unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2011
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Prostitution von Mädchen und jungen Frauen
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2011
Heike Zurhold
Anke Mohnert
"Rund 60.000 Euro, so errechnete es das Gericht, hat eine 16-jährige Prostituierte innerhalb von knapp vier Monaten erwirtschaftet. Unter dem Namen 'Angelique' bot sie ihre Dienste im Internet an. Ihr Zuhälter ließ die Minderjährige nachts von einem Chauffeur zu ihren betuchten Freiern fahren, die in noblen Hamburger Hotels residierten."
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65 unsere jugend, 63. Jg., S. 65 - 73 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art08d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Heike Zurhold Jg. 1966; Soziologin, Kriminologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des UKE Anke Mohnert Leiterin der Einrichtung „Sperrgebiet“ in Hamburg Prostitution von Mädchen und jungen Frauen Ein Leben zwischen Armut und Konsum „Rund 60.000 Euro, so errechnete es das Gericht, hat eine 16-jährige Prostituierte innerhalb von knapp vier Monaten erwirtschaftet. Unter dem Namen ‚Angelique’ bot sie ihre Dienste im Internet an. Ihr Zuhälter ließ die Minderjährige nachts von einem Chauffeur zu ihren betuchten Freiern fahren, die in noblen Hamburger Hotels residierten.“ (Die Welt vom 11. 12. 2009) Der Begriff Prostitution stammt von dem lateinischen „prostituere“ ab und bedeutet, sich „hinzustellen“ und sich für „sexuelle Handlungen öffentlich preiszugeben“. Prostitution ist als eine Dienstleistung zu verstehen, die in der Ausübung, Erduldung und Stimulation von sexuellen Handlungen gegen Entgelt oder gegen andere materielle Güter, wie z. B. Obdach oder Drogen, besteht. In Deutschland ist Prostitution seit Einführung des Prostitutions-Gesetzes (ProstG) am 1. Januar 2002 keine sittenwidrige Tätigkeit mehr. Das deutsche Prostitutionsgesetz zielt auf die Verbesserung der Arbeits- und Rechtsverhältnisse von Prostituierten ab. Seit Einführung des Gesetzes können Prostituierte ihren Lohn einklagen, sich krankenversichern und ihren Lohn versteuern. Um Jugendliche vor sexuellem Missbrauch zu schützen, ist die Prostitution erst ab einem Mindestalter von 18 Jahren legal. Zum Schutz Jugendlicher vor sexueller Ausbeutung ist am 5. November 2008 die Neufassung des § 182 StGB in Kraft getreten. Demnach sind sexuelle Handlungen mit Personen unter 18 Jahren strafbar, wenn ➤ die sexuellen Handlungen unter Ausnutzung einer Zwangslage stattfinden (Absatz 1), ➤ für die sexuellen Handlungen ein Entgelt entrichtet wird (Absatz 2). Dessen ungeachtet ist ein erheblicher Teil der Prostituierten in den großstädtischen Metropolen sowie in den Grenzregionen zu den osteuropäischen Staaten noch minderjährig. Zum Umfang der Minderjährigen in der Prostitution gibt es außer den Schätzungen von Hilfsorgani- 66 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen sationen keine verlässlichen Daten. So schätzen die Vereinten Nationen, dass pro Jahr weltweit rund 150 Millionen Mädchen und 73 Millionen Jungen unter 18 Jahren zum Sex gezwungen werden (Unicef 2009). In Deutschland gehen je nach Schätzung etwa 10.000 bis 20.000 Kinder und Jugendliche der Prostitution nach (vgl. Schenk 2008, 2). Eine von UNICEF unterstützte Studie in Tschechien zeigt, dass die Kinderprostitution für viele Kinder in der Grenzregion zu Deutschland zum Alltag gehört. Im Rahmen der Studie wurden von der Prager Karls-Universität 1.585 Schulkinder im Alter von 7 bis 15 Jahren in Prag und der tschechischen Grenzstadt Cheb interviewt (vgl. Schauer 2003). Von den befragten 844 Schulkindern in Cheb gab nahezu jedes siebte Kind an, bereits einmal von einem Erwachsenen Geld für Sex angeboten bekommen zu haben. Die Formen und Orte der Prostitution sind höchst vielfältig. Sex