unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Die Straße als Lebensmittelpunkt
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Julia Staehler
Mit dem Interesse der Medien an "Straßenkids in Deutschland" in den 90er Jahren und dem Kultbuch "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" von Christiane F. wurde die Situation junger Menschen, deren Lebensmittelpunkt die Straße darstellt, in oft reißerischer Art und Weise publik gemacht.
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354 unsere jugend, 63. Jg., S. 354 - 362 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art39d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die Straße als Lebensmittelpunkt Mit dem Interesse der Medien an „Straßenkids in Deutschland“ in den 90er Jahren und dem Kultbuch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ von Christiane F. wurde die Situation junger Menschen, deren Lebensmittelpunkt die Straße darstellt, in oft reißerischer Art und Weise publik gemacht. von Juliane Staehler Jg. 1985; Magister-Pädagogin/ Soziologin, Sozialarbeiterin in der Notschlafstelle für obdachlose junge Menschen „Sleep-In“ Nürnberg Die breite Öffentlichkeit assoziiert „Straßenkids“ meist mit jungen Menschen, die sich eindeutig der Punkerszene zuordnen lassen und noch dazu durch „Schnorren“, Alkoholkonsum oder andere auffällige Verhaltensweisen auf sich aufmerksam machen. Gegenwärtig ist aber die Gruppe junger Menschen, deren Lebensmittelpunkt die Straße darstellt, viel heterogener geworden. Die meisten sind von anderen PassantInnen nicht mehr zu unterscheiden, legen Wert auf ihr Aussehen, schlafen bei FreundInnen, Bekannten oder in Notschlafstellen und man kann sie daran erkennen, dass sie eben im Gegensatz zu anderen jungen Menschen den Großteil des Tages (und manchmal auch die Nacht) auf der Straße oder an öffentlichen Plätzen verbringen. Das Deutsche Jugendinstitut definiert den Begriff „Straßenkind“ als ➤ „weitgehende Abkehr von gesellschaftlich vorgesehenen Sozialisationsinstanzen wie Familie oder ersatzweise Jugendhilfe-Einrichtungen sowie Schule und Ausbildung, ➤ Hinwendung zur Straße, die zur wesentlichen oder auch einzigen Sozialisationsinstanz wird, ➤ Hinwendung zu Gelderwerb auf der Straße durch Vorwegnahme abweichenden, teilweise delinquenten, Erwachsenenverhaltens, wie Betteln, Raub, Prostitution, Drogenhandel, ➤ faktische Obdachlosigkeit“ (DJI 1995, 138). Im Folgenden soll eben diese Definition gelten, wenn ich von Jugendlichen „auf der Straße“ schreibe. Der Begriff „Straßenkind“ wird in dieser Arbeit vermieden, da er meines Erachtens sehr viele Schwierigkeiten birgt, die genauer erläutert werden müssten (beispielsweise wird das Augenmerk auf Kinder gerichtet, obwohl die meisten jungen Menschen auf der Straße keine Kinder mehr sind. Außerdem werden mit diesem Begriff die Schicksale von jungen Menschen in Deutschland mit denen der ärmeren Länder gleichgesetzt, was einer klaren Definition bzw. Abgrenzung bedürfte). Um einen besseren Einblick in Straßenkarrieren von jungen Menschen zu vermitteln, setzt sich dieser Beitrag mit den Ursachen, den Lebensbedingungen sowie den Zukunftsvorstellun- 355 uj 9 | 2011 Junge Menschen auf der Straße gen von jungen Menschen auf der Straße auseinander. Es kommen vier Jugendliche zu Wort: Nelly, Mia, Paul und Alex. Sie wurden im Rahmen meiner Abschlussarbeit (Die Straße als Lebensmittelpunkt - Ursachen der Obdachlosigkeit, die Lebenssituation obdachloser junger Menschen und Hilfsangebote in der Stadt Nürnberg) von mir über ihre Lebenssituation und die Ursachen, warum sie die Straße als Lebensmittelpunkt wählten, interviewt. Ursachen, die Straße dem Zuhause vorzuziehen Meist gibt es nicht den