eJournals unsere jugend 63/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
21
2011
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Zwischenruf: Warum Ungleichheit krank macht

21
2011
C. Wolfgang Müller
Wir alle wissen oder merken, dass sich in den letzten 30 Jahren in Europa und den USA die Einkommensschere zwischen "Arm" und "Reich" deutlich gespreizt hat. Wenige Reiche sind viel reicher geworden, viele Arme sind arm geblieben. Gewerkschaften, progressive politische Parteien und Bürgerbewegungen und eine auf vorsichtige soziale Umverteilung zwischen "Unten" und der "Mitte" bedachte Sozialpolitik haben bisher zwar verhindert, dass die absolute Armutsgrenze lebensbedrohlich nach unten verschoben worden ist. Aber die relative Armut in den meisten entwickelten Industrieländern hat zugenommen. Darüber gibt es inzwischen eine Fülle von empirisch gewonnenen, demografischen und sozialen Massendaten im internationalen Vergleich, die von den Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation kontinuierlich erhoben worden sind.
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78 unsere jugend, 63. Jg., S. 78 - 81 (2011) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. C. Wolfgang Müller Jg. 1928; emeritierter Prof. Dr. phil. für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik am Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin Zwischenruf: Warum Ungleichheit krank macht Ein neues Buch zerstört neoliberale Legenden Wir alle wissen oder merken, dass sich in den letzten 30 Jahren in Europa und den USA die Einkommensschere zwischen „Arm“ und „Reich“ deutlich gespreizt hat. Wenige Reiche sind viel reicher geworden, viele Arme sind arm geblieben. Gewerkschaften, progressive politische Parteien und Bürgerbewegungen und eine auf vorsichtige soziale Umverteilung zwischen „Unten“ und der „Mitte“ bedachte Sozialpolitik haben bisher zwar verhindert, dass die absolute Armutsgrenze lebensbedrohlich nach unten verschoben worden ist. Aber die relative Armut in den meisten entwickelten Industrieländern hat zugenommen. Darüber gibt es inzwischen eine Fülle von empirisch gewonnenen, demografischen und sozialen Massendaten im internationalen Vergleich, die von den Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation kontinuierlich erhoben worden sind. Sie zeigen etwa für Großbritannien die sich öffnende Schere zwischen „Arm“ und „Reich“ seit der Regentschaft von Margaret Thatcher (ab 1979) und seit der Präsidentschaft von Ronald Reagan in den USA, die seither auf hohem Niveau verharrt. Im internationalen Vergleich gibt es allerdings zum Nachdenken anregende Unterschiede zwischen einzelnen Ländern und Ländergruppen. In den skandinavischen Ländern Finnland, Norwegen, Schweden und Dänemark ist die Differenz am geringsten, in Großbritannien, Portugal, den USA und Singapur ist sie erschreckend hoch. Die Statistiken der Vereinten Nationen (Human Development Report 2006) basieren auf den jeweiligen Haushaltseinkommen nach Steuern, geteilt durch die Anzahl der Personen im Haushalt. Tatsachen wie diese werden in unseren veröffentlichten Meinungen nicht bestritten. Sie werden im Gegenteil für natürlich und notwendig gehalten, denn: „Leistung muss sich wieder lohnen“ und „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Unsere Arbeitskraft ist ebenso viel wert, wie sie„am Markte“ bringt. Die moderne, neoliberale Begründung für dieses offensichtliche Gesellschaftsgesetz ist alt. Sie reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück, als der englische Philosoph Thomas Hobbes erkannte, dass der damals aktuelle Kampf um knappe Lebens-„Mittel“ und das launische bisschen Glück zum Kampf aller gegen alle führen musste, bei dem nur die überlebten, die in der alten Standesgesellschaft „oben“ waren. Hobbes räumte allerdings ein, dass die ausgleichende Kraft eines starken Staates verhindern könnte, dass die Menschen in ihrem „Naturzustand“ verharrten und ein einsames, armseliges, rohes und kurzes Leben führen mussten. 