gegen Geld findet in Bars (Striptease- und Tabledancebars etc.), Bordellen, Sexkinos, Privatwohnungen, Sado-Maso- Studios, bei Haus- und Hotelbesuchen oder in Form der Straßenprostitution statt. Die einzelnen Formen der Prostitution unterscheiden sich nicht nur durch ihre jeweiligen Arbeitsbedingungen - zu denen insbesondere die Hygiene, Sicherheit, Arbeitszeiten und die Preise für sexuelle Dienstleistungen zählen -, sondern auch durch den Grad der Öffentlichkeit: ➤ Straßenprostitution als ein öffentlicher Ort, der schnellen Sex ermöglicht, oftmals jedoch aufgrund von Sperrgebietsverordnungen der Illegalität und damit der Kontrolle von Ordnungsbehörden unterliegt, ➤ die Wohnung als Ort für eine eher private und intimere Atmosphäre, die keine öffentliche Zurschaustellung erfordert und der behördlichen Aufsicht eher entzogen ist, ➤ das Internet als anonymer Ort der Kontaktanbahnung für eine verborgene Prostitution. Minderjährige Prostituierte sind gewöhnlich selten in Bordellen, einschlägigen Bars oder Clubs anzutreffen (vgl. Schenk 2008). Vielmehr findet die Prostitution von Mädchen und jungen Frauen eher im Verborgen statt wie in Discos, Bierlokalen, Parkanlagen oder Kundenkontakte werden per Internet und Mobiltelefon hergestellt. In der bereits erwähnten UNICEF-Studie wird bestätigt, dass die offene Kinderprostitution auf der Straße abgenommen hat. An der UNICEF Studie war Cathrin Schauer von dem Verein KARO e.V. maßgeblich beteiligt. Der Verein setzt sich seit 1994 grenzüberschreitend gegen Zwangsprostitution und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern ein. Nach Einschätzung von Schauer sind in dem Grenzgebiet zwischen Tschechien und Deutschland Versteigerungen von Kindern, ihr Kauf oder die Kontaktaufnahme via Internet durchaus verbreitet. Die sexuellen Handlungen finden dann in Hotels oder Wohnungen statt. Geschieht die erste Kontaktaufnahme in der Öffentlichkeit (z. B. auf Parkplätzen), wird ein Treffpunkt für die sexuelle Handlung mit dem Kunden vereinbart (Schauer 2003). Wege in die Prostitution Aus Praxis und Forschung ist belegt, dass kaum eine der Minderjährigen und der jungen Frauen ohne eine Vorgeschichte in das Prostitutionsmilieu gerät (vgl. Zumbeck u. a. 2003; Zurhold 2005). Bei nahezu allen Mädchen und Frauen sind dem Leben als Prostituierte Entwicklungsbedingungen vorausgegangen, die durch anhaltende Belastungen, krisenhafte Lebensphasen oder traumatische Lebensereignisse gekennzeichnet sind. Viele der Kinder, die sexuell ausgebeutet werden, kommen aus zerrütteten Familien, sind in Heimen untergebracht, haben Armut erlitten und leben in unsicheren Verhältnissen. In der UNICEF-Studie wird deutlich, dass minderjähri- 67 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen ge Prostituierte in der Grenzregion zu Deutschland in der Regel zumeist aus sozial benachteiligten, verarmten und kinderreichen Familien stammen. Aus den Interviews mit 40 betroffenen Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 bis 17 Jahren geht hervor, dass die Eltern oftmals arbeitslos und häufig drogenund/ oder alkoholabhängig sind. Die Kinder sind durch ihr verwahrlostes Äußeres aufgefallen und haben nur selten die Schule besucht (vgl. Schauer 2003, 35). Eine Hamburger Studie zu jungen Drogenprostituierten belegt, dass die Adoleszenz der späteren Prostituierten überproportional häufig durch eine Vielzahl an belastenden Lebensereignissen geprägt ist (vgl. Zurhold 2005, 89). In der Studie wurden 94 junge Mädchen und Frauen im Alter von 14 bis 27 Jahren zu ihrer Prostitutionstätigkeit interviewt. Die Mehrheit dieser jungen Drogenprostituierten schildert ihr Leben als Heranwachsende als eine Aneinanderreihung von krisenhaften Erlebnissen. So hat die Hälfte der Befragten die Trennung ihrer Eltern erlebt und/ oder die Substanzabhängigkeit ihrer Eltern. Über 60 % der Befragten