unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2011
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Geschlossene Unterbringung: Risiko oder Chance?
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2011
Michael Macsenaere
Otto Schittler
Sind Geschlossene Unterbringung und Pädagogik nicht ein Widerspruch in sich? Wie kann Erziehung im Zwangskontext gelingen, wenn doch Kooperation ein zentraler Wirkfaktor ist? Mit diesem Beitrag wird eine Annäherung an die beiden Fragestellungen versucht - zuerst aus Sicht eines Einrichtungsleiters, danach durch Ergebnisse einer Evaluation von 410 Fällen Geschlossener Unterbringung.
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26 unsere jugend, 63. Jg., S. 26 - 35 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art04d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Geschlossene Unterbringung: Risiko oder Chance? Sind Geschlossene Unterbringung und Pädagogik nicht ein Widerspruch in sich? Wie kann Erziehung im Zwangskontext gelingen, wenn doch Kooperation ein zentraler Wirkfaktor ist? Mit diesem Beitrag wird eine Annäherung an die beiden Fragestellungen versucht - zuerst aus Sicht eines Einrichtungsleiters, danach durch Ergebnisse einer Evaluation von 410 Fällen Geschlossener Unterbringung. von Prof. Dr. Michael Macsenaere Jg. 1959; Geschäftsführender Direktor der IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH Otto Schittler Jg. 1956; Geschäftsführer des Jugendwerkes Birkeneck „Ich werde euch vermissen“, hat Steve mit Edding auf ein Stück Folie gekritzelt. Es sieht aus wie ein gelber Müllsack. Widersprüchlich, wie so vieles bei der Geschlossenen Unterbringung (GU)? Eine emotionale Botschaft zum Abschied, scheinbar lieblos auf einen Müllsack geschrieben und mit einem Herz verziert! Was bedeutet der Müllsack? Obwohl, es ist ja kein Sack für Restmüll, sondern ein gelber Sack für Wertstoffe, also Ressourcen. Dieses Werk hängt nun neben anderen visualisierten Abschiedsgedanken im Treppenhaus der geschlossenen sozialtherapeutischen Clearingstelle im Jugendwerk Birkeneck (Bild 1). Es hat sogar den Sprung auf die Präsentations-CD für den Tag der offenen Tür geschafft. Noch so ein Widerspruch: Ist es Ironie oder im Erleben eines jungen Menschen, der sich mit einem Unterbringungsbeschluss des Gerichts nach § 1631 b BGB in Geschlossener Unterbringung befindet, vielleicht sogar Zynismus, dass zu einem Tag der offenen Tür in die geschlossene Gruppe eingeladen wird? Eine Journalistin nimmt an, die gruppendynamische Übung, zu deren Teilnahme die Besu- Bild 1 27 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung cherInnen eingeladen sind, würde von Nicole, einer aufgeweckten Sozialpädagogikpraktikantin, erklärt (Bild 2). Es stellt sich dann aber heraus, dass es sich um eine Bewohnerin der Gruppe handelt, die sich in der Ablösephase, gleichbedeutend mit höchster Ausgangsstufe, befindet und eloquent den Sinn der Übung erklärt. Sie berichtet ebenso über die Schwierigkeiten und Rückschlüsse, die KlientInnen und TherapeutInnen aus dem Verlauf der Übung erkennen, und darüber, was sie persönlich dabei gelernt hat. Beide Beispiele scheinen als Metaphern gut geeignet, die polarisierte Diskussion über Geschlossene Unterbringung als freiheitsentziehende Maßnahme der Jugendhilfe zu illustrieren. Erziehung unter Zwang - ein Widerspruch? Sind Geschlossene Unterbringung und Pädagogik ein Widerspruch in sich? Kann Erziehung im Zwangskontext gelingen, wenn doch Kooperation ein zentraler Wirkfaktor ist? Wer ist schon bereit, Ressourcen zu zeigen, wenn ihm ständig seine Defizite vorgehalten werden und diese als Begründung den Unterbringungsbeschluss des Familiengerichts legitimieren? Ist es zufallsverteilte oder fachlich begründete Diagnose, die aus der Palette von Hilfearten entweder zum öffentlich finanzierten „Urlaub unter Palmen“ oder in den „Kinderknast“ führen kann? Werde ich hier oder dort von selbst ernannten VollblutpädagogInnen und Gutmenschen oder von hoch qualifizierten, persönlich reifen Fachleuten betreut? Die Antworten werden selten eindeutig sein. Aber die ehrliche Zusammenschau von harten Daten (z. B. aus EVAS 2009) und weichen Faktoren (reflektiertes Erfahrungswissen von Fachleuten und Betroffenen) in einem transparenten Prozess kann einen verantwortlichen Umgang sowohl mit den jungen Menschen als auch mit den legitimen Bedürfnissen der Gesellschaft befördern. Nicole und Steve haben durchschnittliche Biografien für die Klientel in Geschlossener Unterbringung. Nicole, in einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen geboren und aufgewachsen, abwechselnd bei der Mutter, in Heimen, in der Psychiatrie, wieder zuhause, auf der Straße und schließlich in der Geschlossenen Unter- Bild 2 28 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung bringung. Steve mit Migrationshintergrund, ansonsten ähnliche Stationen, war zwischendurch bei den Großeltern in der Türkei. Mit der Polizei hatten beide häufigen Kontakt, aber wegen Strafunmündigkeit gab es bisher keine Verfahren oder Verurteilungen. Abweichendes Verhalten, zunächst oft als Opfer von Misshandlung, Missbrauch oder emotionaler und körperlicher Vernachlässigung, mussten viele Jugendlichen vor ihrer Geschlossenen Unterbringung ertragen. Leider wechselt ein hoher Anteil von der Opferin die Täterrolle oder ist beides. Als Ursachen finden wir in hoher Zahl und Ausprägung Bindungsstörungen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass eine Gemeinsamkeit der GU-Klientel häufige, auch intensive, aber wenig erfolgreiche Jugendhilfemaßnahmen im Vorfeld der Geschlossenen Unterbringung sind. 70 % der GU-Klientel hatten vor ihrer Aufnahme in die Geschlossene Unterbringung bereits mindestens eine (oft mehrere) vollstationäre Unterbringungen durchlaufen, wobei „nur“ 32 % der Klientel in offener Heimerziehung vorherige vollstationäre Unterbringungen aufweisen. Es wiederholen und festigen sich hier im Erleben der Kinder auf fatale Weise das Gefühl des eigenen Scheiterns und/ oder Machtphantasien und die Hilflosigkeit der HelferInnen. Wenn Aufnahmegrund (z. B. aggressives Verhalten) oft gleich Entlassungsgrund ist, stellt dies die Legitimation der Jugendhilfemaßnahme scheinbar in Frage. Hier ist zu prüfen, ob gewissenhaft exploriert wurde, ob Befunde erhoben sowie folgerichtige Diagnosen gestellt wurden, ob unter Einbeziehung der Betroffenen rechtzeitig die angemessene Erziehungshilfe ausgewählt wurde und sodann die konkreten Hilfen erbracht und kontrolliert worden sind. Der Weg in die Geschlossene Unterbringung wird von den jungen Menschen nur ausnahmsweise freiwillig angetreten. Würden sie sich freiwillig auf die fachlich angezeigte und vom Jugendamt angebotene Hilfe einlassen, entfiele der wichtigste Grund für die freiheitsentziehende Maßnahme. Dennoch lässt sich die Mehrheit der eingewiesenen Kinder überraschend schnell auf die enormen Einschränkungen ein. Die baulichen Voraussetzungen, transparente Gruppenregeln und der organisationspädagogische Tagesablauf vermitteln insgesamt einen sehr konsequenten Rahmen, der einerseits Sicherheit gibt, andererseits aber den Raum für individuell abweichendes Verhalten einschränkt (Schittler 2007). Die Individualität jedes Kindes findet ihre Entsprechung in der respektvollen persönlichen Betreuung durch BezugserzieherIn, LehrerIn, Gruppenteam, psychologischen Fachdienst und KonsiliarpsychiaterIn. Im Idealfall gelingt es, den nachvollziehbaren Widerstand gegen den Rahmen und die persönliche Veränderung in einem meist mühsamen Prozess bewusst abzubauen und in konstruktive Veränderungsmotivation umzuwandeln. Eine solche Entwicklung läuft natürlich nicht