unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Warteschleife oder Übergangssystem? Zur Notwendigkeit von Schulsozialarbeit an berufsbildenden Schulen
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Aladin El-Mafaalani
In Deutschland befinden sich jährlich etwa 500.000 Jugendliche - in der Regel aus "bildungsfernen" Familien - im sogenannten Übergangssystem zwischen Schule und Ausbildung bzw. Beruf. Diese "Warteschleifen" sind häufig Bildungsgänge an berufsbildenden Schulen. Dabei sollen Defizite, die in einer 10- und mehrjährigen Schullaufbahn nicht behoben werden konnten, nachträglich bewältigt werden. Ohne sozialpädagogische Unterstützung wird dies nicht gelingen.
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106 unsere jugend, 63. Jg., S. 106 - 115 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art12d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Warteschleife oder Übergangssystem? Zur Notwendigkeit von Schulsozialarbeit an berufsbildenden Schulen In Deutschland befinden sich jährlich etwa 500.000 Jugendliche - in der Regel aus „bildungsfernen“ Familien - im sogenannten Übergangssystem zwischen Schule und Ausbildung bzw. Beruf. Diese „Warteschleifen“ sind häufig Bildungsgänge an berufsbildenden Schulen. Dabei sollen Defizite, die in einer 10- und mehrjährigen Schullaufbahn nicht behoben werden konnten, nachträglich bewältigt werden. Ohne sozialpädagogische Unterstützung wird dies nicht gelingen. von Aladin El-Mafaalani Jg. 1978; Berufsschullehrer, Arbeits- und Sozialwissenschaftler, Doktorand und Dozent an der Ruhr- Universität Bochum und der Fachhochschule Dortmund Strukturen des beruflichen Ausbildungssystems In weiten Teilen der berufsbildenden Schulen sind Auszubildende, also SchülerInnen, die in Betrieben arbeiten und in Teilzeitform die Berufsschule besuchen, die Minderheit geworden. Dadurch wird im bestehenden System die „Ausnahme“ - nämlich an einer berufsbildenden Schule einen allgemeinbildenden Schulabschluss nachzuholen - zur Regel: Der Anteil derjenigen, die ihren letzten allgemeinbildenden Schulabschluss (sei es die Hochschulzugangsberechtigung, die Mittlere Reife oder den Hauptschulabschluss) an einem Berufskolleg (und nicht an Gymnasien, Gesamtschulen, Realschulen oder Hauptschulen) erworben haben, steigt zunehmend. Die Bildungsgänge der Benachteiligtenförderung - die hauptsächlich dazu dienen, allgemeinbildende Abschlüsse nachzuholen - gehören zu den teuersten Bildungsgängen in Deutschland. Selbst die Kosten pro Person und Jahr beispielsweise an Hochschulen und Hauptschulen sind geringer. Die „Warteschleifen“ im Bildungssystem verursachen enorme Zusatzkosten und bürden Berufsschulen Aufgaben auf, die nicht genuin im berufspädagogischen Feld zu verorten sind. Dies führt unweigerlich zu neuen Herausforderungen für Schulen und Kollegien. Nach Verlassen der allgemeinbildenden Schulen werden SchülerInnen im beruflichen Ausbildungssystem in drei Bereiche integriert: Ausbildungsklassen im dualen System, rein schulische Ausbildungsberufe und Bildungsgänge im sogenannten Übergangssystem. Abbildung 1 zeigt die Verteilung der jährlichen Neuzugänge in dem beruflichen Ausbildungssys- 107 uj 3 | 2011 Übergang ins Berufsleben tem. Hier kann ein stetiger Anstieg des sogenannten Übergangssystems (hierzu zählen nicht nur die Bildungsgänge an berufsbildenden Schulen, sondern auch die berufsvorbereitenden Maßnahmen von außerschulischen Trägern, insbesondere der Bundesagentur für Arbeit) zulasten des dualen Systems konstatiert werden, während die schulische Berufsausbildung stabil bleibt. Insbesondere das Wachstum in