, Hermann Lietz, Rudolf Steiner, Anton Semjonowitsch Makarenko oder Hermann Gmeiner. Es waren unter ihnen vor allem Makarenko und Gmeiner, die sich besonders den benachteiligten, „verwahrlosten“ und zum Teil auch elternlosen Kindern annahmen. Makarenko (1959) beschreibt in seinem „Pädagogischen Poem“ („Der Weg ins Leben“) sehr anschaulich jene Bedingungen, unter denen selbst kriminalisierte Schulschwänzer „ins Leben“ der Gesellschaft mit neuen Norm- und Wertvorstellungen geführt werden können. Hermann Lietz (2005) hatte bereits am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, angeregt vom englischen Internatsschulsystem, Heime begründet, in denen neben dem Unterricht praktische Arbeiten, viel Sport und künstlerische Betätigung angeboten werden. Die Gruppen sind in „Familien“ organisiert, und innerhalb dieser kleinen Gemeinschaft von fünf bis zwölf Kindern spielt eine verlässliche persönliche Beziehung zwischen Kind und Erzieher eine besonders wichtige Rolle. Auch Hermann Gmeiner (1979) hat mit seinen SOS- Kinderdörfern nach dem Zweiten Weltkrieg an diese familienähnliche Struktur angeknüpft, die dann auch Andreas Mehringer (1977, 60) in die damaligen „Fürsorgeerziehungsheime“ einführte und wie sie bis heute in der Jugendhilfe und in der Internatserziehung weiter wirken. Es gibt also einige bewährte Modelle, an die angeknüpft werden könnte, wenn es darum geht, Konzeptionen zu erarbeiten, die für neue schulische und außerfamiliale Lebensbereiche gelten. Diese neuartigen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, es sind Internatseinrichtungen zwischen Internatsschulen und Erziehungsheime, ich möchte sie „Schulinternate“ nennen, sollten in Städten und Landkreisen gemeinsam von Jugendhilfe- und Schulbehörden eingerichtet werden. Eine gute Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe gilt als eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen von Projekten, die Hilfen für Schulverweigerer zum Inhalt haben (vgl. u. a.: Braun 2002, 35f; Mutke 2009, 73). Dass eine derartige Gemeinsamkeit möglich ist, zeigen Projekte wie die „Coole Schule“, die bereits mit Erfolg vom Deutschen Verein für Öffentliche und Private Fürsorge durchgeführt wird (Jaskiewicz 2009, 113ff). Schulinternate, gemeinsam von Jugendhilfebehörden, Jugendhilfeträgern und Schulen verantwortet und betrieben, würden Hilfen anbieten für Kinder und ihre Familien, wenn ambulante Angebote nicht verhindern können, dass Kinder und/ oder Eltern den Schulbesuch verweigern. Literatur Blandow, J., 2003: Heimerziehung heute: eine Zerreißprobe zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und pädagogischem Auftrag. In: Hast, J. u. a.: Heimerziehung im Blick. Perspektiven des Arbeitsfeldes Stationärer Erziehungshilfen. Frankfurt a. M., S. 61 Braun, K.-H., 2002: Schulverweigerung - eine Herausforderung für die pädagogische und soziale Qualitätsentwicklung der Regelschule. In: Simon, T./ Uhlig, S. (Hrsg.): Schulverweigerung. Muster - Hypothesen - Handlungsfelder. Opladen, S. 21 - 42 Bürger, U., 2003: Stellenwert der Heimerziehung im Kontext erzieherischer Hilfen - Entwicklungslinien und Standort erzieherischer Hilfen nach § 34 KJHG. In: Hast, J. u. a.: Heimerziehung im Blick. Perspektiven des Arbeitsfeldes Stationärer Erziehungshilfen. Frankfurt a. M., S. 17 - 42 Gmeiner, H., 