linear. Sollte es so scheinen, wäre dies eher ein Hinweis auf oberflächliche, instabile Anpassung. Die Spuren an Räumen und Mobiliar lassen deutlich erkennen, dass es gravierende Ausnahmen von der Regel gibt und/ oder Rückschritte in der Entwicklung mit zum Teil heftigen Aggressionsdurchbrüchen. Das Erleben, dass ein solches Verhalten nicht zum Abbruch der Betreuung und Beziehung führt und nicht nur ausgehalten wird, sondern dass auch beständig alternative Möglichkeiten erarbeitet und geübt werden, ist für viele Kinder in dieser Intensität eine neue Erfahrung. Aufbruch in die Freiheit Um diese Erfahrungen für sich selbst tatsächlich positiv werten und eine Veränderungsmotivation entwickeln zu können, ist es enorm wichtig, dass die Laborsituation des geschlossenen Wohngruppensettings nach mehreren Dimensionen offen ist und schließlich in eine offene Hilfe mündet. Laborsituation will hier verstanden werden als Ausschnitt der Wirklichkeit unter kontrollierten Bedingungen. Eine geschlossene Erziehungshilfe kann ohnehin 29 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung nur eine zeitlich begrenzte Eingangs- und Motivationsphase für indizierte Anschlusshilfen bieten. Freilich wird die erforderliche Zeitdauer individuell sehr unterschiedlich sein. Im Alltag der Wohngruppe zeigt sich, dass sich ein großer Teil der konkreten erzieherischen und therapeutischen Maßnahmen der Geschlossenen Unterbringung nicht oder kaum von offenen Hilfen unterscheidet, deshalb soll hier nur auf vier ausgewählte Schwerpunkte eingegangen werden. Erste Dimension: Realitätsbezug Innerhalb der Gruppe ist so viel Realitätsbezug wie möglich herzustellen. Dies gilt vorwiegend für die Organisation des Tagesablaufs, die sozialen Regeln des Zusammenlebens, den persönlichen Wohnbereich oder das schulische Lernen. Beim Freizeitverhalten können Indoor- Aktivitäten je nach Ausstattung der Einrichtung ohne große Einschränkungen praktiziert werden, wohingegen Outdoor-Aktivitäten in Abhängigkeit von den erreichten Ausgangsstufen sehr wohl beschränkt sind. Zweite Dimension: Kooperation Wie aus vielen Untersuchungen und praktischen Erfahrungen bekannt ist, kommt der Einbeziehung der Eltern eine enorme Bedeutung zu. Ob Offene oder Geschlossene Unterbringung macht in der Notwendigkeit keinerlei Unterschied, sehr wohl aber in der Erreichbarkeit der Eltern, vor allem, wenn die Unterbringung ohne ihre Zustimmung in Verbindung mit einem Sorgerechtsentzug geschieht. Es gilt die Grundregel: Je problematischer die Eltern- Kind-Beziehung ist, desto wichtiger und aufwändiger sind die Kooperationsbemühungen, auch wenn der Prozess sehr beschwerlich und oft wenig erfolgreich ist. Dritte Dimension: Selbstwirksamkeit Für die Persönlichkeitsentwicklung von problembelasteten Jugendlichen ist das Konzept der Selbstwirksamkeit von zentraler Bedeutung (Bandura 1997). Diese Jugendlichen verfügen selten über genügend konstruktive Strategien zum Umgang mit ihren Problemen (Gefühl der Hilflosigkeit, Erleben von Sinnlosigkeit, sich abgelehnt fühlen …). Sie resignieren häufig und greifen zu ungünstigen Bewältigungsstrategien (scheinbare Handlungskompetenzen wie Alkohol, Sucht, Aggression,Verhaltensauffälligkeiten, sozialer Rückzug, psychosomatische Krankheiten …). Für sie ist es wichtig, den Eindruck zu gewinnen, etwas bewirken zu können (z. B. über Projekte, sozial akzeptierte Leistungen) und sich als wertvoll zu empfinden. In kleinen Schritten können sie lernen, sich auch einem größeren Problem zu stellen und damit Selbstwirksamkeit erleben. Dabei ist entscheidend, dass der/ die Jugendliche die Überzeugung entwickelt, das für den angestrebten Erfolg erforderliche Verhalten selbst ausführen zu können - und dass er/ sie nach getaner Leistung auch auf sich selbst stolz sein kann. Eben diese Strategie zu entwickeln und auf