diesem Zeitraum von knapp 50 Prozent (von 341.137 auf 503.401 Jugendliche) stellt eine besondere Herausforderung dar. Dabei sind die Verhältnisse in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Während in Bayern lediglich 25 Prozent der Neuzugänge im Übergangssystem angesiedelt sind, liegt der Vergleichswert für Nordrhein-Westfalen bereits bei 49 Prozent. Der Bundesdurchschnitt von knapp 40 Prozent sollte beunruhigen. Der Anstieg ist nicht nur regional, sondern auch strukturell ungleich verteilt. Von 1995 bis 2006 ist die Anzahl der SchülerInnen in den besonders problematischen Bildungsgängen an beruflichen Schulen um 57 Prozent gestiegen und liegt heute bei etwa 170.000, die hier bundesweit jährlich neu einsteigen. Zu diesen Bildungsgängen zählen das schulische Berufsvorbereitungsjahr, das schulische Berufsgrundbildungsjahr und Jugendliche ohne Ausbildungsverhältnis in den Berufsschulen. Zusammen mit den SchülerInnen, die in den Berufsfachschulen, die keinen beruflichen Abschluss anbieten, unterrichtet werden, beträgt die Zahl bereits mehr als 350.000 (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008, 96ff ). Es handelt sich hier um Jugendliche, die bestenfalls einen Hauptschulabschluss aufweisen können - häufig nicht einmal diesen. Gerade diese Gruppe findet keinen Anschluss auf dem Arbeitsbzw. Ausbildungsmarkt und ist gezwungen, die Schullaufbahn an einer berufsbildenden Schule fortzuführen. Dies erweist sich häufig als Falle, denn das Übergangssystem hat kaum „System“. Die „Effektivität des Übergangssystems ist zu hinterfragen“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008, 9). Daher wird mittlerweile der Begriff„Übergangssektor“ als adäquater empfunden (Schelten 2009). Die Unübersichtlichkeit und die gleichzeitig wenig plau-sibel erscheinende Struktur der Benachteiligtenförderung werden letztlich auch nicht dazu beitragen, dass die Benachteiligten eine „echte“ zweite Chance bekommen. So bemerkt Bojanowski in diesem Zusammenhang: „Die herkömmliche Arbeits- oder Berufsvorberei- Abb. 1: Verteilung der SchülerInnen nach Verlassen der allgemeinbildenden Schulen Quelle: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008, 96 108 uj 3 | 2011 Übergang ins Berufsleben tung, mit der die jungen Menschen gefördert werden sollen, führt eher zu Stigmatisierung und Reduzierung der Arbeitsmarktchancen“ (2008, 33). Durch die ausführliche Auflistung verschiedener Formen der Benachteiligtenförderung wird bei Bojanowski (2008, 39) die kaum noch überschaubare Komplexität dieses Sektors deutlich. Im Übergangssektor befinden sich insgesamt über 500.000 SchülerInnen, die nach Durchlaufen dieser Bildungsgänge und Maßnahmen häufig kaum eine verbesserte Perspektive erwartet. Dies liegt insbesondere auch daran, dass in diesen Bildungsgängen kaum eine professionelle, zielgruppenadäquate pädagogische Arbeit geleistet wird bzw. werden kann. Schülerschaft und Lernvoraussetzungen Jugendliche, die nach Verlassen der allgemeinbildenden Schulen keine Ausbildungsreife erlangt haben, werden zunehmend an Berufskollegs betreut. Dort werden berufsvorbereitende Aufgaben übernommen, die es einer immer größer werdenden Gruppe von Jugendlichen ermöglichen sollen, Qualifikationen nachzuholen (meistens in Zusammenhang mit berufsbezogenen Kenntnissen). Diese Bildungsgänge sind gemeinhin unter den Bezeichnungen (Höhere) Berufsfachschule, Berufsgrundschuljahr (BGJ), Berufsorientierungsjahr (BOJ), Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) sowie Jugendliche ohne Ausbildungsverhältnis (JOA) bekannt. Hierbei handelt es sich also um solche SchülerInnen, die keine Ausbildungsstelle gesucht oder erhalten haben. Die meisten dieser Bildungsgänge haben eine Dauer von einem Jahr und sollen allgemeine und berufsbezogene Kompetenzen fördern bzw. entwickeln. Aus den bisher beschriebenen Zusammenhängen lässt sich nachvollziehen, wie eine typische Schülerkomposition in der Benachteiligtenförderung aussieht (hier am Beispiel der Klassen „Jugendliche ohne Ausbildungsverhältnis“ und „Berufsvorbereitungsjahr“). 