einen Grund, um dem Zuhause oder den Einrichtungen der Jugendhilfe den Rücken zu kehren, sondern eine Vielzahl von verschiedenen Ursachen, die bei manchen Jugendlichen zu einer Flucht auf die Straße führen. Gemeinsam ist den meisten dieser jungen Menschen aber, dass sie sich emotional vernachlässigt fühlten. Viele haben seit ihrer Kindheit schwerwiegende Belastungen durch ihre Familie erlebt: Diese reichen von zu wenig Unterstützung über Vernachlässigung bis hin zu Gewalt oder Missbrauch. So müssen z. B. gewalttätige Auseinandersetzungen aufgrund von Alkoholsucht der Eltern oder eines Elternteils von vielen Kindern ertragen werden. Buchholz (1998, 41) geht davon aus, dass 99 % dieser Jugendlichen Gewalt- oder Missbrauchserfahrungen erlebt haben. Untersucht man Interviews und Berichte obdachloser Jugendlicher auf Gewalterfahrungen, ist festzustellen, dass die Schätzung bei Buchholz wahrscheinlich nicht zu hoch gegriffen ist. Aber auch weniger krass anmutende Probleme, wie zum Beispiel Orientierungslosigkeit der Eltern in punkto Erziehung oder beim Aushandeln von Freiheiten, sind Faktoren, die im Zusammenhang mit anderen Problemen zur Flucht oder dem Rauswurf der Jugendlichen führen können. Auch ein Status als Stiefkind und Adoptionen können bei Kindern und Jugendlichen dazu führen, dass die Lücke, welche die leiblichen Eltern hinterlassen haben, nicht mehr geschlossen werden kann. Mias Beispiel zeigt deutlich, wie traurig und wütend es sie macht, dass ihre leiblichen Eltern sich nicht um sie gekümmert haben, obwohl sie bei ihren Pflegeeltern gut aufgehoben war: „Die (leiblichen Eltern J. S.) ha‘m sich 18 Jahre … fast 21 Jahre lang nicht um mich geschert, weisste … ich scheiss auf die Leute … ich scheiss darauf … ich hab meine Familie, es ist meine Familie … meine Pflegeeltern. Meine Eltern im Prinzip ja, ich brauch keine anderen Eltern, ich brauch die nich, die alte Tussi, Tussnelda da (gemeint ist die leibliche Mutter J. S.) … brauch ich nicht! “ Durch Vernachlässigung, Hin- und Herschieben des Kindes, Liebesentzug, Gewalt oder Misshandlungen erleben diese jungen Menschen Ablehnung durch Erziehungsberechtigte und erfahren ständig, dass ihre Meinung und ihre Gefühle nicht zählen oder dass ihnen Gewalt angetan werden darf. Solche Probleme, die meist in der Kindheit noch nicht als Unrecht erkannt werden können, führen mitunter in der Jugend dazu, dass junge Menschen die Straße als Aufenthaltsort wählen und ein Leben in unsicheren Verhältnissen und ohne festen Wohnsitz vorziehen, anstatt weiterhin psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Junge Menschen ohne festen Wohnsitz gelangen nicht immer unmittelbar aus ihrer Familie in die Obdachlosigkeit. Als letzter Schritt misslungenen Familienlebens kommen sie auch in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und flüchten von dort aus auf die Straße. Der Heimalltag mit seinen Regelungen und seinen „Tagesstrukturierungen“ überfordert manche Jugendliche offensichtlich. Belastungen bestehen auch durch eigene oder Heimwechsel von anderen. Dort, wo BetreuerInnen ständig wechseln, sind dauerhafte enge Bindungen nur schwer möglich. Vorbelastet durch die Erfahrungen, die zum Heimaufenthalt geführt haben, ist es den jungen Menschen, welche die Straße zu ihrem Lebensmittelpunkt machen, 356 uj 9 | 2011 Junge Menschen auf der Straße anscheinend nicht möglich, sich gewinnbringend in Heime zu integrieren. Es muss jedoch beachtet werden, dass die jungen Menschen meist vor dem Aufenthalt in stationären oder ambulanten Jugendhilfeeinrichtungen schon schlimme Erfahrungen gemacht haben und daher vielleicht individuellere Betreuung nötig hätten, als diese in vielen Heimen erbringbar ist. So ist es zu