der Handlungsebene die nötigen Schritte zu erlernen ist gerade im geschlossenen Setting wichtig, weil sich die räumlich begrenzte Freiheit zur Rationalisierung („ich bin ja eingeschlossen, darum kann ich nichts bewegen; wenn ich draußen wäre, hätte ich keine Probleme“) geradezu aufdrängt. Aufgabe der Fachkräfte ist die richtige Gestaltung der Lernfelder und -inhalte, deren Reflexion und die Verdeutlichung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. In engem Zusammenhang mit Selbstwirksamkeit stehen der Aufbau von Selbstkontrolle und damit korrespondierend der Abbau von Fremdkontrolle. Dabei müssen die Fachkräfte - mit Rückendeckung ihrer Leitung - verantwortbare Risiken eingehen. Vierte Dimension: Strukturqualität Die Strukturqualität als ein Teil der Qualitätsentwicklung fällt insbesondere bei Betrachtung der räumlichen, personellen und organisatorischen Variablen in der Geschlossenen Unterbringung ins Auge. Der gravierendste Unterschied zum offenen Heim liegt in der Tatsa- 30 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung che, dass die Wohngruppe mit Schul- und Freizeitbereich durch bauliche Maßnahmen abgeschlossen ist und nicht einfach verlassen werden kann. Es stellt eine besondere Herausforderung dar, eine wohnliche Atmosphäre mit persönlichen Rückzugsräumen bei gleichzeitiger Wahrung von Übersichtlichkeit und Robustheit der Ausstattung, Brandschutz mit Fluchtwegen und funktionaler „Weglaufhemmung“ herzustellen und eine anregende Lernumgebung mit Sicherheitsaspekten für Kinder und Fachkräfte zu vereinbaren. Trotz einer mehr oder weniger gelungenen„Quadratur des Kreises“ ist naheliegend, dass betroffene Kinder schon einmal den Vergleich mit einem Gefängnis formulieren (der pädagogisch, ggf. auch therapeutisch aufgegriffen werden muss). Nicht deshalb, sondern in Erfüllung einer legitimen Erwartung sind hohe Anforderungen an die fachliche und personale Professionalität der Fachkräfte zu stellen. Die Organisation ist sowohl vom Aufbau als auch vom Ablauf her transparent zu gestalten, und der Einblick von außen ist nicht nur zu gestatten, sondern zu fordern. Diese Transparenz gilt insbesondere für das juristische Unterbringungsverfahren, das Hilfeplanverfahren, die pädagogisch-therapeutischen Maßnahmen, deren Dokumentation und die Möglichkeiten für die Betroffenen, sich ohne Angst vor Repression Gehör zu verschaffen. Das macht eine permanente vom Einrichtungsträger zu gewährleistende Personalentwicklung, Supervision, Fort- und Weiterbildung und aussagekräftige Evaluation notwendig (Jugendwerk Birkeneck 2008). Es tut gut, am Ende eines gemeinsamen Weges zu hören: „Ich werde euch vermissen.“ Das werten wir als Bestätigung unseres Handelns und unserer Haltung. In der Arbeit mit jungen Menschen wissen wir, dass es eine, wenn auch nicht zufällige, Momentaufnahme ist, neben der es auch ganz anders geartete gibt. Sowohl das eine wie das andere soll weder zu Euphorie noch zu Pessimismus führen, sondern zur ehrlichen Reflexion, zum Blick nach vorne für die Aufgaben, deren Lösungen noch anstehen. Die Evaluation Für den vorliegenden Beitrag wurde der Datensatz der Evaluationsstudie erzieherischer Hilfen (EVAS) genutzt (Institut für Kinder- und Jugendhilfe 2009). Zurzeit liegen Daten von über 28.000 Hilfen vor. Sie stammen von mehr als 250 Einrichtungen aus Deutschland, Österreich, Luxemburg und den Niederlanden. In einem ersten Schritt konnten daraus über 700 Fälle gefiltert werden, die sich auf ein geschlossenes oder teilgeschlossenes Hilfesetting beziehen. In einem zweiten Schritt wurden daraus die 410 begonnenen Hilfen (davon 314 abgeschlossen) selektiert, die auf einer Rechtsgrundlage nach § 1631 b BGB basierten. Um eine Einordnung der vorliegenden Daten zu ermöglichen, werden diesen 410 GU-Fällen die Ergebnisse von 13.661 Hilfen nach § 34 