eJournals unsere jugend 63/4

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2011
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Der Lokale Aktionsplan für Demokratie und Toleranz der Stadt Dessau-Roßlau

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2011
Steffen Andersch
Am 8. Juli 2007 startete der Lokale Aktionsplan (LAP) in Dessau-Roßlau. Nach über drei Jahren Laufzeit und kurz vor dem Ende der ersten Förderperiode ist es Zeit, Bilanz zu ziehen.
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166 unsere jugend, 63. Jg., S. 166 - 170 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art18d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Der Lokale Aktionsplan für Demokratie und Toleranz der Stadt Dessau-Roßlau Am 8. Juli 2007 startete der Lokale Aktionsplan (LAP) in Dessau-Roßlau. Nach über drei Jahren Laufzeit und kurz vor dem Ende der ersten Förderperiode ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. von Steffen Andersch Jg. 1971; Sozialberater, Koordinator des Lokalen Aktionsplans Dessau-Roßlau Dabei gilt es in einem selbstkritischen Prozess, Fragen zu stellen und diese transparent zu beantworten. Es geht also um Erfolgs- und Evaluationsindikatoren. Hat der Lokale Aktionsplan seine selbstgesteckten Ziele erreicht und wenn nicht, welche Faktoren sind dafür verantwortlich? Ist die Gesamtstrategie aufgegangen, und wurden alle Handlungsfelder gleichermaßen berührt? Haben die Einzelprojekte dazu beigetragen, Veränderungsprozesse in der Stadtgesellschaft anzustoßen, sind sie mithin bei den Menschen angekommen? Welche nachhaltigen Perspektiven in der Präventionsarbeit wurden entwickelt, und welche Elemente der Verstetigung von gewachsenen Strukturen und erprobten Modellen sind zu konstatieren? Dieser Beitrag stellt sich diesen Fragen. Wie bei allen Lokalen Aktionsplänen ging es in Dessau-Roßlau zunächst darum, die Problemlagen zu identifizieren und entsprechende Leitziele zu formulieren sowie adäquate Projekte zu implementieren. Als relevant wurden folgende Problemlagen betrachtet: ➤ Manifester und virulenter Rechtsextremismus in der Stadt ➤ Wirksame Konzepte für die Demokratieentwicklung sind in der Kommune nicht ausreichend entwickelt, d. h. Träger und Initiativlandschaft sind im Handlungsfeld nicht effektiv vernetzt und viele Projekte arbeiten aneinander vorbei oder parallel zueinander. ➤ Eine öffentliche Debatte um Demokratie und Toleranz und die Verankerung von demokratischer Alltagskultur ist erforderlich, findet aber zu wenig statt. Ausgehend von diesen Problemlagen wurden die folgenden Leitziele entwickelt: ➤ Öffentlichkeitswirksames Engagement für Demokratie und Toleranz, d. h. bestehende Bündnisse werden weiterentwickelt, staatliche und nicht-staatliche Akteure werden effektiver vernetzt. ➤ Professionalisierung und Qualifizierung des bürgerschaftlichen Engagements. ➤ Aufklärung über Demokratieentwicklung und Engagement gegen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. 167 uj 4 | 2011 Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus In Dessau-Roßlau wurden im Rahmen des Lokalen Aktionsplanes bislang 56 Einzelmaßnahmen, davon 19 integrierte Projekte und 37 Mikroprojekte, mit einem Gesamtbudget von 389.000 Euro unterstützt. Die hohe Qualität der meisten eingereichten Konzepte lässt sich daran ablesen, dass von den 83 Anträgen fast 70 % als förderfähig beschieden wurden. Mit allen LAP-Projekten zusammen erreichten die Träger 27.500 Menschen, was einem Teilnehmerdurchschnitt von 490 pro Einzelmaßnahme entspricht. Die Tabelle 1 gibt einen Überblick über die inhaltlichen Ansätze der geförderten Projekte. Der Schwerpunkt aller bisher geförderten Projekte liegt in Handlungsfeldern, die sich der Demokratieentwicklung, der Ausweitung von Mitbestimmungsprozessen und der Menschenrechtserziehung verpflichtet fühlen. Genau zwei Drittel aller Projekte (36) sind diesem Feld