weit gegriffen, Jugendhilfeeinrichtungen und in diesen tätige BetreuerInnen per se zu kritisieren - allem Anschein nach müsste man sich jedoch mehr mit speziell zugeschnittenen Hilfen für junge Menschen, die sich offensichtlich nicht in den Heimalltag integrieren können, auseinandersetzen. Die genannten Belastungsfaktoren können bei Jugendlichen, die sich für die Straße entscheiden, durch die Szene (z. B. am Bahnhof ) kompensiert werden. Sie wird dadurch attraktiv und kann die negativen Aspekte der Obdachlosigkeit sogar überwiegen. Einige Gründe, wie beispielsweise der Wunsch, das eigene Leben autonom und selbstbestimmt führen zu können, das Bedürfnis nach einer alternativen Lebensart oder auch das Gefühl, dass auf der Straße „was los ist“, sind sicherlich „Pull-Faktoren“, die den Alltag auf der Straße für Jugendliche anziehend machen. Auch die relativen Freiheiten, die man auf der Straße hat, und die vorhandenen Strukturen (durch Notschlafstellen, Essensausgaben und teilweise spendierwillige BürgerInnen) können bei Jugendlichen „verlockend“ wirken. Oft stellen Szenen auch „Ersatzfamilien“ dar, in denen sich die Jugendlichen profilieren können und auch Zuneigung und eine gewisse Art der Geborgenheit erfahren. Erfahrungen mit und unter wohnungslosen Jugendlichen zeigen, dass Freundschaften aber auch sehr schnelllebig sein können, oft Enttäuschungen mit sich bringen oder zweckgebunden sind. Beispielsweise antwortete Alex auf meine Frage, ob er hier engere FreundInnen habe, mit denen er über Probleme reden könne, dass er zwar einen riesigen Bekanntenkreis habe, aber keine wirklichen FreundInnen. Auch Mia berichtete von „Freunden“, die ihre Wohnung verwüstet hätten, als sie im Krankenhaus war, und auch, dass sie eher nur mit ihrem Freund zu tun habe, aber ansonsten „Einzelkämpferin“ sei. Schule - eine verpasste Chance der Prävention Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die mögliche Verhinderung von Straßenkarrieren haben schulische Institutionen. Viele der Jugendlichen, deren Lebensmittelpunkt die Straße ist, brechen die Schule während der siebten oder achten Klasse ab. Hansbauer geht bei dieser Entwicklung davon aus, dass die Bereitschaft von Schulen, den Schulbesuch der Kinder sicherzustellen, abgenommen hat. Eher versteht sich die Schule als „Dienstleistungsanbieter“ (ebd. 1998, 44) und wirkt nicht mehr stabilisierend oder normstiftend auf Jugendliche ein. Die Schule wird also ähnlich der Familie als Ort der Ausgrenzung und des Versagens erlebt, weshalb sich viele Jugendliche mit Beginn ihrer Straßenkarrieren von der Schule distanzieren. ExpertInnen kritisieren die Gleichgültigkeit von Bildungseinrichtungen gegenüber SchulschwänzerInnen oder verhaltensauffälligen Jugendlichen. „Die Schulen, die von allen Kindern und Jugendlichen fast täglich besucht werden - oder zumindest besucht werden sollten -, nehmen offenbar ihre Chancen, ein ‚Frühwarnsystem’ nicht nur für den Leistungs-, sondern auch für den sozialen Bereich der Kinder zu sein, nicht (ausreichend) wahr“ (Permien/ Zink 1998, 131). Als einer der zentralen Sozialisationsorte für junge Menschen müsste die Schule den Raum darstellen, an dem eine Vernetzung zwischen Eltern, LehrerInnen, SozialpädagogInnen und Jugendamt stattfindet. 