1 Die Lerngruppen setzen sich zu großen Teilen (bis zu drei Vierteln) aus SchülerInnen mit Migrationshintergrund zusammen. Die Herkunftsländer dieser Lernenden liegen in süd- und osteuropäischen, in euroasiatischen sowie nordafrikanischen Gebieten. Die meisten sind in Deutschland geboren und besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Lernenden sind zwischen 16 und 25 Jahre alt und kommen hauptsächlich von Förder-, Haupt- und Gesamtschulen - in seltenen Fällen haben sie zuvor die Realschule oder das Gymnasium besucht. Sie haben in der Regel keinen qualifizierenden Schulabschluss, meist nicht einmal einen Hauptschulabschluss. In seltenen Fällen liegt allerdings sogar die Zugangsberechtigung zur gymnasialen Oberstufe vor. Hier sind es Motivations- und Orientierungsprobleme, an denen zusammen mit den Lernenden gearbeitet werden müsste. Auch in diesen Fällen stößt die Arbeit der Lehrkräfte an ihre Grenzen. Etwa ein Drittel der Lernenden hat mindestens eine Jahrgangsstufe wiederholen müssen. Ihre Erfahrungen mit Lehrkräften sind ebenso unterschiedlich wie die generelle Haltung gegenüber Schule. Nichtsdestoweniger weisen alle Lernenden einen (besonderen) Förderbedarf auf. Verhaltensauffälligkeiten, Konzentrationsprobleme, Lernschwierigkeiten, Schulmüdigkeit und Orientierungslosigkeit sind alltägliche Hindernisse für die SchülerInnen. Diese Umstände führen zu überdurchschnittlichen Fehlzeiten. Gleichzeitig lassen sich bei nahezu allen Lernenden in einzelnen Bereichen besonders gut entwickelte Fähigkeiten feststellen. 1 Im Folgenden fließen Erfahrungen aus der mehrjährigen Arbeit mit diesen SchülerInnen sowie aus Evaluationsprojekten ein, die sich weitgehend mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Begleitstudien decken (vgl. bspw. Schelten/ Folgmann 2007; El-Mafaalani 2010 a). 109 uj 3 | 2011 Übergang ins Berufsleben Die familiären Lebenssituationen sind ebenfalls unterschiedlich. Während einige Lernende selbst Mütter bzw. Väter sind und ihre Schullaufbahn aufgrund von Schwangerschaft und Erziehungszeit unterbrechen mussten, wohnen die meisten bei ihren Eltern, nicht selten bei nur einem Elternteil. Überdurchschnittlich häufig wurde den Eltern die Erziehungsberechtigung entzogen. Viele Familien sind von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Von großer Bedeutung für die Förderung von SchülerInnen ist das Motiv des Schulbesuchs. Die Fülle an Beweggründen reicht von erzielbaren Transferzahlungen oder schlichter Arbeitsmüdigkeit über die Erfüllung der Berufsschulpflicht bis zur stringenten Verfolgung eines bestimmten beruflichen Ziels. Dementsprechend ergibt der Blick auf das Arbeits- und Sozialverhalten sowie auf die Leistungsbereitschaft kein einheitliches Bild. Vielmehr können drei Gruppen von Schülern unterschieden werden (El-Mafaalani 2010 c). Ein Teil der Jugendlichen hat sich in einer Protesthaltung gegenüber Schule und Autorität eingerichtet und erweckt auf den ersten Blick den Anschein, als wäre das primäre Ziel, diese Haltung (bspw. durch Aggression und Respektlosigkeit) entschieden zum Ausdruck zu bringen (dieses Verhalten wird bereits von Willis (1977) in seiner Studie zu