SGB VIII (Heimerziehung) (davon 9.189 abgeschlossen) gegenübergestellt. Effektivität und Wirkfaktoren erzieherischer Hilfen Zum besseren Verständnis der unten dargestellten GU-Ergebnisse werden einführend einige ausgewählte Ergebnisse aus der Wirkungsforschung im Bereich der gesamten erzieherischen Hilfen vorgestellt. ➤ Erfolgsquoten: Trotz zum Teil schwierigster Ausgangslagen weisen die Hilfen zur Erziehung ausgeprägte Effekte auf: Zwischen 60 und 75 % der Hilfen zeigen einen positiven Verlauf mit zum Teil sehr ausgeprägten Effektstärken. ➤ Misserfolgsquoten: Die Untersuchungen belegen aber auch je nach untersuchter Hilfe(art) in 15 bis 35 % der Fälle negative Verläufe. Diese sind zwar nicht per se als Misserfolg zu interpretieren, sie lassen aber das Vorhandensein eines weiteren (Qualitäts-)Entwicklungspotenzials in den Hilfen zur Erziehung erahnen. 31 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung ➤ Nachhaltigkeit: Die wenigen zur Verfügung stehenden Katamnesen belegen der Jugendhilfe eine Nachhaltigkeit: Die Effekte, die während der Hilfe erreicht werden, bleiben in der Regel auch nach Hilfeende erhalten. Sowohl während wie auch nach der Hilfe werden beim jungen Menschen höhere Effektstärken erreicht als im familiären Umfeld. ➤ Risikofaktoren: Die Erfolgsaussichten sind reduziert, wenn es nicht gelingt, möglichst frühzeitig auf einen Hilfebedarf zu reagieren. Mit zunehmendem Alter und einer ausgeprägteren, verfestigten Symptomatik wird die Wahrscheinlichkeit eines positiven Abschneidens hingegen reduziert. Auch die Anzahl der zuvor in Anspruch genommenen und nicht selten gescheiterten Hilfen stellt einen Risikofaktor dar: Je mehr Hilfen in Anspruch genommen wurden, desto höher ist die „Änderungsresistenz“ des jungen Menschen, d. h. desto geringer ist die zu erwartende Effektivität. Es gilt daher, die durchaus nicht unüblichen Jugendhilfekarrieren zu vermeiden, indem frühzeitig eine adäquate Hilfe gewährt wird. In den Studien konnte eine Reihe von Faktoren bestimmt werden, die eine hohe Effektivität begünstigen. Hier eine Auswahl dieser Wirkfaktoren: ➤ Mitarbeiterqualifikation: Wird hier ein Minimalstandard unterschritten, steigt die Wahrscheinlichkeit für z. T. drastische Misserfolge an. ➤ Ressourcenorientierung: Eine stärkere Ressourcenorientierung im Jugendamt und in den Einrichtungen begünstigt die Effektivität wie auch die Nachhaltigkeit der erreichten Effekte. Die Hilfen, bei denen zumindest ein Hilfeplanziel die Förderung einer Ressource anstrebt, erreichen stärkere Effekte als Hilfen mit rein defizitorientierten Zielen. ➤ Kooperation: Als zentraler Wirkfaktor pädagogischer Arbeit zeigt sich die Kooperation von Eltern und/ oder jungem Menschen (Ochs 2008). Gelingt diese aktive Mitarbeit im Rahmen der Hilfe, verbessert sich die Aussicht auf Erfolg erheblich - unterbleibt sie, ist ein Misserfolg der Hilfe hochwahrscheinlich. Eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung ist die Partizipation von Eltern und jungem Menschen, die jedoch ergänzt werden muss um das stetige Bemühen, eine gelingende Hilfe zur Selbsthilfe zu schaffen. ➤ Hilfedauer: Erfolgreiche Jugendhilfe braucht Zeit: In vielen Studien zeigt sich ein hoher Zusammenhang zwischen der Dauer der Hilfe und den erreichten Effektstärken. In der Heimerziehung wird das maximale Effekt- Niveau erst nach ca. drei Jahren erreicht (weitere Ergebnisse zur Hilfedauer s. Santen 2010). Ergebnisse zur Geschlossenen Unterbringung: die Ausgangslage Die Gegenüberstellung der Ausgangslagen von Geschlossener Unterbringung nach § 1631 b (GU) und Heimerziehung nach § 34 SGB VIII (Heim) zeigt eine Reihe von inhaltlich bedeutsamen Unterschieden: Der Altersdurchschnitt bei GU-Beginn liegt bei knapp 14 Jahren und ist damit gegenüber der Heimerziehung um ein Jahr erhöht. 