357 uj 9 | 2011 Junge Menschen auf der Straße Obwohl die Schulsozialarbeit gegenwärtig ausgebaut wird, ist es bedauerlich, dass weiterhin an vielen Schulen weder die Kapazitäten für LehrerInnen geschaffen werden, sich um die sozialen Belange der SchülerInnen kümmern zu können (dazu kommt, dass viele LehrerInnen nicht ausgebildet sind, sozialpädagogische Aufgaben wahrzunehmen), noch die Mittel für qualifizierte Fachkräfte vorhanden sind. Gerade um Konflikte und Probleme der Jugendlichen zu erkennen, wäre es notwendig, zusätzliche qualifizierte Fachkräfte, die beispielsweise im Rahmen von Schulsozialarbeit eingesetzt werden, an Schulen zu beschäftigen. Ein ganz normaler Tag - eine ganz normale Nacht „Ich steh auf, … danach trink ich erst mal nen Wein … ne Flasche. Danach geh ich schnorren, danach trink ich weiter, danach - entweder geh ich zur ‚RAMPE’ (www.rampe-nbg.de, J. S.) wegen Wohnungssuche oder irgendwas andres, oder treff ’ mich mit meiner Frau (Freundin J. S.) und so weiter … ist immer unterschiedlich dann. Ansonsten am Bahnhof oder Demonstrationen oder Schlägereien … Dann trink ich erst mal weiter und dann kommt irgendwo’n Schlafplan, wenn ich nirgendwo schlafen kann (gemeint ist bei Freunden oder in Notschlafstellen J. S.), dann such’ ich mir nen Schlafplatz.“ (Alex) Erzählungen über den Tagesablauf der jungen Menschen ähneln sich meist. Oft beginnt der Tag junger Menschen ohne festen Wohnsitz so spät wie möglich und mit Alkoholkonsum (vgl. Permien/ Zink 1998, 259ff ). Wenn sie Geld brauchen, begehen sie oftmals kriminelle Delikte oder gehen - meist nur, wenn sie der Punkerszene zugehörig sind - schnorren. Auch die Arbeit in sogenannten Drückerkolonnen oder Prostitution sind nicht selten. So nehmen die StraßensozialarbeiterInnen in Nürnberg an, dass gerade in letzter Zeit der Straßenstrich bei männlichen Jugendlichen als Form des schnellen Gelderwerbs attraktiv ist. Ansonsten treffen sie sich, je nach Szene, mit FreundInnen oder Bekannten, in deren Wohnungen, in der Stadt oder am Bahnhof. Nachts sehen sich die jungen Leute oft mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Sie müssen sich selber ihre Schlafmöglichkeiten besorgen oder sich Alternativen überlegen, wenn sie keinen Platz zum Schlafen finden. Alex erzählt, welche Möglichkeiten er außer dem „Sleep In“, einer Notschlafstelle für obdachlose junge Menschen in Nürnberg, noch hat. „Und wenn ich … wenn ich‘s halt zeitlich nicht schaffe herzukommen (in das „Sleep In“ J. S.) … dann … irgendwo … ich komm zurecht. … Zum Beispiel am Bahnhof gibt’s irgend so nen kleinen Raum unter ner Treppe, die Bullen laufen zwar da durch, aber die sehen mich nicht, weil ich unter der Treppe bin … aber ich find’s echt genial, dass es hier in Nürnberg so viele Einrichtungen gibt, wo man schlafen kann, weil sowas gibt’s in Thüringen nirgendwo …“ Draußen schlafen ist bei den jungen Erwachsenen (vor allem bei den Punks) im Sommer üblich. Nelly erzählt mir, dass sie sich oft irgendwo eine Decke und einen Liegestuhl in Gärten geklaut hat, oder sie schläft „im Park oder … direkt in dem Bahnhof in der großen Wartehalle unterm Billardtisch oder so“. Auch bei flüchtigen Bekannten zu schlafen wird oftmals als Möglichkeit genutzt. Nicht selten gehen die jungen Menschen hierbei das Risiko ein, (sexuelle) Gegenleistungen erbringen zu müssen. Die jungen Leute müssen also bei der Schlafplatzsuche so gut wie alle Chancen nutzen und teilweise ein hohes Risiko in Kauf nehmen, ohne dass sie auf Komfort oder gute Schlafplätze hoffen können. 358 uj 9 | 2011 Junge Menschen auf der Straße Der Bahnhof, der mit Lärm, Kälte, Hektik, Eile und mit fehlender Gemütlichkeit in Verbindung gebracht wird, ist der Hauptaufenthaltsort vieler wohnungsloser junger Menschen. Er bietet neben den gerade genannten negativen Eigenschaften auch die Möglichkeit der anonymen Teilhabe an der Öffentlichkeit und durch seine Bekanntheit als Anzugspunkt für Jugendliche wird er zur Anlaufstelle. Für Jugendliche ist der Bahnhof deshalb so attraktiv, weil sie dort auf Leute treffen, die gleiche oder ähnliche Probleme haben wie sie selbst oder sich in ihren Biografieverläufen ähneln. Paul: „Man trifft sich halt frühs, um dann halt schnorren zu gehen oder irgendwo anders hinzugehen, des is halt in jeder Stadt eigentlich so, würd ich jetzt mal sagen, der Treffpunkt. Man trifft sich da und verteilt sich dann in die ganze Stadt.