Arbeiterkindern in Großbritannien als schichtspezifisches Problem beschrieben). Ein anderer Teil hat sich zurückgezogen und ist in einer passiven Rolle gefangen. Genau dieses Verhalten wird häufig von Lehrkräften nicht als auffällig bewertet. Dabei kann bei einer Vielzahl dieser Lernenden ein negatives Selbstkonzept vermutet werden. Einem dritten Teil stand aufgrund spezifischer Lebenslagen nicht die Möglichkeit offen, auf direktem Wege die allgemeinbildende Schule erfolgreich zu beenden (bspw. aufgrund von Schwangerschaft, Todesfällen in der Familie oder schweren Krankheiten). Diese dritte Gruppe ist kaum einheitlich zu beschreiben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es sich bei diesen Klassen um Schülerkompositionen handelt, die sich nicht nur durch kulturelle Diversität auszeichnen, sondern auch durch Heterogenität in Bezug auf Alter, Reife, Kompetenzen, Erfahrungen, Voreinstellungen, Motivation und die sozialen Lebensumstände. Lediglich die schulischen Misserfolgskarrieren und das auffällige Verhalten haben prinzipiell alle gemeinsam, auch wenn in der genaueren Betrachtung dieser Ähnlichkeiten durchaus unterschiedliche Erscheinungsformen feststellbar sind. Etwa ein Viertel der SchülerInnen leidet unter massiven Problemen wie Analphabetismus, häuslicher Gewalt, sozialer Isolation, psychischen Störungen usw. Eine berufsbildende Schule kann in solchen Fällen ohne umfassende sozialpädagogische und psychologische Unterstützung den Herausforderungen nicht gerecht werden. Um diese Lebensumstände überhaupt erst festzustellen, bedarf es zusätzlich kooperativer Konzepte. Die Kooperation mit den entsprechenden Beratungsstellen wäre eine dringliche Notwendigkeit, der sich berufsbildende Schulen stellen müssen. Die betroffenen Lernenden werden in der gängigen Praxis derzeit lediglich als „Störfälle“ wahrgenommen, ohne dass dabei die Probleme diagnostiziert und Maßnahmen ergriffen würden. Woran liegt das genau? Strukturen eines Berufskollegs und der Arbeitsalltag der Lehrkräfte Die Bildungsgänge eines Berufskollegs erstrecken sich von der Berufsschule (Duales System aus Teilzeitschule und Betrieb) und der Fachschule (berufliche Weiterbildung) über die Höhere Berufsfachschule und das berufliche Gymnasium (zur Erlangung der Fachbzw. Allgemeinen Hochschulreife) bis hin zu den Bildungsgängen der Benachteiligtenförderung (Einfache Berufsfachschule, Berufsgrundschuljahr, Berufsvorbereitungsjahr, Jugendliche ohne Ausbildungsverhältnis). Die Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen müssen also eine Rei- 110 uj 3 | 2011 Übergang ins Berufsleben he von Lehrplänen, Richtlinien, Rahmenvorgaben, Verordnungen etc., die zudem beinahe jährlich erweitert bzw. überarbeitet werden, beachten. Durch den rasanten technischen und wirtschaftlichen Wandel müssen die Curricula zudem permanent angepasst werden. Dadurch müssen sich BerufsschullehrerInnen stärker fachlich weiterbilden und ihre Unterrichtsinhalte anpassen als Lehrkräfte an anderen Schulen. Dies stellt also eine Besonderheit berufsbildender Schulen dar (Ministerium 2007). Die didaktischen Konzeptionen, an denen sie sich zu orientieren haben, wandeln sich ebenso schnell wie fundamental. Die pädagogischen und didaktischen Wendungen in den Richtlinien, die sich oft wieder verändert hatten, bevor sie umgesetzt wurden, haben offensichtlich eher zu Verunsicherung und Veränderungsresistenz als zu einer Verbesserung der Unterrichtsqualität geführt. Von Lehrkräften werden diese Paradigmenwechsel häufig als „pädagogische Züge“ bezeichnet, auf die man aufspringen kann, was sich allerdings häufig nicht