waren als Kinder körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt, und 45 % wurden in Pflegefamilien, Jugendwohngruppen oder anderen Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht. Das Heranwachsen in dysfunktionalen Familien oder in einer Fremdunterbringung haben die jungen Mädchen und Frauen nicht nur als hochgradig belastend erlebt, sondern es hat ihr weiteres Leben aus subjektiver Sicht nachhaltig verändert (vgl. Zurhold 2005). Vernachlässigung, körperliche Misshandlungen und sexuelle Gewalt von Exhibitionismus bis hin zur Penetration haben die jungen Prostituierten bereits seit ihrer frühen Kindheit erlebt. In der Hamburger Studie erlitten die Mädchen und Frauen körperliche Gewalt durchschnittlich in einem Alter von 7 bis 8 Jahren und sexuelle Gewalt mit etwa 9 Jahren (Zurhold 2005, 120). Schlechte Entwicklungsbedingungen von Mädchen, die durch einen mangelnden Schutz vor Gewalt, ein Leben in Unsicherheit sowie durch ökonomische Notlagen gekennzeichnet sind, tragen zur Vulnerabilität für sexuelle Ausbeutung bei. ECPAT, die Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung, sieht in dem mangelnden Schutz von Kindern sowie in ihrer Armut wesentliche Ursachen für die sexuelle Vermarktung von Kinderkörpern (siehe www.ecpat.de). Als Reaktion auf die als unerträglich empfundenen Lebensbedingungen flüchten viele der Mädchen aus dem Elternhaus oder aus den Pflegefamilien. Das Ausreißen ist häufig mit einem Leben auf der Straße verbunden, wobei das Leben als Straßenkind den Beginn einer fortschreitenden Marginalisierung und Stigmatisierung markiert. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Grad der erlebten Belastung in der Kindheit und Adoleszenz und dem Leben als Straßenkind sowie dem Einstieg in die Prostitution und den Drogenkonsum (vgl. Zurhold 2005; siehe auch Straßenkinderreport Deutschland auf www.strassenkinderreport. de). Mädchen, die in ihrer Entwicklung schwerwiegenden seelischen und körperlichen Belastungen ausgesetzt waren, haben schlechte Bedingungen für den Start in ein eigenständiges und ökonomisch unabhängiges Leben. Mangelnde Berufschancen und Arbeitslosigkeit können sozial benachteiligte Minderjährige und junge Frauen dazu veranlassen, in der Prostitutionstätigkeit eine Variante zur Überlebenssicherung zu sehen (vgl. Schenk 2008; Schauer 2003). In der UNICEF-Studie bejahen 43 % der befragten Mädchen aus der Grenzstadt Cheb, in der Prostitution eine gute Möglichkeit zum Geldverdienen zu sehen. Nahezu 10 % der Mädchen konnten sich vorstellen, sich selbst zu prostituieren (siehe hierzu www. unicef.de/ presse/ pm/ 2005/ schuetzt-kindervor-sextouristen). 68 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen Abgesehen von den bereits genannten Auslösern für die Prostitutionstätigkeit stellt die Finanzierung des Konsums illegalisierter Drogen ein Motiv für diese Tätigkeit dar. Drogenprostituierte verwenden den Verdienst aus der Prostitution allerdings nicht ausschließlich zum Kauf von Drogen. Vielmehr stellt die Prostitution zeitweilig die primäre Einnahmequelle zur Finanzierung von Kleidung, Nahrung und Miete dar. Insofern ist die Drogenprostitution auch als eine Variante der Armutsprostitution zu verstehen. Insgesamt zeigt sich, dass oftmals existenzielle Notlagen, Armut und schlechte Entwicklungsvoraussetzungen die Entscheidung zur Prostitutionstätigkeit auslösen. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht von TAMPEP zur Prostitutionsszene in 25 europäischen Ländern resümiert die Risikofaktoren in Deutschland wie folgt: „Financial related pressures remain the main vulnerability factor for national sex workers. The most shocking result … is however that violence and abuse has been listed as the second main vulnerability factor for national sex workers” (TAMPEP 2010, 113). Mädchen und junge Frauen beginnen zumeist als Minderjährige mit der regelmäßigen Prostitution. Je gravierender die Entwicklungshemmnisse beim Heranwachsen sind, desto jünger sind die Mädchen, wenn sie in das Prostitutionsmilieu geraten - das zeigen die Ergebnisse der Hamburger Studie (vgl. Zurhold 2005). Alltag im Prostitutionsmilieu Laut TAMPEP (2010) findet die Prostitution in Deutschland zu 97 % in geschlossenen Räumen wie Bordellen und Bars etc. statt. Zugleich hat die Outdoor-Prostitution in den letzten Jahren leicht zugenommen, was auf den zunehmenden Anteil von DrogenkonsumentInnen und MigrantInnen in der Prostitution zurückgeführt wird. Nach polizeilicher Erkenntnis gibt es in Hamburg ca. 2.500 weibliche und männliche Prostituierte, davon sind 62 % MigrantInnen (vgl. Freie und Hansestadt Hamburg 2010). Prostitution als Erbringung einer sexuellen Dienstleistung wird im Folgenden als Sexarbeit bezeichnet - weniger um auf den Aspekt der „Erwerbsarbeit“ aufmerksam zu machen, sondern vielmehr, weil sie von den betroffenen Mädchen und Frauen als eine physisch wie psychisch schwere Arbeit erlebt wird. Die Intensität der Sexarbeit ist davon abhängig, ob diese für einen begrenzten Zeitraum, gelegentlich nach Bedarf oder kontinuierlich im Sinne einer hauptberuflichen Sexarbeit stattfindet. Bei Drogenprostituierten sowie bei minderjährigen Prostituierten ist davon auszugehen, dass sie der Sexarbeit üblicherweise nach Bedarf nachgehen. Ihre Arbeitszeiten unterliegen zumeist keinem festen Rhythmus und werden im Wesentlichen durch den jeweiligen Geldbedarf gesteuert. In der Hamburger Studie zu jungen Drogenprostituierten variierten die Arbeitszeiten zwischen 30 Minuten und 24 Stunden, wobei pro Tag zwischen 1 bis 25 Freier bedient wurden (vgl. Zurhold 2005, 182). Erforderliche Kompetenzen Sexarbeit erfordert von den Mädchen und Frauen komplexe Interaktionen, die jeweils mit spezifischen Anforderungen an die Professionalität und an das Sicherheitsmanagement verbunden sind. Die jeweils nötigen Interaktionen hat Antje Langer am Beispiel des Frankfurter „Drogenstrichs“ herausgearbeitet (vgl. Langer 2010). Ihrer ethnografischen Analyse nach gliedert sich Sexarbeit auf der Straße in folgende Phasen: Vorbereitung auf das Geschäft, Kontaktanbahnung zum Freier, Geschäftsverhandlung und Geschäftsabschluss. 69 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen Zur Vorbereitung auf das Geschäft gehört es insbesondere, mit ausreichend Kondomen und Gleitgel ausgestattet zu sein, eine funktionelle und zugleich bequeme Kleidung zu tragen und - im Falle des Drogenkonsums - den Vorrat an Drogen einzuteilen. In der Phase der Kontaktanbahnung ist vor allem die Kompetenz gefragt, verschiedene Risiken für die eigene Sicherheit richtig einzuschätzen. Unter den Bedingungen der illegalen Prostitution, wie es bei Minderjährigen der Fall ist, müssen Prostituierte für potenzielle Kunden erkennbar, gleichzeitig aber für Ordnungsamt und Polizei unauffällig sein. Aufgrund dieser widersprüchlichen Anforderung bleibt den Mädchen und Frauen wenig Zeit, das Risiko der Gewalttätigkeit durch den Freier zu beurteilen. Die eigentliche Geschäftsverhandlung beinhaltet das Aushandeln von Preis und Leistung und die Absprache zum Ort der Leistung (Langer 2010). Die Verhandlungen über den Preis sind ein neuralgischer Moment in der Kommunikation zwischen Prostituierter und Freier, da die Prostituierte ihre Preisvorstellungen für die sexuelle Leistung durchsetzen will, während der Freier den verlangten Preis drücken will. Oftmals haben Freier damit auch Erfolg, wie das folgende Zitat einer Befragten aus der Hamburger Studie verdeutlicht (Zurhold 2005, 186): „Welche wollen für 10 Euro. Gut, ich bin ehrlich, ich bin schon mal für 10 Euro mitgegangen und hab Verkehr gemacht. Kein Mädchen kann von sich sagen, sie sind nicht schon mal für 10 Euro mitgegangen“ (Melanie, 16 Jahre). Eine