7 % waren direkt vor Hilfebeginn nicht sesshaft (Heim < 1 %). Im Leben der GU-Klientel gab es mehr Fluktuations-Erfahrungen außerhalb (z. B. 4,1 vs. 2,8 Wohnungswechsel) und innerhalb der Jugendhilfe: Sie nahm im Vorfeld häufiger und intensivere Jugendhilfen in Anspruch (Jugendhilfekarriereindex (10,9 vs. 6,5 Indexpunkte). In Einzelfällen liegen Vorerfahrungen mit 20 und mehr Jugendhilfen vor, darunter insbesondere mit Heim (70 %) und stationärer Psychiatrie (48 %). Der Anteil an polizeilich ermittelter Straffälligkeit ist im Vergleich zur Heimklientel mehr als verdoppelt (53 % vs. 24 %). Dabei sind sämtliche Hauptdeliktsgruppen repräsentiert - von Diebstahl über Raub bis hin zu Mord/ Totschlag. 32 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung Am häufigsten liegen Diebstahl/ Unterschlagung und Körperverletzung vor. Die meisten Wiederholungstaten beziehen sich auf Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz (durchschnittlich sechsmal) und auf Diebstahl/ Unterschlagung (durchschnittlich fünfmal). Auch Drogenkonsum (86 %) scheint den„Normalfall“ eines GU-Aspiranten darzustellen. Eine Reihe weiterer Variablen und Skalen werden in dem sogenannten Ressourcen- und Defizitindex gebündelt, die beide für die GU-Klientel Extremwerte ergeben, die von der Jugendhilfenorm abweichen. Die Defizitbelastung ist gravierend erhöht (62,7 vs. 45,1 Indexpunkte), während Ressourcen, Resilienzfaktoren und Capabilities weit unterdurchschnittlich ausfallen (26,3 vs. 48,5 Indexpunkte). Unter Berücksichtigung der oben skizzierten Forschungsergebnisse zu den Risiko- und Wirkfaktoren lässt sich zur Ausgangssituation der GU-Hilfen Folgendes resümieren: Es liegt eine als höchst problematisch zu bewertende Kombination von Risikofaktoren vor: Ausgeprägte Jugendhilfekarrieren, hohe Symptom- und Defizitbelastung bei gleichzeitig weit unterdurchschnittlichen Ressourcen und Capabilities, höheres Alter und eine hohe Straffälligkeitsquote. Diese - in Relation zu den bisher evaluierten Hilfearten - in negativer Sicht herausragende Kombination an Risikofaktoren stellt nicht nur für die PädagogInnen eine besondere Herausforderung dar, sie reduziert auch die Erfolgswahrscheinlichkeit der Geschlossenen Unterbringung erheblich (weitere Ergebnisse zur GU-Klientel s. Permien 2009). Prozessqualität während der Geschlossenen Unterbringung Auf die oben dargestellte, überaus herausfordernde Ausgangslage wird in den 9 evaluierten Einrichtungen mit einer intensiven Prozessqualität reagiert: So werden allein in den ersten 6 Monaten der Hilfe ergänzend zu der Hilfeplanung im Mittel 9 weitere interne Interventionsplanungen vorgenommen. Die Häufigkeit dieser „Feinjustierungen“ nimmt bis zum 4. Halbjahr der Hilfe sogar noch schrittweise auf über 14 Interventionsplanungen pro Halbjahr zu. Ein zentraler Punkt der Prozessqualität, mit erheblicher Auswirkung auf die Effektivität, betrifft die tatsächlich mit dem jungen Menschen durchgeführten Interventionen. Hier fällt auf, dass Lernförderung eine eher geringe Rolle spielt (53 %). Dagegen sind ressourcenorientierte (Musikpädagogik, Motopädagogik etc.) und heilpädagogische Verfahren (Ergotherapie, heilpädagogisches Reiten etc.) mit 83 % und 80 % quasi ein Regelangebot im Rahmen der Geschlossenen Unterbringung. Psychotherapeutische Interventionen kommen mit 75 % sogar fast dreimal so häufig zum Einsatz wie in der Heimerziehung. Ein solcher intensiver Einsatz von ressourcenorientierter Pädagogik, Heilpädagogik und Psychotherapie zieht in der Regel eine höhere Effektivität nach sich. Die Ergebnisse zur Kooperation der Beteiligten sind uneinheitlich: Der junge Mensch weist zu Beginn der Geschlossenen Unterbringung geringe Kooperationswerte auf, die aber im Verlauf der Hilfe sukzessive ansteigen. Die Kooperation der Mutter weist dagegen ein anderes Verlaufsmuster auf: Zu Beginn