lohne, da diese Züge genauso schnell revidiert würden, wie sie gekommen seien. Die Erkenntnis, dass die Entscheidungsebene nicht schneller sein sollte als die Ausführungsebene, bestätigt sich hier offensichtlich. Die Schwierigkeit des Unterrichtens stellt sich für Lehrkräfte folgendermaßen dar: Sie sind als Fachlehrkraft für bis zu 300 SchülerInnen gleichzeitig verantwortlich. Diese befinden sich in durchschnittlich vier verschiedenen Bildungsgängen, die zwischen einem und drei Jahren andauern. Diese Lerngruppen verfügen dementsprechend über unterschiedliche Leistungsfähigkeiten: In manchen Klassen verfügen alle über eine Hochschulzugangsberechtigung (etwa Bankkaufleute), andere machen nachträglich einen Hauptschulabschluss (etwa Berufsorientierungsjahr). Entsprechend kann weder inhaltlich noch didaktisch von vergleichbaren Schwerpunktsetzungen gesprochen werden. In den Arbeitsalltag von Lehrkräften sind ferner Tätigkeiten wie Dienstbesprechungen, Fach- und Notenkonferenzen, Eltern- und Ausbildersprechtage sowie die Konzipierung und Korrektur von Klassenarbeiten, Nach- und Abschlussprüfungen, die teilweise von der Bezirksregierung begutachtet werden müssen, integriert. In regelmäßigen Intervallen (in der Regel alle zehn Unterrichtswochen) ist jede Lehrkraft zudem verpflichtet, allen Lernenden eine konkrete Leistungsrückmeldung, bspw. in Form von Quartalsnoten, zu geben. Das gilt sowohl für fachliche Leistungen wie auch für das Arbeits- und Sozialverhalten. Allein schon die Herausforderung, alle Lernenden angemessen kennenzulernen, um ihnen eine faire und transparente Leistungsbeurteilung zukommen zu lassen, erweist sich bereits als Schwierigkeit. So müssen z. B. viele Lehrkräfte am Anfang des Schuljahres die neuen Lerngruppen fotografieren, um gewährleisten zu können, in einem absehbaren Zeitraum den Gesichtern der SchülerInnen Namen zuzuordnen. Die Verwaltung der Schülerdaten (bspw. Anmeldungen in den Bildungsgängen oder Fehlzeiten), die Planung von Ausflügen und die Organisation der Elternarbeit (bspw. Klassenpflegschaft) kommen für die Klassenleitung zusätzlich hinzu. Diese vielfältigen Arbeitsbelastungen führen dazu, dass die Benachteiligtenförderung häufig das Stiefkind in der Hierarchie der Aufgaben darstellt. Das Unterrichten in „schwierigen“ Klassen wird in vielen Kollegiumskulturen weniger als pädagogische Herausforderung, sondern eher als Strafe interpretiert. Denn in der Arbeit mit sogenannten „SchulversagerInnen“ kommen weitere Aufgaben hinzu: Pflege einer angemessenen Umgangsform, Durchsetzung der Schulpflicht, Berücksichtigung kultureller und ethnischer Unterschiede, Streitschlichtung, Konfliktgespräche, Hilfe bei häuslichen Schwierigkeiten, Pausengespräche, Telefonate mit Eltern, Jugendamt und BewährungshelferInnen etc. All dies sind Herausforderungen, auf die die Lehrkräfte in keiner Phase der Lehramtsausbildung systematisch vorbereitet wurden und die auch kaum in den Arbeitsalltag in pädagogisch angemessener Form zu integrieren 111 uj 3 | 2011 Übergang ins Berufsleben sind. Trotzdem ist allen Akteuren klar, dass es sich nicht um ein kurzfristiges, sondern um ein dauerhaftes, strukturelles Problem handelt (Schelten 2009). Aus dieser Perspektive wird ersichtlich, dass die einzelne Lehrkraft vor einer kaum zu bewältigenden Aufgabe steht. Es werden Veränderungen notwendig, die sowohl das Unterrichtsgeschehen als auch die Personal- und Organisationsentwicklung betreffen, um umfassende Konzepte für den Umgang mit diesen neuen Herausforderungen zu entwickeln. Solche Konzepte müssten dem Anspruch gerecht werden, dass sie nicht allein auf