“ Viele junge Menschen erfahren zu Hause wenig Interesse und Wertschätzung ihrer Person und erleben dann am Bahnhof oft das Gegenteil - auf einmal wird die eigene Person interessant. „Während sie in Familie, Schule und in der Arbeitswelt zu den Nichtbeachteten, den Störenfrieden und zu den Verlierern und Versagern zählen, öffnet sich solchen Jugendlichen mit dem Straßenleben eine Welt, in der sie sich auch ohne Eintrittskarte wie Schulabschlüsse und Berufsausbildungen Quellen für Anerkennung und Geld sowie zahlreiche Kontakte erschließen können“ (Permien/ Zink 1998, 228). Auch wenn man noch keine FreundInnen hat, bieten die Bahnhofshallen gute Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen und Leute kennenzulernen, um so die Einsamkeit oder Isolation zu überwinden. Somit „fungieren diese Orte als kostenlose Treffpunkte und als Marktplatz der Beziehungen“ (Permien/ Zink 1998, 226). Paul: „In Nürnberg, da spielt sich, glaub ich, des ganze Obdachlosenleben und Punkerleben am Bahnhof in der Osthalle ab.“ Der Bahnhof wird oft zu dem Sammelpunkt für AusreißerInnen, Drogenabhängige, Prostituierte und diejenigen, die die Not eben dieser Menschen ausnutzen, wie beispielsweise Freier, Dealer etc. Er „ist warm und ist öffentlich zugänglich“ (Nelly) und bietet Schutz vor Nässe, wenn man sonst keine Möglichkeiten hat, irgendwo unterzukommen. Jedoch bietet der Bahnhof auch einen Nährboden für delinquente Verhaltensmuster. So können neue FreundInnen, der einfache Gelderwerb (durch Schnorren, Klauen, Betrügereien oder Dealen etc.) und der Umgang mit Drogen und Alkohol für junge Menschen sehr attraktiv wirken und gerade in der Anfangszeit positiv erlebt werden. Der Bahnhof liegt meist zentral, er ist gut in die Infrastruktur eingebunden und ermöglicht ein schnelles Verschwinden bei Bedarf. Oft geraten die Jugendlichen, die den Tag am Bahnhof verbringen, durch Ausweiskontrollen, Platzverweise oder Bußgeldbescheide mit der Polizei in Konflikte. Nelly erlebt des Öfteren Anzeigen wegen der fehlenden Steuermarken ihrer Hunde und Paul erzählt von Bußgeldbescheiden wegen verbotener Bettelei. Auch Kontrollen und Vertreibungen durch PolizistInnen sind bei den jungen Leuten an der Tagesordnung. Gerade am Bahnhof werden oft die Personalien kontrolliert oder die Jugendlichen werden von angestellten Sicherheitsdiensten vertrieben - Pöbeleien und „dumme Sprüche“ seitens der Polizei gehören nach Aussage der befragten Jugendlichen für sie zum Alltag. Auch Alex erzählt von unfairen Behandlungen durch die Polizei: „Da ich meine Rechte gut kenne … und die mir einige Rechte wirklich vorenthalten haben, des heißt mit telefonieren … das sind alles Verfahrensfehler und Name und Rang nicht gesagt von dem Beamten, der uns behandelt hat, wegen Nötigung, weil ich mich komplett ausziehen musste … grundlos … wegen einer Ordnungswidrigkeit haben die nicht das Recht, mich nackig zu machen.“ „Rechtsstaatliches Empfinden wird sich so in den Köpfen der Jungen wohl kaum entwickeln. Eher dürfte das Gegenteil der Fall sein“ (Seidel 2002, 83). 359 uj 9 | 2011 Junge Menschen auf der Straße Trotz solcher Geschichten sehen die Jugendlichen ihr Verhältnis zur Polizei ambivalent und obwohl Nelly und Paul schon so viel Negatives erlebt haben, fügt Paul im Laufe des Interviews hinzu: „Also es gibt Polizisten, die sind übelst nett, gibt’s einfach. Die verstehen auch deine Lage, die labern dich dann zu: ‚Ja, das und das kannst du tun und mach doch mal das.’ Und die diskriminieren dich jetzt nicht so.“ Allgemein scheinen aber negative Konfrontationen mit der Polizei für die Jugendlichen normal, sobald sie sich zur Bahnhofsszene bekennen oder öffentlich auf sich aufmerksam machen. Mia, die den Bahnhof nicht wirklich als Aufenthaltsort nutzt, berichtet mir auch nicht von negativen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Den Tag erträglich machen … Neben Tabak ist Alkohol als eines der typischen Rausch- und Suchtmittel bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen am stärksten verbreitet. Er ist in unserer Gesellschaft verhältnismäßig leicht und vor allem, im Vergleich zu anderen Drogen, sehr billig und legal zu erwerben. Von Alkoholerfahrungen und -exzessen berichteten mir alle vier Jugendlichen und auch in der Fachliteratur (Pfennig 1996, 15f ) wird Alkohol als eine wesentliche Strategie dargestellt, um die Schwierigkeiten des Straßenalltags aushalten zu können. „Ich hab’ viel Alkohol konsumiert und alles, sehr viel. Aber mehr so feige- und so wodkamäßig. Hab’ ich viel konsumiert. Von Bier war ich nie der Fan, nie. Außer Mischbier, des Becks Lemon oder V +.“ (Mia) Auf meine Frage an Nelly und Paul, inwiefern sie Alkohol konsumieren, antwortet Nelly: „Im Moment’ n’ bisschen zu viel - aber macht halt schön warm“ und Paul: „Wir gehen aus dem ‚Sleep In’ raus, mit dem …, der sucht sich halt’ ne Grünfläche, kotzt erst mal, weil sein Magen kaputt ist, geht zum Aldi und holt sich ’ne Flasche Wein.“ Neben dem Alkoholkonsum berichten mir die vier interviewten Jugendlichen auch von Drogenerfahrungen. Sie konsumieren ausnahmslos regelmäßig„leichte“ Drogen wie Marihuana, nehmen teilweise aber auch härtere Drogen ein. Degen (1995, 35f ) beschreibt „Wertlosigkeitserleben und Selbstverachtung“ als mögliche Auslöser beziehungsweise als verstärkende Faktoren bei jungen Erwachsenen auf der Straße, um zu Drogen zu greifen. Außerdem verweist er (ebd., 34) auf die altersspezifischen Zusammenhänge zwischen Drogenkonsum und Jugendphase. Die Jugendlichen haben zwischen dem 12. und dem 20. Lebensjahr so viele Fragen, Themen und Ängste durchzustehen, bei denen sie nicht durch die „Normal“-Familie unterstützt werden, dass sie auf eine Traumwelt zurückgreifen, um sich der Realität nicht stellen zu müssen. Meine eigenen Erfahrungen mit Jugendlichen ohne festen Wohnsitz spiegeln den Gebrauch von Haschisch, Cannabinoiden, Alkohol und „schnellen Drogen“ wie Amphetaminen als alltägliche Drogen wider - jedoch schrecken die meisten der jungen Menschen vor so gut wie keinen Drogen, die ihnen angeboten werden, zurück. Nelly: „Also mit so rotzen (Drogen durch die Nase ziehen, J. S.) und so hab ich jetzt erst vor … boah … irgendwann in München angefangen … des erste Mal hab ich was gekriegt, da bin ich im Bahnhof gestanden … und dann is so voll der Druffi zu mir hergekommen … und er so: ‚Hey, brauchst du’n bisschen Schnee? ’ Und naja … dann hab ich‘s halt gekauft für nen Zwanziger und des war schon cool.“ 360 uj 9 | 2011 Junge Menschen auf der Straße Paul erzählt mir, dass er normalerweise „Gras, wenn was geht, also Hasch“ konsumiert, aber „jetzt die letzte Zeit haben wir uns halt’n bisschen mit Speed zugehauen … irgendwann sagt jeder mal ‚ja’, ich sag mal so, wenn dir des oft genug angeboten wird und du halt eigentlich siehst … naja … eigentlich passiert ja nix, weil der Typ, der hat zwar Riesenpupillen, aber der läuft ja noch und der redet normal … dann, irgendwann, denk ich mal, sagt jeder ja … Heroin und Crack, des sind die einzigen Drogen, die wir nicht nehmen! “ Krank werden auf der Straße Dass die Jugendlichen von Krankheiten, die durch Drogenmissbrauch oder übermäßigen Alkoholkonsum ausgelöst werden, betroffen