zentrale Anforderung beim Geschäftsabschluss besteht darin, auf der Verwendung von Kondomen zu bestehen, um sich vor Virusinfektionen und Geschlechtskrankheiten zu schützen. Überdies müssen die Prostituierten gegenüber dem Freier sicher auftreten, auf einer vorherige Bezahlung bestehen und unabgesprochene Sexpraktiken ablehnen (vgl. Langer 2010). Das erarbeitete Geld verbleibt offenbar nur in den wenigsten Fällen vollständig bei der Prostituierten. Den Erkenntnissen von TAM- PEP (2010) zufolge werden 65 % der deutschen Prostituierten und 80 % der AusländerInnen gezwungen, Geld an Zuhälter oder „Organisationen“ abzuführen. Gesundheit In der Sexarbeit nimmt der Konsum von legalen wie illegalen Drogen nicht selten einen festen Bestandteil des Arbeitsgeschehens ein. Der Konsum von Drogen ist keineswegs auf das Milieu der Drogenprostitution beschränkt. Vielmehr bedingen sich Prostitution und Drogenkonsum wechselseitig, denn legale wie illegale Substanzen haben im Prostitutionsgeschehen vielfältige Funktionen: ➤ In Bordellen und Bars gehört der Alkoholkonsum zur Arbeit, um die Kunden zu animieren und Hemmungen zu senken. ➤ Aufputschmittel und Kokain dienen dazu, die langen und nächtlichen Arbeitszeiten durchzustehen. ➤ Beruhigungsmittel werden geschluckt, um den täglichen Sex mit einer Vielzahl von fremden Männern zu ertragen und um schlafen zu können. In der Studie zu Prostituierten in Deutschland von Schröttle und Müller (2004) wird deutlich, dass nur eine Minderheit von 12 % der Befragten keinerlei Medikamente, Alkohol oder illegale Drogen in den letzten fünf Jahren zu sich genommen hat. Gegenwärtig ist vor allem der exzessive Alkoholkonsum unter Mädchen bedenklich. Laut der Drogenbeauftragten der Bundesregierung hat der problematische Alkoholkonsum in der Gruppe der 10bis 20-jährigen Mädchen und Frauen in den letzten Jahren erheblich zugenommen (Pressemitteilung des BMG vom 5. 10. 2010). Die Sexarbeit führt in der Regel dazu, dass sich der Konsum von Substanzen aller Art bei den Mädchen und Frauen im Laufe der Zeit erhöht. 70 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen Ebenso wie sich die Durchsetzung des Preises für die sexuelle Dienstleistung schwierig gestaltet, haben die jungen Frauen und vor allem die Mädchen Schwierigkeiten, die Nutzung eines Kondoms beim Freier durchzusetzen. In der Untersuchung von TAMPEP (2010) stellte sich heraus, dass Prostituierte unter dem permanenten Druck vieler Kunden und Barbesitzer stehen, auf Kondome zu verzichten. Ein Drittel der deutschen Prostituierten hat keine Kontrolle über die Safer-Sex-Praktiken, was auf mangelnde Kenntnisse der eigenen Rechte, eine fehlende professionelle Identität, Drogen- oder Alkoholabhängigkeit und Konkurrenz zurückgeführt wird ( TAMPEP 2010). Das Schutz- und Risikoverhalten von Drogenprostituierten haben Guggenbühl und Berger (2001) näher untersucht. Zu den häufigsten Risiken, die die Frauen eingegangen sind, gehören ungeschützter Oralsex und ungeschützter Sex in der Partnerschaft. Oralsex gilt als weniger infektionsriskant, sodass hierbei häufiger auf den Schutz durch Kondome verzichtet wird. In der subjektiven Gefahrenbeurteilung der Frauen haben Risiken wie Freiergewalt oder der Verlust von Selbstachtung Priorität. Demgegenüber stellt die Gefahr einer viralen Infektion ein untergeordnetes Risiko dar. Eine Strategie der Mädchen und Frauen zur Verbesserung ihrer Sicherheit besteht darin, sich einen festen Stamm an Kunden aufzubauen. Bei Stammfreiern ist das Gewaltrisiko geringer und zugleich sind die sexuellen Vorlieben und die Zahlungsmoral des Freiers bekannt. Andererseits erhöhen sich die gesundheitlichen Risiken der Prostituierten mit der Häufigkeit der sexuellen Kontakte und der zunehmenden Privatheit zwischen ihr und dem Kunden. Je privater die Geschäftsbeziehung zwischen Freier und einer Prostituierten