79 uj 2 | 2011 Zwischenruf Die Französische Revolution verkündete mit ihrer Dreiheit von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ einen neuen Werte-Kanon: Freiheit von feudaler Willkür, Gleichheit aller Bürger vor neuen, reformierten Gesetzen und Brüderlichkeit (Schwesterlichkeit) aller Menschen im Umgang miteinander statt des archaischen „Kampfes aller gegen alle“. In dem Maße, in dem diese neue Dreieinigkeit in Vergessenheit geriet oder in dem das Konzept von „Gleichheit“ auf die Gleichheit vor dem Gesetz beschränkt blieb und nicht auf alle Zugänge zu einem erfüllten Leben ausgedehnt wurde, wurde die „naturgegebene“, „individuell verursachte“, „sozial akzeptierte“ und „gesellschaftlich legitimierte“ Ungleichheit der Menschen zum neuen Weltbild der Moderne, das die Wirkungen kapitalistischen Wirtschaftens erträglich machen, vielleicht sogar als folgerichtig erklären sollte. Selbstverständlich gab es grundsatztreue Gegenreden aus christlicher, humanistischer und sozialistischer Sicht. Aber in den Augen derer, die sich auf der Sonnenseite des Lebens angesiedelt wähnten, war der Gedanke eigentlich sehr beruhigend, dass es auch Menschen gab (ja, geben musste), die im Schatten lebten. Ein englischsprachiger Glaubenssatz spricht von der „importance of being one step up“ (der Bedeutung für das eigene Selbstverständnis, dass es Menschen gibt (und geben muss), die unter mir selber stehen). Inzwischen liefert uns die international vergleichende Sozialforschung eine Fülle von empirischen Daten, welche die inhumanen Wirkungen illustrieren, die eine solche gewollte oder geduldete Ungleichheit der Menschen im Hinblick auf ein erfülltes Leben und den Zugang zu den dafür notwendigen Lebensmitteln (und das sind nicht nur die Nahrungsmittel, die man beim Discounter kaufen kann) verursacht. Gerade haben zwei britische EpidemologInnen, Richard Wilkinson und Kate Pickett, eine Sekundäranalyse veröffentlicht, welche die Frage beantworten soll, warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Der Titel des Buches lautet Gleichheit ist Glück (2009). Die AutorInnen konstruieren eine Matrix mit 21 Ländern (und eine zweite Kontroll-Matrix mit den 50 US-Bundesstaaten) in der aufsteigenden Rangordnung von Ländern mit geringer bis hoher Einkommensungleichheit der Haushalte (pro Kopf und nach Steuern) und fragen, wie sich die Einkommensungleichheit auf eine Reihe von gesundheitlichen und sozialen Problemen auswirkt: ➤ Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit, ➤ Teenager-Schwangerschaften, ➤ Drogenkonsum und psychische Krankheiten, ➤ Fettleibigkeit, ➤ Gewalt und Gefängnisstrafen, ➤ intergenerativer sozialer Aufstieg. Besonders deutlich ist der Zusammenhang zwischen Lebenserwartungen einerseits und Einkommensungleichverteilung andererseits - und zwar unabhängig von den gesamtgesellschaftlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen im jeweiligen Bezugsland. Ein Baby, das in Griechenland zur Welt kommt (durchschnittliche Gesundheitsausgaben pro Kopf jährlich 3.000 $), hat eine wesentlich höhere Lebenserwartung als ein Baby, das in den USA das Licht der Welt erblickt (durchschnittliche Gesundheitsausgaben 6.000 $). Die Chance, das 65. Lebensjahr zu erreichen, ist für Afroamerikaner, die in Harlem (New York City) leben, wesentlich geringer als für Männer in Bangladesch. Zwar sind in den Industrieländern die alten „Armutskrankheiten“ (Tuberkulose, Typhus, Cholera) deutlich zurückgegangen. Aber gleichzeitig hat es eine neue Welle von Wohlstandserkrankungen gegeben: Krebs, Herz- und Kreislauferkrankungen, von denen nicht, wie man früher glaubte, die Wohlhabenden besonders betroffen sind (weil sie, so sagt man, unter Leistungsdruck und Arbeitsüberlastung leiden), sondern die unteren Schichten der Bevölkerung. So die Fachzeitschrift British Medical Journal 1996: „Unsere entscheidende Erkenntnis besteht darin, dass Sterblichkeit und Gesundheit in einer Gesellschaft weniger von ihrem Reichtum insgesamt abhängen, sondern von der Verteilung des Reichtums. Je gleichmäßiger der Reichtum verteilt ist, desto besser die Volksgesundheit.“ 80 uj 2 | 2011 Zwischenruf Besonders gut können wir diese Quasi-Gesetzmäßigkeit am Beispiel der „Fettleibigkeit“ studieren. Im ausgehenden Mittelalter war Übergewicht ein Ausweis von Herrschaftlichkeit. Maler des Barock stellten Herrscher als fettleibig aus und zeigten die schwellenden Reize ihrer Frauen. Armut war dürr, hohlwangig und mit schwarzen Ringen unter den Augen gekennzeichnet. Heute scheint es in den Industrieländern und in den Schwellenländern umgekehrt: Schlanke, hochgewachsene und gut trainierte Körper sind Zeichen von Privilegierung, Fettleibigkeit kennzeichnet weite Teile des „Prekariats“. Wilkinson und Pickett überschreiben das betreffende Kapitel: „Fettleibigkeit: Mit der Ungleichheit wachsen die Pfunde.