sind, wird durch die vorangegangenen Beschreibungen offensichtlich. Aber durch den Alltag auf der Straße gibt es noch viel verdecktere Probleme und Gefahren, die zu ernsthaften Erkrankungen führen können. So ertrug Nelly beispielsweise wochenlang eine Blasenentzündung und ging tagtäglich bei Minusgraden schnorren. Erkältungen, Schnupfen, Husten oder Ausschläge sind bei vielen der jungen Menschen Alltag. Auch schlechte Zähne und mangelnde Hygiene sind Normalität bei den wohnungslosen Jugendlichen. Einen kleinen Einblick in eine Vielzahl möglicher Krankheiten gibt Pfennig (1995, 30): „Konkret handelt es sich um Hautinfektionen (Krätze, Ausschläge, Pilz, Herpes), Tuberkulose, Leberentzündung und Herzinnenhautentzündung. Durch die Prostitution können Geschlechtskrankheiten wie Syphilis, Tripper und Aids hervorgerufen werden.“ Britten (1995, 46f ) verweist auf psychische und physische Risiken, die mit dem Alltag auf der Straße einhergehen. Die jungen Erwachsenen haben nach seinen Beobachtungen oft ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper, Vitaminmangel, Stress und die Risiken der Folgeschäden durch häufigen Alkohol- oder Drogenkonsum. Von der Hand in den Mund - Armut bei Jugendlichen mit Straßenkarrieren Die meisten Jugendlichen, die sich dauerhaft auf der Straße aufhalten, leben in Armut. Meist haben sie nur sehr wenig Eigentum, verstaut in einer Tüte oder einem Rucksack, und leben sozusagen „von der Hand in den Mund“. Paul: „Ja klar, ich mein‘, des is im Prinzip eh schon unverschämt, dass man sich hinhockt und sagt ‚hast du n bisschen Kleingeld? ’, aber was soll man anderes machen, wenn man nichts vom Amt kriegt - ich mein: klar, ich könnt auch verhungern, so is’ nicht, oder verdursten, oder erfrieren - da hock ich mich lieber hin und schnorr‘n bisschen.“ Neben oder statt „schnorren“ versuchen sich manche der Jugendlichen durch kriminelle Delikte „über Wasser“ zu halten. Nelly: „Ich hab halt des mit den Handyverträgen jetzt einmal gemacht, aber des war nur einmal, des kannst du auch nicht jeden Tag machen … Handyverträge unterschrieben für fünf Handys, dann hat einer die Handys mitgenommen - hat sie verkauft und hat mir 150 Euro für die ganze Aktion gegeben.“ Paul: „Ich klau mir wenn, dann Handschuhe oder Schals und so, was halt so draußen vorm Laden hängt.“ Paul: „Ich kauf Drogen, hab sie dann auch ne Zeitlang verkauft … aber halt nur so leichte Drogen wie Heroin (lacht), nee g’schmarri, ich hab halt Gras verkauft.“ Mia berichtete mir ebenso von gelegentlichen Diebstählen, um ein bisschen Bargeld zu „verdienen“. Für junge Menschen, die ihren Alltag auf der Straße verbringen, ist es teilweise schwer, finanzielle staatliche Unterstützung zu bekommen. Geht man vom Kinder- und Jugendhilfegesetz 361 uj 9 | 2011 Junge Menschen auf der Straße aus, dürften eben diese gar nicht existieren, da, sobald die Eltern nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen, automatisch der Staat für die Obhut der Kinder verantwortlich ist. Somit müssten und dürften aus rechtlicher Sicht keine Kinder und Jugendlichen auf der Straße leben (Marburger 2007, 54). Auch in der Fachliteratur (vgl. Romahn 2000, 31) gibt es Hinweise darauf, dass junge Menschen, die illegal auf der Straße leben, ihren Lebensunterhalt über kurz oder lang nur durch gesetzeswidrige Handlungen bestreiten können. Die Zukunftsvorstellungen sind bürgerlich Befragt man die jungen Menschen nach ihren Zukunftsvorstellungen, so stellt man fest, dass die meisten sich ein geregeltes und bürgerliches Leben wünschen. „Mein Traum, Kinder haben, einer von uns, Frau oder ich, geht arbeiten. Einer bleibt bei dem Kind und am Wochenende koche ich, was die Frau will“ (Buchholz 1998, 133). Auch Paul kann sich vorstellen, später mal arbeiten zu gehen - „natürlich schwarz“, aber Gedanken macht er sich oft: „Ja, ich denk da eigentlich voll oft drüber nach, mal Geld auf die Seite zu tun für Rente und so. Aber von nix kann man ja auch nix auf die Seite tun.