Engagement und Kompetenzen einzelner Lehrkräfte basieren, sondern vielmehr Teil eines umfassenden (sozial-) pädagogischen Managements sind. Es geht also um Professionalität im Umgang mit dieser Herausforderung. Individuelle Förderung zwischen Profession, Kooperation und Management Aus vielen Richtungen wird die Forderung laut, dass die individuelle Förderung aller SchülerInnen die zentrale Leitidee der Arbeit aller Schulen sein sollte. So ist z. B. im Bundesland Nordrhein-Westfalen das Recht auf individuelle Förderung für jedes Kind und alle Jugendlichen in das Schulgesetz aufgenommen worden. Hierbei handelt es sich also um einen rechtlichen Anspruch. In einem viel beachteten Aufsatz stellt Andreas Schleicher (2007) einige zentrale Elemente individueller Förderung heraus. ➤ Die fortwährende Diagnose und Bewertung des individuellen Lernbedarfs und der Entwicklung jedes Schülers und jeder Schülerin in einer Form, die innerhalb universeller Bildungsziele objektivierbar ist. ➤ Lehr- und Lernformen, die nicht defizitär angelegt, sondern ressourcenorientiert, auf den/ die einzelnen SchülerIn zugeschnitten sind. ➤ Die individuelle Gestaltung von Lehrplänen in einer Weise, die jeden Schüler und jede Schülerin einbezieht und die Verschiedenheit in den Fähigkeiten, Interessen und Kontexten der SchülerInnen nicht als Problem, sondern als Potenzial guten Unterrichts sieht. ➤ Ein radikales Umdenken in der Organisation von Schule in einer Art und Weise, die den individuellen Lernfortschritt in den Mittelpunkt stellt und die die Schulen Verantwortung für ihre Ergebnisse übernehmen lässt, anstatt diese auf andere Schulformen oder Institutionen abzuwälzen. Es gibt sicherlich kaum jemanden, der diese Forderungen ablehnt. Diese begrüßenswerte Neuorientierung war zweifelsfrei überfällig. Allerdings sollen diese allgemeinen Forderungen von den Schulen in Eigenregie konkretisiert werden. Wie sollen Lehrkräfte dies unter den gegebenen Rahmenbedingungen umsetzen? Gerade BerufspädagogInnen sind zu lange davon ausgegangen, dass fertig erzogene junge Erwachsene kommen, die einen Ausbildungsplatz haben und in der Berufsschule nur noch (in Theorie) gebildet werden müssen. Selbst in der berufspädagogischen Forschung wurden diese Zielgruppen zu lange ausgeblendet (Bojanowski 2006). Die Tatsache, dass einige Lerngruppen ausschließlich aus ehemaligen Förder- und HauptschülerInnen bestehen, die keinen Ausbildungsplatz haben, lässt viele Kollegien im wahrsten Sinne des Wortes „verzweifeln“. Und die gesamte (Berufsschul-) Lehrerausbildung ignoriert weiterhin dieses wachsende Arbeitsfeld. Es führt kein Weg daran vorbei, die Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe weiter auszubauen. Derzeit ist es üblich, dass eine größere Schule mit über 1.500 SchülerInnen eine halbe (und befristete) Schulsozialarbeiterstelle zugewiesen bekommt. Häufig muss die Schule auf eine Lehrerstelle verzichten, um eine volle schulsozialpädagogische Fachkraft zu erhalten. Abbildung 2 zeigt, wie sich individuelle Förderung konkretisieren lässt. 112 uj 3 | 2011 Übergang ins Berufsleben Eine Reihe von vielversprechenden Konzepten scheitert daran, dass keine sozialpädagogische Expertise vorhanden ist (El-Mafaalani 2010 a). Dabei müsste der Versuch unternommen werden, alle Jugendlichen zu Beginn der Berufsschulzeit intensiv zu betreuen: Beispielsweise werden an manchen Schulen alle Lernenden zur Einschulung einem Lernstandstest unterzogen, um anschließend persönliche (Beratungs-) Gespräche mit ihnen zu führen. Auf dieser Grundlage der Erkenntnisse aus Lernstandstest und persönlichem Gespräch wird dann eine