wurden, desto häufiger waren die Sexualkontakte ungeschützt (vgl. Kleiber/ Velten 1994). Gewalt In der Sexarbeit ist das Risiko der Gewalt durch Freier alltäglich. Ob erwachsen oder noch minderjährig, ob Drogenprostituierte oder Migrantin, ob die Sexarbeit Indoor oder Outdoor stattfindet - Prostituierte werden in hohem Ausmaß Opfer von Freiergewalt (vgl. TAMPEP 2010; Schröttle/ Müller 2004; Zurhold 2005). In der Hamburger Studie wurde etwa die Hälfte aller befragten Drogenprostituierten bereits mehrfach von Freiern körperlich angegriffen, mit Waffen bedroht und vergewaltigt. Aus ihrer Sicht ist es nur eine Frage der Zeit, wann sie erstmalig oder erneut der Gewalt von Freiern ausgesetzt sind (vgl. Zurhold 2005, 129). In der Bundesstudie geben 31 % der befragten Prostituierten an, sich unsicher oder sehr unsicher bei der Sexarbeit zu fühlen (vgl. Schröttle/ Müller 2004, 55). Tatorte der Gewalt sind laut Bundesstudie zu 69 % die eigene Wohnung, zu 49 % öffentliche Orte wie der Park und zu 35 % die Wohnung von anderen. Auch die Kinderprostituierten im deutschtschechischen Grenzgebiet erleben in einem hohen Ausmaß Gewalt durch Freier und/ oder Zuhälter. Alle interviewten Kinder berichten von Gewalterfahrungen, wobei diese nicht selten in Körperverletzungen durch Schläge, Tritte und Schnitte bestehen (vgl. Schauer 2003). Die Untersuchungsergebnisse machen deutlich: Sexarbeit unterliegt faktisch einem hohen Gewaltrisiko. Opfer von Gewalt sind oftmals noch schlechter in der Lage, sich vor weiteren Gewalterfahrungen zu schützen. Vielmehr erleiden viele der Mädchen und Frauen mit Gewalterfahrungen eine fortgesetzte Viktimisierung. Folgen Die Folgen der Sexarbeit auf die Gesundheit, Selbstachtung und die Lebensperspektiven sind vielfältig und wirken insbesondere bei den 71 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen minderjährigen Prostituierten nachhaltig. Der Gesundheitszustand ist durch Fehlernährung, Schlafmangel, Infektionskrankheiten und unerkannte Geschlechtskrankheiten beeinträchtigt. ECPAT berichtet, dass minderjährige Prostituierte für Geschlechtskrankheiten besonders anfällig sind, da sie kaum über AIDS und sichere Sexualpraktiken aufgeklärt werden und selten in der Lage sind, auf einem geschützten Geschlechtsverkehr zu bestehen (vgl. www. ecpat.de). Minderjährige und junge Frauen befinden sich infolge der sexuellen Handlungen mit einer Vielzahl von Männern sehr häufig in einer desolaten psychischen Verfassung. Die psychischen Verletzungen äußern sich in Scham, einer verlorenen Selbstachtung und Ekel vor sich selbst. Die Zitate von zwei Drogenprostituierten aus der Hamburger Studie (Zurhold 2005, 202) sprechen hier für sich: „Ich liege nur da und lasse mich ficken, und die sind dann in drei, vier Minuten fertig, und das war’s dann. Ich fühle mich dreckig danach, immer dreckiger. So abgenutzt“ (Ann, 18 Jahre). „Dadurch, dass ich anschaffen gehe, habe ich schon drei, vier sehr schlimme Erfahrungen gemacht. Das hat mich vom Charakter her sehr verändert. Ich denke ganz anders über Menschen und Männer. … Mein Charakter hat sich geändert. Ich bin ängstlich und total misstrauisch. ... Manchmal weiß ich nicht weiter, habe Selbstmordgedanken. Dass ich mir alles versaut habe, dass ich keine Chance mehr habe, ins normale Leben reinzukommen. Ich bin aggressiv, depressiv, gleichgültig“ (Ulla, 18 Jahre). Das Leben als Prostituierte ist für viele der jungen Frauen mit traumatischen Erlebnissen verknüpft, die alleine kaum zu bewältigen sind. Hinzu kommt, dass sie sich angesichts der gesellschaftlichen Diskriminierung und Stigmatisierung ausgeschlossen und zurückgewiesen fühlen. Die Wahrnehmung, kein „normales“ Leben mehr führen zu können, lässt die Mädchen und Frauen verzweifeln, depressiv werden oder an Selbstmord denken. Soziale Arbeit für minderjährige Prostituierte Eine eigene