“ In Ländern mit geringer Einkommensungleichheit (Norwegen, Finnland, Schweden, Dänemark) liegt der Prozentsatz übergewichtiger Erwachsener zwischen 10 und 15 %. In England, Portugal und den USA leiden 25 bis 30 % aller Erwachsenen unter Fettleibigkeit, die Übergewichtigen machen hier drei Viertel der Gesamtbevölkerung aus. Dieses neue Phänomen von „Armutsspeck“ ist nicht nur eine Frage der Ernährungsweise (etwa: das abgehangene Rinderfilet im Feinschmeckerlokal gegen den Schweinenacken mit Pommes bei McDonalds). Die beiden AutorInnen, als EpidemologInnen und ErnährungswissenschaftlerInnen ausgewiesen, tasten sich hier an eine sozialpsychologische Erklärungsweise heran, die sich von der überkommenen Armuts-Literatur unterscheidet. Sie gehen nicht von Lebenslagen aus, die durch absolute Armut (Hunger, Unterernährung, Mangelkrankheiten, fehlende Hygiene, ärztliche Unterversorgung) gekennzeichnet sind, sondern durch einen relativen Ressourcen-Schwund im Vergleich mit den Teilen der Bevölkerung, deren Einkommen im oberen Zehntel liegen. Wie kommt es, so fragen sie sich und uns, dass Menschen so deutlich auf gravierende Unterschiede in ihrer Lebensweise und ihren Lebens- Mitteln reagieren, dass dies zu einer Reihe gravierender gesundheitlicher Probleme und sozialer Ausfallerscheinung führt? Die AutorInnen folgern aus verschiedenen Untersuchungen aus verschiedenen entwickelten Industrieländern, dass mit der Ungleichverteilung von Lebens-Mitteln und Lebens-Chancen auch Zukunftsängste und psychische Krankheiten deutlich zugenommen haben. Nicht nur in den unteren Schichten und Bevölkerungen, sondern auch im sogenannten„Mittelstand“ haben Unsicherheit und Lebensangst zugenommen. Hier ist der Stress, dem wir uns ausgesetzt fühlen, nicht mehr ein Nebenprodukt von Leistungsorientierung und Überforderung, sondern ein Ausdruck von Angst, nicht mehr gebraucht zu werden, nichts mehr wert zu sein. Hier scheint Stress eine Form „sozialer Scham“ geworden zu sein. Scham, so die AutorInnen, bestehe aus einer Reihe von Gefühlen: „Man fühlt sich dumm, lächerlich, minderwertig, inkompetent, peinlich, ausgeliefert, verwundbar und unsicher. Scham und Stolz sind die wesentlichen Aspekte in dem psychischen Prozess, in dem wir unsere Vorstellungen davon internalisieren, wie andere uns sehen. Wir erfahren uns dabei aus der Sicht der anderen, und das Feedback bei dieser sozial bewertenden Betrachtung sind eben Stolz oder Scham … Vielen Menschen ist schon ein kleiner Verstoß gegen die sozialen Normen so peinlich, dass sie am liebsten im Boden versinken würden“ (Wilkinson/ Pickett 2009, 56). Den beiden AutorInnen sind sozialistische Lösungsversuche, um aus dem von ihnen bebilderten Dilemma herauszukommen, fremd. Sie sehen drei mögliche Lösungswege: Da ist zunächst der historisch gut dokumentierte „sozialstaatliche“ Lösungsversuch, Gleichheit oder doch mehr Gleichheit durch nachträgliche Umverteilung von Ressourcen und Zugangswegen zu Ressourcen herzustellen: durch ein reformiertes Steuersystem, das die wirklich Reichen wirklich und deutlich belastet und Steuerbetrug, Steuerflucht und Steuerbefreiung erschwert und arbeitspolitische, sozialpolitische, familienpolitische und bildungspolitische 81 uj 2 | 2011 Zwischenruf Chancen für jene eröffnet, die sie bitter nötig brauchen könnten. Da ist die Möglichkeit, durch gesellschaftspolitische und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen die Kluft zwischen den Erträgen aus Arbeit und den Erträgen aus Kapital und Kapital-Transaktionen deutlich zu verringern und dadurch Einkommensungleichgewichte zu reduzieren. Und da ist schließlich die Möglichkeit, den gemeinwirtschaftlichen Non-Profit-Sektor zu stärken und die Anteile der Betriebsvermögen in Arbeitnehmerhand zu erhöhen. Die Autoren sind letztlich hoffnungsvoll: „Wir können wieder Hoffnung schöpfen. Eine Hoffnung, die sich aus dem Wissen speist, dass (unsere) Probleme lösbar sind. … An unserer Generation wird es liegen, einen historischen Wandel anzustoßen, wie ihn die Geschichte bisher nicht kannte“ (ebd., 304). C. Wolfgang Müller Prof. Dr. Dr. h. c. Bozener Straße 3 10825 Berlin Literatur Hobbes, T., 1996: Leviathan. Hamburg United Nations Development Programme, 2006: Human Development Report. New York Wilkinson, R./ Pickett, K., 2009: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Berlin