zuzuordnen. Dieser im Handlungskonzept des Aktionsplanes als besonders wichtig erachtete Bereich ist damit auf der Projektebene mehr als adäquat vertreten. Nur geringfügig kleiner, mit knapp 61 %, ist der prozentuale Anteil der 34 Projekte, die sich der präventiven Auseinandersetzung mit der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus) beschäftigen. Damit reagiert der Lokale Aktionsplan Dessau-Roßlau auf einen nach wie vor evidenten Bedarf. Die Doppelstadt nahm im vergangenen Jahr (2009) einen Spitzenplatz bei rechtsextrem motivierten Gewalttaten in Sachsen-Anhalt ein (vgl. Netzwerk GELEBTE DEMOKRATIE 2010, 10ff ). Zudem bewegen sich rechtsextreme Propagandadelikte und Ereignisse im öffentlichen Raum in der Region unvermindert auf einem hohen Niveau. Auch wenn es auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, haben gerade diese Projekte zu einer geschärften Wahrnehmung in der öffentlichen Debatte um rechte und rassistische Gewalt beigetragen. Eine Konsequenz daraus: In Dessau-Roßlau werden viel mehr Fälle bekannt als anderswo im Land. Ein Faktor, der, zusammen mit der gestiegenen Anzeigenbereitschaft der Betroffenen und Geschädigten, das hohe Fallaufkommen erklären kann. Immerhin 40 % aller Projekte (22) befördern Elemente der interkulturellen und interreligiösen Bildung - vor allem, um den in der Stadt unüberhörbar verhafteten alltagsrassistischen Diskurs zu problematisieren, der zweifellos ein nicht unerhebliches Integrationshemmnis darstellt. Diese Projekte setzen zum einen auf Qualifizierungsmodule, zum anderen auf Bausteine der direkten Begegnung, zumeist ohne dabei - gut gemeint oder ungewollt - kulturalistische Klischees noch zu verstärken. Damit stellen die Bildungsträger, Sportvereine, Stadtteilzentren und Migrantenselbstorganisationen vor allem Zahl der Projekte Handlungsfeld/ inhaltlicher Schwerpunkt 22 Projekte der interkulturellen/ interreligiösen Bildung und Sensibilisierung 36 Projekte zur Demokratieförderung, Menschenrechtserziehung und Beteiligungsorientierung 34 Projekte zur Auseinandersetzung mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus) 19 Projekte zur systematischen Fort- und Weiterbildung lokaler AkteurInnen 18 Projekte an und mit Schulen 10 Projekte mit lokalhistorischem Bezug Tab.1: Projektzuordnung nach Handlungsfeldern und inhaltlichen Schwerpunkten Mehrfachnennungen pro Projekt sind möglich, da sich konkrete Einzelmaßnahmen innerhalb der Projekte nicht immer ausschließlich nur einem Schwerpunkt zuordnen lassen. 168 uj 4 | 2011 Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus ein strukturelles Defizit der Kommune in den Mittelpunkt ihrer strategischen Überlegungen: den geringen Anteil von Menschen ohne deutschen Pass. Der Ausländeranteil beträgt in Dessau-Roßlau gerade einmal ca. 2,3 %. Dadurch sind Begegnungen zwischen MigrantInnen und der deutschen Mehrheitsbevölkerung an der Supermarktkasse, im Verein oder dem Sonnenstudio nahezu ausgeschlossen. Das wiederum hat zur Folge, dass erworbene und verhaftete Stereotype durch Alltagserfahrungen nur schwerlich abgebaut werden können. Die 18 Maßnahmen - somit ein Drittel des Gesamtaufkommens -, die an oder mit Schulen durchgeführt werden konnten, zeigen, dass der Lokale Aktionsplan mit seinen Angeboten in diesem Sozialraum ankommt. Einige dieser Maßnahmen versuchen indes, in den Einrichtungen durch beteiligungsorientierte Projektansätze einen Prozess der schulinternen Demokratisierung voranzubringen. Dies gelingt bislang nicht immer. Auf der Ebene der geförderten Bildungsprojekte ist zudem festzuhalten, dass der Bereich der Erwachsenenbildung bislang deutlich unterrepräsentiert ist. Die Gründung des Netzwerkes GELEBTE DEMO- KRATIE in Dessau-Roßlau kann als zentrale Verstetigungsstufe im bisherigen Wirken des Lokalen Aktionsplans angesehen werden. Durch die aktive Einbindung von Menschen, Institutionen und Wirtschaftsunternehmen, die