Anlauf- und Beratungsstelle für minderjährige und heranwachsende Prostituierte ist in Deutschland auch heute noch einmalig. In Hamburg gibt es mit dem „Sperrgebiet“ eine Einrichtung, die sich speziell an sehr junge Frauen im Prostitutionsmilieu richtet (siehe auch www.diakonie-hamburg.de/ visitenkarte. sperrgebiet/ info.html? root=1). Die Minderjährigen und Heranwachsenden sehen ihre Sexarbeit in der Regel nicht als ihre zukünftige dauerhafte Erwerbstätigkeit. Sie kommen in die Anlaufstelle, um zu essen, zu duschen, zu übernachten, die anwesende Ärztin aufzusuchen und - für viele das Wichtigste - um über ihre täglichen Sorgen, über Liebe, das Anschaffen und auch über ihre Vergangenheit zu reden. Die Sozialpädagoginnen bieten ihnen einen verlässlichen Rahmen und unterstützen sie auf ihrem Weg. Vor dem Hintergrund der Kindheitserlebnisse ist Gelderwerb durch Sexarbeit für viele junge Frauen der Weg in die Selbstständigkeit und Freiheit. Sie wollen zwar kein Leben auf der Straße, aber sie wollen auch keinesfalls in das alte Leben zurück. Anhaltende Belastungen in ihrem aktuellen Leben, wie Suchtmittelgebrauch, Wohnungslosigkeit, Krisen und weitere Gewalterfahrungen, verhindern oft den Weg in ein eigenes unabhängiges Leben. Zugleich werden Jugendhilfeangebote, wie z. B. Jugendwohnungen, in der Regel abgelehnt. Sie benötigen Hilfe und Unterstützung bei ihrer Identitätsfindung, und das wiederum erfordert Kontinuität in der pädagogischen Beziehung. Hier setzt die soziale Arbeit mit ihnen an. 72 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen Bis Oktober 2008 konnte eine 16-Jährige offen mit ihrer Prostitutionstätigkeit umgehen. Sie war in der Straßenprostitution sichtbar, konnte mit Hilfe von Streetwork direkt dort angetroffen werden und in Kontakt mit Hilfeeinrichtungen kommen. Durch die Neufassung des §182 StGB wird die Prostitution Minderjähriger ausschließlich unter den strafrechtlichen Aspekten von sexueller Ausbeutung und Menschenhandel gesehen. Ohne Zweifel ist der Schutz vor sexueller Ausbeutung eine gesellschaftliche Aufgabe, in der Kinder und Jugendliche besonders zu beschützen sind. Dennoch darf das Sexualleben der Mädchen mit häufig wechselnden Partnern und/ oder gegen Entgelt nicht dazu führen, diese Mädchen als mögliche Folge der neuen gesetzlichen Regelungen moralisch abzuwerten oder ihnen mit dem Argument des Schutzes vor sexueller Ausbeutung den Zugang zu Hilfsangeboten zu erschweren oder gar zu verwehren. In der praktischen sozialen Arbeit mit minderjährigen Prostituierten kann eine solche „Opfersicht“ dazu führen, dass ihre Ressourcen nicht mehr genutzt werden können und dass der Ausstieg aus der Prostitution Priorität gewinnt. Erfahrungen zeigen jedoch, dass es sehr wohl 16-Jährige gibt, die wissen, worauf sie sich einlassen und die sich selbst sehr gut schützen können. Andere wiederum haben kaum eigene Schutzmechanismen gegen sexuelle Ausbeutung entwickelt. Wenn Mädchenprostituierte aufgrund ihres Alters „zwangsweise“ geschützt werden, besteht die Gefahr, dass sie über ihre Sexarbeit schweigen. In der sozialen Arbeit mit ihnen kann das kein Ziel sein. Es ist bereits heute zunehmend schwierig, sie zu erreichen, da die Prostitution Minderjähriger kaum noch öffentlich sichtbar stattfindet und damit auch mittels aufsuchender Arbeit schwer möglich ist. Zukünftig wird es umso wichtiger sein, dass die Mädchen die Hilfeeinrichtungen finden. Daraus folgt die Notwendigkeit, den Zugang zu den Unterstützungs- und Beratungsangeboten der Lebenswelt der Mädchen anzupassen, indem die Angebote auch über Internet und soziale Netzwerke bekannt werden. Auch ein anonymer Zugang zu den Hilfeangeboten trägt dazu bei, dass die jungen Prostituierten ihre Sexarbeit möglichst gesund gestalten und Alternativen zur Sexarbeit entwickeln bzw. Wahlmöglichkeiten sehen. Die meisten Mädchen und jungen