1979: Eindrücke, Gedanken, Bekenntnisse. Innsbruck Goldammer, M., 1986: Die Situation ehemaliger Heimkinder. Unveröffentl. Diplomarbeit. Pädagogische Hochschule Freiburg uj 7 + 8 (2010) 333 stationäre erziehungshilfe Guggenbühl, A., 2000: Die PISA-Falle. Schulen sind keine Lernfabriken. Freiburg. Herz, B. (Hrsg.), 2006: Lernen für Grenzgänger. Bildung für Jugendliche in der Straßenszene. Münster Jaskiewicz, S., 2009: Schule und Jugendhilfe unter einem Dach - Modelle als Antwort auf die Mängel im allgemein bildenden Schulwesen am Beispiel des Praxisforschungsprojekts Coole Schule: „Lust statt Frust am Lernen“. In: Faltermeier, J. (Hrsg.): Schulverweigerung - neue Ansätze und Ergebnisse aus Wissenschaft und Praxis. Berlin JULE, 1998: Leistungen und Grenzen von Heimerziehung. Eine Evaluationsstudie stationärer und teilstationärer Erziehungshilfen. Bonn Kühn, R., 1983: Bedingungen für Schulerfolg. Zusammenhänge zwischen Schülermerkmalen, häuslicher Umwelt und Schulnoten. Göttingen Lietz, H., 2005: Reform der Schule durch Reformschulen. Kleine Schriften. Jena (siehe auch: www.lietz-schule.de, 7. 3. 2010) Mehringer, A., 1977: Die eigenen vier Wände. Vom Familienprinzip im Heim. Was damit gemeint ist und was nicht damit gemeint ist. In: Mehringer, A.: Heimkinder. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte und zur Gegenwart der Heimerziehung. München, S. 60 - 65 Mehringer, A., 1987: Eine kleine Heilpädagogik. Vom Umgang mit schwierigen Kindern. München Mutke, B., 2009: Schulverweigerung und Schulmüdigkeit. Ursachen und Begegnungsstrategien. In: Faltermeier, J. (Hrsg.): Schulverweigerung - neue Ansätze und Ergebnisse aus Wissenschaft und Praxis. Berlin, S. 57 - 75 Oehme, A., 2007: Schulverweigerung. Subjektive Theorien von Jugendlichen zu den Bedingungen ihres Schulabsentismus. Hamburg Pongratz, L. und Hübner, H.-O., 1959: Lebensbewährung nach öffentlicher Erziehung. Darmstadt Rosenau, D., 2005: Null Bock. Schulverweigerung in Verbindung mit den Hilfen zur Erziehung nach § 34 SGB VIII. Unveröffentl. Diplomarbeit. Fachhochschule Potsdam Rumpf, J., 1976: Warum kommen Kinder in ein Erziehungsheim? Unveröffentl. Diplomarbeit Pädagogische Hochschule Freiburg Rumpf, J., 1989: Die Zusammenarbeit zwischen Heim und Schule. Dachsberg Rumpf, J., 2009: Kinder brauchen mehr als pädagogische Angebote. Über die Grundbedürfnisse von Kindern. In: Krenz, A. (Hrsg.): Handbuch für Erzieherinnen. Teil 4. Landsberg, S. 1 - 43 Schrenk, A., 2009: Wie wirkt Heimerziehung? Empirische Untersuchung zur sozialen Konstruktion von Wirkungsvorstellungen von Jugendlichen im Heim. http: / / kola.opus.hbznrw.de/ volltexte/ 2009/ 457/ pdf/ Dissertation_ Andreas_Schrenk_UB_Koblenz.pdf, 7. 3. 2010, 235 Seiten Schulze, G./ Wittstock, M., 2001: Abschlussbericht zum Landesforschungsprojekt schulaversibles Verhalten. Universität Rostock Stamm, M., 2008: Schulabsentismus. Bern Thimm, K., 2000: Schulverweigerung. Zur Begründung eines neuen Verhältnisses von Sozialpädagogik und Schule. Münster Trede, W., 2003: „Heimerziehung nach zehn Jahren KJHG - eine Standortbestimmung“. In: Hast, J. u. a., a.a.O., S. 65 - 86 Warzecha, B., 2001: Schulschwänzen und Schulverweigerung. Eine Herausforderung an das Bildungssystem. Hamburg Der Autor Dr. Joachim Rumpf Hühnerbühl 7 79733 Görwihl j.rumpf@gmx.de