bisher kaum oder nur sehr marginal als Träger der LAP-Philosophie identifiziert werden konnten, öffnen sich Türen, entstehen andere Perspektiven und Zugänge: offene Türen, die es ermöglichen, mit der Idee einer demokratischen Alltagskultur Zielgruppen zu erreichen, die sich der intensiven Werbung zum aktiven Mitgestalten bislang eher entzogen haben; neue Zugänge in der Ansprachekultur, die bei den AdressatInnen reflexiv ankommt und somit Motivations- und Sensibilisierungsschübe auslösen kann. Während der Lokale Aktionsplan in den letzten 36 Monaten trotz steter Bemühungen seine Leitziele nicht in maßgeblichen kommunalen Entwicklungskonzepten festschreiben konnte, ist dies nun mit dem Netzwerk GELEBTE DEMOKRA- TIE erstmals gelungen. Und das sogar im bis 2025 gültigen „Konzept der Konzepte“: dem Stadtleitbild (vgl. Stadt Dessau-Roßlau 2010, 35). Die Realisierung des Lokalen Aktionsplanes hat es zudem erstmals in einem nennenswerten Umfang geschafft, dass staatliche und nichtstaatliche Organisationen strategisch zusammenarbeiten. Diese Kooperation auf Augenhöhe kann erfreulicherweise inzwischen auch für das Netzwerk GELEBTE DEMOKRATIE ausgemacht werden. Eine gleichberechtigte Kommunikation und Interaktion zwischen Vereinen, Initiativen und der Verwaltung baut nicht nur gegenseitige Barrieren und Vorurteile ab, sondern ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass Veränderungsprozesse im kommunalen Gemeinwesen tatsächlich angestoßen werden und sich letztlich in ein konkretes Handeln transformieren. Die abgestimmte Öffentlichkeitsarbeit zwischen den LAP-Gremien und Projektträgern greift erfolgreich. So sind die Zugriffszahlen auf die Homepage, auf der u. a. ausführlich Projekte vorgestellt werden, in den letzten zwölf Monaten gestiegen. Lokale und regionale Medien haben in weit über 400 Beiträgen, Artikeln und Features über Einzelprojekte und den gesamten Lokalen Aktionsplan berichtet. Gerade im Bereich der strategischen Öffentlichkeitsarbeit schlägt sich die Unterstützung durch die Verwaltungsspitze, den Oberbürgermeister der Stadt Dessau-Roßlau, positiv nieder. Nicht zuletzt dadurch ist der Lokale Aktionsplan in der Stadt als Marke sichtbar. Ausblick und Herausforderungen In der Doppelstadt Dessau-Roßlau können mehrere gesellschaftspolitische und strukturelle Faktoren beschrieben werden, die die weitere Ausprägung einer demokratischen Alltagskultur hemmend beeinflussen. Für die 169 uj 4 | 2011 Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus Umsetzung der Gesamtstrategie des Lokalen Aktionsplans leiten sich daraus zukünftige Herausforderungen ab. Eine besteht zweifellos darin, die inhaltliche und operative Ausrichtung des Netzwerkes GELEBTE DEMOKRATIE permanent zu begleiten und damit zu qualifizieren. Die professionelle und beteiligungsorientierte Weiterentwicklung des bürgerschaftlichen Engagements für Demokratie, Vielfalt und Lebensfreude in Dessau-Roßlau braucht - wenn sie nicht saisonales Stückwert bleiben soll - eine nachhaltige Perspektive und entsprechende Rahmenbedingungen. Ehrenamtliche AkteurInnen und Strukturen können in einem Gemeinwesen nur dann wirksam agieren, wenn sie auf eine fachkompetente Beratung und Unterstützung zurückgreifen können. So werden nicht nur operative und inhaltliche Überforderungen und daraus resultierende Demotivationsprozesse minimiert, sondern am Ende Handlungsunsicherheiten abgebaut und damit die eigenen Kompetenzen gestärkt. Eine als ungewöhnlich zu bezeichnende Konstellation stellt die ambivalente Haltung gegenüber dem Lokalen Aktionsplan auf kommunalpolitischer Ebene dar. Die kommunalpolitische Spitze in dieser Stadt, so die nicht neue Analyse, engagiert sich für Demokratie und Toleranz und unterstützt den Lokalen Aktionsplan, forciert die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus und hat sich nicht zuletzt für den Aktionsplan stark gemacht - während jedoch