individuelle Diagnose des Lern- und Entwicklungsstands jedes einzelnen Schülers bzw. jeder einzelnen Schülerin erstellt. Daraus können individuelle Förderpläne abgeleitet und umgesetzt werden. Dieses ambitionierte Vorgehen erfordert ein hohes Maß an Engagement und Bereitschaft bei den Lehrkräften. Aber es benötigt auch besondere Kompetenzen in den Bereichen „pädagogische Diagnostik“, „individuelle Beratung“ und„Netzwerkpflege“, insbesondere zu Institutionen, die für die Biografie der Lernenden hilfreiche Anschlussmöglichkeiten bieten. Genau an diesen Herausforderungen scheitern häufig ganze Kollegien. Zum einen fehlen Zeit, Kenntnisse und Erfahrungen in diesen Feldern, zum anderen liegt häufig auch die Bereitschaft nicht vor. Zudem sind Lehrkräfte aus Sicht der Jugendlichen für gewisse Beratungsfelder auch nicht die richtigen Ansprechpartner - zu verfestigt ist ein bestimmtes Bild eines Lehrers. Um den Jugendlichen adäquate Unterstützungsangebote unterbreiten zu können, müssten außerschulische Problemlagen bzw. Wechselbeziehungen zwischen schulischer Situation und außerschulischen Lebensbedingungen betrachtet werden. In einer Reihe von Evaluationsprojekten (El-Mafaalani/ Toprak 2010 a, 2010 b; El-Mafaalani 2010 b) konnten folgende Abb. 2: Konkretisierung der Phasen und Aufgaben individueller Förderung 113 uj 3 | 2011 Übergang ins Berufsleben zentrale Ergebnisse bzw. Herausforderungen bei der Förderung benachteiligter Jugendlicher herausgestellt werden, die in Schulen nur unzureichend in die Förderplanung eingegliedert werden. ➤ Grundsätzliche Herausforderungen: Die Jugendlichen zeichnen sich durch einen sehr kurzfristigen Planungshorizont aus. Die Fähigkeit, ein Ziel zu benennen, anzuvisieren und die Zielereichung Schritt für Schritt zu steuern, ist eine - wenn nicht die - zentrale Herausforderung in der Arbeit mit benachteiligten jungen Erwachsenen. Viele Jugendliche können keine (realistischen) beruflichen Ziele benennen. Anderen fehlt die Motivation, ein anvisiertes Ziel systematisch und dauerhaft zu verfolgen. ➤ Die familiären Rahmenbedingungen werden durch die Schule nur unzureichend berücksichtigt. Insbesondere Jugendliche mit türkischem bzw. arabischem Migrationshintergrund stehen einem latenten Konflikt zwischen der (erwarteten) Loyalität in Bezug auf traditionelle Werte und Lebensstile der Familie auf der einen Seite und Selbstbestimmtheit auf der anderen Seite gegenüber. ➤ Hierbei sind es auch geschlechtsspezifische Differenzen, die es zu beachten gilt. Die zentralen Themen, die im Kontext abweichenden Verhaltens immer wieder eine Rolle spielen, sind: Männlichkeit und Weiblichkeit, Ehre, Stolz, Selbst- und Fremdwahrnehmung. ➤ Lebensberatung: Eine auf Schule bzw. schulspezifische Themen begrenzte Form der Beratung zeugt von einer mechanischen Problemwahrnehmung. Die Vorstellung, dass das schulische Lernen lediglich von Lernstilen und Lernmethoden abhängig und somit durch eine Optimierung des Unterrichts (Unterrichtsentwicklung, Unterrichtsmethoden und Schüler-Lehrer-Interaktion) zu lösen sei, entspricht nur der halben Wahrheit. Es sind sozialpsychologische Problemstellungen, die diesen Betrachtungen vorgeschaltet sind: Selbst- und Fremdwahrnehmung, Selbstwertgefühl, Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, Bedürfnisse aufschieben und Affekte kontrollieren, kurz: die Stärkung des ICHs. Die Schule ist derzeit noch immer kognitivistisch ausgerichtet. Die schulische Performanz wird von der Gesamtheit der Lebenslage beeinflusst. ➤ Ressourcenorientierung: Die Lebenslage stellt praktisch immer auch Möglichkeiten bzw. Anknüpfungspunkte