Frauen erleben die Sexarbeit als äußerst belastend; sie träumen - so die Erfahrung der Beratungsstellen - von einem ganz normalen Leben. Allerdings werden Unterstützungsangebote für junge Menschen immer stärker begrenzt und enden zunehmend mit dem 21. Geburtstag - obwohl das SGB VIII Hilfen für junge Menschen bis zu einem Alter von 27 Jahren vorsieht, wenn sie vor dem 21. Lebensjahr begonnen wurden (vgl. § 41 Abs. 1 SGB VIII). Gerade junge Frauen, die mit Sexarbeit ihren Lebensunterhalt sichern, sozial benachteiligt und besonders stark stigmatisiert sind, benötigen die „Hilfe für junge Volljährige“, um nicht noch weiter marginalisiert zu werden. Soziale Arbeit mit minderjährigen und jungen Prostituierten muss deshalb - auch angesichts der neuen gesetzlichen Bestimmungen - frühzeitig einsetzen, mutig und aufsuchend gestaltet werden und auch ungewöhnliche Schritte gehen. Nur so kann sie auch wirken. Dr. Heike Zurhold Martinistraße 52 20246 Hamburg zurhold@uke.de Anke Mohnert Sperrgebiet Hamburg Rostocker Straße 4 20099 Hamburg mohnert@diakonie-hamburg.de 73 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen Literatur Freie und Hansestadt Hamburg, 2010: Runder Tisch Sexuelle Dienstleistungen. Bericht über Arbeit und Ergebnisse. Veröffentlicht am 2. Juni 2010 von der Fachabteilung Gesundheitsberichterstattung und Gesundheitsförderung, Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz. Hamburg. www.hamburg.de/ contentblob/ 2410912/ data/ ergebnisbericht.pdf Guggenbühl, L./ Berger, C., 2001: Subjektive Risikowahrnehmung und Schutzstrategien sich prostituierender Drogenkonsumentinnen. Eine qualitative Studie unter besonderer Berücksichtigung HIV-relevanten Risiko- und Schutzverhaltens. Forschungsbericht des Schweizer Instituts zur Suchtforschung für Beschaffungsprostitution, Nr. 134. www.suchtfor schung.ch/ download/ dateien/ ISF_Bericht_0134. pdf#search=%22Drogenprostitution%20Beschaf fungsprostitution%22, 15.11.2010, 156 Seiten Kleiber, D./ Velten, D., 1994: Prostitutionskunden. Eine Untersuchung über soziale und psychologische Charakteristika von Besuchern weiblicher Prostituierter in Zeiten von AIDS. Baden-Baden Langer, A., 2010: Auffallen ohne entdeckt zu werden. Interaktionen von Prostituierten und Freiern auf dem „Drogenstrich“. In: Benkel, T. (Hrsg.): Das Frankfurter Bahnhofsviertel. Devianz im öffentlichen Raum. Das Frankfurter Bahnhofsviertel - Soziologie eines Stadtteils. Wiesbaden, S. 183 - 210 Schauer, C., 2003: Kinder auf dem Strich - Bericht von der deutsch-tschechischen Grenze. UNICEF Deutschland, ECPAT Deutschland (Hrsg.). Bad Honnef. www. ecpat.de/ uploads/ media/ CathrinSchauer_Kinder_ auf_dem_Strich.pdf, 15.11.2010, 136 Seiten Schenk, G., 2008: Prostitution als Perspektive sozial benachteiligter junger Frauen? Vortrag auf dem 14. bundesweiten Kongress „Armut und Gesundheit“ vom 5./ 6. Dezember 2008. www.gesundheitberlin. de/ download/ Schenk,_Wiltrud.pdf, 8.11.2010, 5 Seiten Schröttle, M./ Müller, U., 2004: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Teilpopulationen - Erhebung bei Prostituierten. Veröffentlicht vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin TAMPEP (Hrsg.), 2010: TAMPEP National Mapping Reports. European Network for HIV/ STI Prevention and Health Promotion among Migrant Sex Workers. http: / / tampep.eu/ documents/ ANNEX%204%20National%20Reports.pdf, 15.11.2010, 313 Seiten UNICEF, 2009: UNICEF-Report 2009. Stoppt sexuelle Ausbeutung! Frankfurt am Main Zumbeck, S./ Teegen, F. u. a., 2003: Posttraumatische Belastungsstörungen bei Prostituierten. Ergebnisse einer Hamburger Studie im Rahmen eines Internationalen Projektes. In: Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, 51. Jg., H. 2, S. 121 - 136 Zurhold, H., 2005: Entwicklungsverläufe von Mädchen und jungen Frauen in der Drogenprostitution. Eine explorative Studie. Berlin