an der kommunalpolitischen Basis und im Stadtrat die Handlungsfelder Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keinen exponierten Stellenwert einzunehmen scheinen. Auch wenn sich seit der LAP-Ära hier einiges bewegt hat, ist eine positiv besetzte Profilierung der hiesigen Parteienlandschaft im Themenkreis kaum zu erkennen. Gerade aus der Kommunalpolitik vermissen nicht nur zivilgesellschaftliche AkteurInnen Impulse für eine Anerkennungs- und Solidarisierungskultur. Hier gilt es, durch direkte Ansprache und mit a www.reinhardtverlag.de Mathias Schwabe Begleitende Unterstützung und Erziehung in der Sozialen Arbeit Band 4 der Buchreihe "Handlungs kompetenzen in der Sozialen Arbeit" 2010. 159 Seiten. (9783497021246) kt Materielle Unsicherheiten, psychi sche Notlagen, soziale Entfrem dung - die Gründe, warum jemand Begleitung, Unterstützung und För derung im Alltag braucht, sind sehr verschieden. Entsprechend breit ge fächert sind die möglichen Einsatz gebiete von SozialarbeiterInnen in diesem Arbeitsfeld. Sie können sich in ambulanten oder stationären, le bensweltergänzenden oder erset zenden Settings bewegen. Sie sind aber immer auf eine längerfristige, alltagsnahe Begleitung angelegt, um grundlegende neue Entwick lungen zu ermöglichen. Was dies in der Praxis bedeutet, wird an hand von Beispielen anschaulich ge schildert. 170 uj 4 | 2011 Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus Literatur Beratungsprojekte aus der Region ziehen Bilanz. www. projektgegenpart.org/ index.php? option=com_ content&view=article&id=1012: -augen-auf-ausga be-februar-2010&catid=41: augen-aufnewsletter &Itemid=87, 15. 8. 2010 Netzwerk GELEBTE DEMOKRATIE (Hrsg.), 2010: Handlungskonzept 2010. www.gelebtedemokratie.de/ wordpress/ wp-content/ uploads/ 2010/ 05/ GELEBTE- DEMOKRATIE-Handlungskonzept_final.pdf, 15. 8. 2010 Stadt Dessau-Roßlau (Hrsg.), 2010: Stadtleitbild Dessau-Roßlau 2025. Wege für eine zukunftsorientierte Entwicklung der Stadt. www.dessau-rosslau.de/ downloads/ Deutsch/ Dessau-Rosslau/ Aktuelle-Beitraege/ Stadtleitbild-Dessau-02213/ Stadtleitbildentwurf.pdf, 15. 8. 2010 Hilfe von unmittelbarer - mithin projektbezogener - Einbindung den Sensibilisierungsgrad deutlich zu steigern. Wie die Zahlen und Statistiken belegen, steht die Stadt im Landesvergleich der rechtsextrem motivierten Gewaltstraftaten an erster Stelle. Demokratiefeindliche Tendenzen und Einstellungsmuster können nicht verboten werden. Ziel muss es sein, diese nicht wirkungs- und deutungsmächtig werden zu lassen. Der Lokale Aktionsplan bündelt hier bereits jetzt Aktivitäten und befördert Kommunikationsstrukturen. Wenn das Präventionssystem aber zielgenau greifen und die Maßnahmen nicht einfach verpuffen sollen, ist die Phase des Erkennens von immanenter Bedeutung. Damit ist gemeint, dass der Bedarf an präventiven Projekten auch bei den fachkompetenten Trägern und Beratungsstrukturen ankommt. Ganz konkret bedeutet dies, dass demokratiefeindliche Ereignisse und/ oder Stimmungslagen in Institutionen unmittelbar und zeitnah zum Anlass genommen werden, um die vorgehaltenen vielschichtigen Modelle und Ansätze punktgenau zum Einsatz zu bringen. Dies funktioniert in der Stadt bislang nur punktuell. Eine noch engere Verzahnung von Prävention und Intervention scheint deshalb dringend angezeigt. Der Lokale Aktionsplan wird deshalb die Errichtung eines Frühwarnsystems befördern, das bei den Institutionen eine geschärfte Problemwahrnehmung und die Bereitschaft zur Inanspruchnahme von Unterstützung voraussetzt und von den Projekten eine vertrauenswürdige Kooperation abverlangt. Als Vorbild kommt dabei das Modell einer „Task Force“ infrage, das sich in einigen Städten bereits erfolgreich bewährt hat. Steffen Andersch Koordinierungsstelle des Lokalen Aktionsplans Dessau-Roßlau c/ o Alternatives Jugendzentrum e. V. Schlachthofstraße 25 06844 Dessau buero@lap-dessau-rosslau.de