zur Verfügung. So sind bei vielen Jugendlichen besondere Fähigkeiten zu erkennen. Diese ausgereiften Kompetenzen sind in der Regel solche, die für die erfolgreiche Schullaufbahn eher sekundär sind, für den Arbeitsmarkt aber durchaus relevant sein können. So liegen bspw. Sprachkenntnisse - wenn auch mit Defiziten - in drei und mehr Sprachen vor; viele Jugendliche verfügen über ein ausgeprägtes marktwirtschaftliches Denken; ausgeprägte Fähigkeiten in informationstechnischen und technisch-mechanischen Bereichen sind ebenso häufig vorhanden. Aber der zentrale Aspekt ist noch nicht genannt: Loyalität. Insbesondere benachteiligte Jugendliche suchen nach Gemeinschaft und Anerkennung. Dort, wo sie sich positiv wahrgenommen fühlen und eine individuelle Perspektive sehen, setzen sie sich mit voller Kraft ein und entwickeln ein starkes Loyalitätsempfinden. Permanente Misserfolge im Schulsystem führen nicht selten dazu, dass sie andere Anerkennungsformen verfolgen, die dann zu „Integrationsunwilligkeit“, „kriminellen Karrieren“ und „Extremismus“ führen. Diese tief verankerte Verhaltensnorm gilt es in der Schule einzubeziehen und nutzbar zu machen. Fazit Es scheint so, als würde im Bildungssystem die Prävention dauerhaft in den Mittelpunkt gerückt. So wichtig und richtig dies ist, so wichtig ist es auch, Konzepte für jene Gruppen zu entwickeln, die mit präventiven Maßnahmen nicht mehr erreicht werden können. Die klassischen 114 uj 3 | 2011 Übergang ins Berufsleben Antworten - Förder-, Nachhilfebzw. Zusatzunterricht und andere standardisierte berufsvorbereitende Maßnahmen - erweisen sich hierfür nur sehr bedingt als erfolgversprechend. Vielmehr sind umfassende pädagogische Konzepte erforderlich, durch die die Jugendlichen in ihren vielschichtigen Problemlagen unterstützt werden können. Die Berufsschule muss viel stärker als bisher erzieherische Bereiche übernehmen und ein Ort umfassender Beratung und Förderung werden, was sich sowohl durch eine gruppenbezogene Arbeit als auch durch eine Einzelfallarbeit ausdrückt. Insbesondere in diesem Arbeitsfeld sind die Stärken von SozialpädagogInnen zu verorten. Hierfür müsste ein partnerschaftliches Kooperationsmodell - von dem beide Seiten profitieren würden - implementiert werden (Speck 2005). Entsprechend wäre es von Bedeutung, dass die Schulsozialarbeit insgesamt aufgewertet wird und systematisch in den schulischen Alltag in der beruflichen Bildung integriert wird. Bisher kann die Schulsozialarbeit - dort, wo sie stattfindet - überwiegend Notfallhilfen bieten und hat kaum präventive Aufgaben. Sowohl im Hinblick auf die arbeitsrechtlichen Konditionen als auch in Bezug auf die konkreten Arbeitsbedingungen muss die Attraktivität dieses Arbeitsfelds erhöht werden. Auch die Lehrkräfte würden davon profitieren - nicht selten benötigen sie selbst Beratung und Hilfestellung. Aladin El-Mafaalani Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Sozialwissenschaft Universitätsstraße 150 44780 Bochum aladin.el-mafaalani@ruhr-uni-bochum.de http: / / homepage.ruhr-uni-bochum.de/ aladin. el-mafaalani/ Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2008: Bildung in Deutschland 2008. Bielefeld Bojanowski, A., 2006: Ergebnisse und Desiderata zur Förderung Benachteiligter in der Berufspädagogik. Versuch einer Bilanz. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 102. Jg., H. 3, S. 341 - 359 Bojanowski, A., 2008: Benachteiligte Jugendliche. Strukturelle Übergangsprobleme und soziale Exklusion. In: Bojanowski, A./ Mutschall, A./ Meshoul, A. (Hrsg.): Überflüssig? Abgehängt? 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