der Hilfe liegt eine gute Kooperation vor, die über den Hilfeverlauf allerdings etwas reduziert wird. Ein weiterer Indikator für Effektivität stellt die planmäßige und abgestimmte Beendigung der Hilfen dar. Diese beiden in Kombination eher schwierig zu erreichenden Kriterien liegen in der Heimerziehung in 38 % der abgeschlossenen Hilfen vor, in der Geschlossenen Unterbringung hingegen in 51 %. Vorzeitig oder unabgestimmt beendet wurden 19 % der 33 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung Hilfen auf Initiative vom Kostenträger, 16 % von dem/ der KlientIn und ebenfalls 16 % von der Einrichtung. Häufigster Grund für einen Abbruch der Hilfe war die fehlende Mitarbeit bzw. hemmendes/ negatives Verhalten des/ der KlientIn. Wie oben beschrieben übt auch die Hilfedauer einen Einfluss auf die Effektivität aus. Hier besteht im Rahmen der Geschlossenen Unterbringung das Dilemma, dass einerseits das geschlossene Setting so kurz wie irgendwie möglich zum Einsatz kommen sollte; auf der anderen Seite braucht Jugendhilfe - und dies gilt auch für die Geschlossene Unterbringung - Zeit, um wirken zu können. Die durchschnittliche Verweildauer in der Geschlossenen Unterbringung fällt mit 10,9 Monaten erheblich kürzer als in der Heimerziehung (17,5 Monate). Interessant wird also sein, ob Geschlossene Unterbringung in dieser relativ kurzen Zeitspanne hinreichende Veränderungen erreichen kann. Die Ergebnisse zur Prozessqualität legen nahe, dass der kontrovers bewertete Aspekt der Geschlossenheit in der Mehrzahl der untersuchten Hilfen für ein intensiv-pädagogisches Setting genutzt wurde, in dessen Rahmen der junge Mensch mit zunehmender Hilfedauer verstärkt kooperierte. Ergebnisqualität der Geschlossenen Unterbringung Der letzte Teil des Beitrags beschäftigt sich mit der Frage, ob es im Rahmen der evaluierten GU-Hilfen gelungen ist, trotz der kritischen Ausgangslage mit intensivpädagogischen Inter- 7 6 5 4 3 2 1 0 EVAS-Effektindex Abb. 1 34 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung ventionen zu positiven Ergebnissen zu gelangen. Hierzu wird der „EVAS-Effektindex“ herangezogen, der in einem Wert abbildet, inwieweit über den Gesamtverlauf der Hilfe positive (bzw. negative) Ergebnisse erreicht wurden. Dieser Index berücksichtigt gleichermaßen Veränderungen von Ressourcen wie auch von Defiziten des jungen Menschen sowie die Zielerreichungsgrade der Geschlossenen Unterbringung. Sowohl die Erfolgsquote wie auch die Effektstärke der Geschlossenen Unterbringung zeichnen ein positives Bild: In 65 % der untersuchten Hilfeverläufe wurde die Situation am Ende der Hilfe positiver als zu Beginn der Hilfe bewertet (Heim 60 %). Zur Effektstärke: Hier wird von der Heimerziehung ein guter Wert von 4,1 erreicht, der von der Geschlossenen Unterbringung sogar noch überboten wird (6,6). Der Unterschied ist auf die stärkeren Effekte der Geschlossenen Unterbringung im 2. Hilfeabschnitt zurückzuführen. Dies ist möglicherweise durch die über den Hilfeverlauf zunehmende Kooperation des jungen Menschen bedingt. Für die Nachhaltigkeit der Effekte ist die Resilienz des jungen Menschen von entscheidender Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist es erfreulich, dass ein Großteil der von Geschlossener Unterbringung erreichten Effekte auf den Anstieg der Ressourcen und damit auf die Stärkung der darin abgebildeten Resilienzfaktoren zurückzuführen ist. Hypothesenkonform sind die erreichten Effekte in hohem Maße von der Verweildauer abhängig (s. auch Stadler 2009): Bis zum 30. Monat nehmen die Effektstärken der Geschlossenen Unterbringung mit jedem Halbjahr sukzessive zu. Der Effektindex steigt von 4 Punkten nach 6 Monaten bis auf 14 Punkte nach 30 Monaten. Interessant - aber aufgrund der geringen Differenz nicht überzubewerten - ist ein geschlechtsspezifischer Effekt: Geschlossene Unterbringung erreicht bei weiblicher Klientel geringfügig höhere Effekte (6,7 vs. 5,0 Indexpunkte). Wie Stadler (2009) zeigen konnte, gibt es eine hohe Übereinstimmung zwischen der durch die verantwortlichen PädagogInnen bestimmten Effektivität („effect“) und der subjektiven Einschätzung der GU-Klientel („impact“): So erlebten zwei Drittel der im Mädchenheim Gauting untersuchten Klientel ihren geschlossenen Aufenthalt als hilfreich für ihre persönliche Weiterentwicklung - insbesondere betraf dies „Konfliktfähigkeit“. Einige ExpertInnen sehen eine zentrale Aufgabe von Geschlossener Unterbringung darin, einen Jugendlichen überhaupt erst„jugendhilfefähig“ zu machen. Daraus abzuleiten wäre, dass Geschlossene Unterbringung in der Regel eine individuell abgestimmte Anschlusshilfe benötigt. Die vorliegenden Daten bestätigen diese These: Für 64 % der GU-Klientel werden Anschlusshilfen geplant (Heim 47 %). Mehr als die Hälfte dieser Nachbetreuungen erfolgt in der Einrichtung, in der auch die Geschlossene Unterbringung erfolgte. Fazit Bei den untersuchten 410 (bzw. 314) GU-Hilfen konnten trotz schwerster Ausgangslagen und damit verbundener Risikofaktoren gute Ergebnisse erreicht werden. Es gelingt offenbar, das geschlossene Setting für intensiv-pädagogische Interventionen zu nutzen und damit einerseits die Defizite der Jugendlichen zu reduzieren und andererseits ihre Ressourcen merklich zu stärken. In diesem Sinne stellt Geschlossene Unterbringung für junge Menschen, die auf lange Misserfolgserfahrungen in der Jugendhilfe zurückblicken können, eine (möglicherweise letzte) Chance dar. Da die 35 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung Literatur Bandura, A., 1997: Self-efficasy: The exercise of control. New York Institut für Kinder- und Jugendhilfe, 2009: EVAS-Auswertung 2008. Gesamtbericht. Mainz Jugendwerk Birkeneck, 2008: Leistungsbeschreibung Sozialtherapeutische geschlossene Clearingstelle für Kinder. Birkeneck Junger-Tas, J./ Dünkel, F., 2009: Reforming Juvenile Justice. Heidelberg Macsenaere, M./ Knab, E., 2004: EVAS - Eine Einführung. Freiburg Ochs, M., 2008: Kooperation und Partizipation als Kernprozesse in der Jugendhilfe - systematische Folgerungen aus JULE, JES, EVAS und Co. In: Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung, 26. Jg., H. 3, S. 175 - 186 Permien, H., 2009: „Geschlossene Unterbringung“ in der Jugendhilfe statt „Warten auf den Knast“? In: Bindel-Kögel, G./ Karliczek, K.-M. (Hrsg.): Jugendliche Mehrfach- und „Intensivtäter“. Berlin, S. 169 - 187 Santen, E. v., 2010: Verweildauer in den erzieherischen Hilfen. In: Forum Erziehungshilfen, 16. Jg., H. 2, S. 97 - 99 Schittler, O., 2007: Geschlossene Clearingstelle - Orientierung geben durch strukturelle Grenzen bei inhaltlicher Offenheit. In: Knab, E./ Fehrenbacher, R. (Hrsg.): Perspektiven für Kinder- und Jugendhilfe - von der Heimerziehung zur Vielfalt der erzieherischen Hilfen. Freiburg i. Br., S. 196 - 210 Schmidt, M./ Schneider, K./ Hohm, E./ Pickartz, A./ Macsenaere, M./ Petermann, F./ Flosdorf, P./ Hölzl, H./ Knab, E., 2003: Effekte erzieherischer Hilfen und ihre Hintergründe (Schriftenreihe des BMFSFJ, Band 219). Stuttgart Stadler, B., 2009: Therapie unter Zwang - ein Widerspruch? Intensivtherapie für dissoziale Jugendliche im geschlossenen Mädchenheim Gauting. Marburg vorliegende Auswertung ausschließlich eine Aussage zur Effektivität während der Hilfe treffen kann, wäre zur Bewertung der Nachhaltigkeit eine ergänzende katamnestische Untersuchung - z. B. 5 Jahre nach Ende der Geschlossenen Unterbringung - von großer Relevanz. Prof. Dr. Michael Macsenaere IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH Saarstraße 1 55122 Mainz macsenaere@ikj-mainz.de Otto Schittler Jugendwerk Birkeneck gGmbH Birkeneck 1 85399 Hallbergmoos schittler@birkeneck.de