“ Auch Alex berichtet mir von seinem Wunsch, eine eigene Wohnung zu bekommen und sich so langsam wieder in das bürgerliche Leben zu integrieren. Diese Erzählungen obdachloser junger Menschen spiegeln wider, dass die Straße zunächst Fluchtpunkt ist und anfangs auch als „Freiheit“ und „Möglichkeit der Unabhängigkeit“ erlebt wird, jedoch für die meisten keine Lösung auf Dauer darstellt. Viele junge Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße haben, sehnen sich doch nach einem bürgerlichen, konventionellen, geregelten Leben. Fazit Die vorangegangene Auseinandersetzung mit Ursachen von Straßenkarrieren und dem Alltag junger Menschen auf der Straße macht deutlich, dass hochschwellige Hilfsangebote (beispielsweise Heime, betreute Wohngruppen etc.) für die meisten dieser jungen Menschen nicht (mehr) zu erfüllen sind. Meines Erachtens ist es daher unbedingt notwendig, in Städten, in denen sich eine Straßenszene bildet, aktive, aufsuchende Straßensozialarbeit, die unterstützt, berät und die notwendigste Grundversorgung sicherstellt, sowie niedrigschwellige Hilfeangebote (Notschlafstellen, Beratungsmöglichkeiten etc.) zu installieren. Nur so ist es möglich, den Kontakt zu diesen jungen Menschen nicht ganz zu verlieren und sie vielleicht früher oder später doch zu motivieren, dass sie ihren eigenen Lebensweg positiver gestalten. „Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, daß man eigentlich nie frei ist. Selbst und gerade auf der Straße ist man auf andere angewiesen“ (Zeitdruck 1997, 128). Juliane Staehler Burgerstraße 54 90478 Nürnberg j.staehler@web.de 362 uj 9 | 2011 Junge Menschen auf der Straße Literatur Bodenmüller, M., 2000: Auf der Straße Leben - Mädchen und junge Frauen ohne Wohnung. Münster Bodenmüller, M./ Piepel, G., 2003: Streetwork und Überlebenshilfen. Entwicklungsprozesse von Jugendlichen aus Straßenszenen. Weinheim Britten, U., 1995: Abgehauen. Wie Deutschlands Straßenkinder leben. Bamberg Buchholz, S., 1998: „Suchen tut mich keiner“ - Obdachlose Jugendliche in der individualisierten Gesellschaft. Münster Degen, M., 1995: Straßenkinder. Szenebetrachtungen, Erklärungsversuche und sozialarbeiterische Ansätze. Bielefeld Deutsches Jugendinstitut (DJI), 1995: Projektgruppe „Straßenkarrieren von Kindern und Jugendlichen“. „Straßenkinder“ - Annäherungen an ein soziales Phänomen. München/ Leipzig Hansbauer, P., 1998: Kinder und Jugendliche auf der Straße. Analysen, Strategien und Lösungsansätze. Münster Kilb, R. / Heemann, P., 1999: Entwicklungen des Straßenlebens von jungen Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern am Beispiel Frankfurt am Main. In: Lutz, R./ Stickelmann, B. (Hrsg.): Weggelaufen und ohne Obdach. Weinheim/ München, S. 179 - 203 Marburger, H., 2007: SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe. Textausgabe mit ausführlicher Kommentierung. Regensburg/ Berlin Permien, H./ Zink, G., 1998: Endstation Straße? Straßenkarrieren aus der Sicht von Jugendlichen. München Pfennig, G., 1995: Straßenkinder in Deutschland: eine Herausforderung für die Pädagogik. Köln Pfennig, G., 1996: Lebenswelt Bahnhof. Sozialpädagogische Hilfen für obdachlose Kinder und Jugendliche. Neuwied/ Kriftel/ Berlin Romahn, A., 2000: Straßenkinder in der Bundesrepublik Deutschland. Beweggründe - Straßenkarrieren - Jugendhilfe. Frankfurt am Main Sand, J., 2001: Soziale Arbeit mit „Straßenkindern“. Frankfurt am Main/ London Seidel, M.-H., 2002: Straßenkinder in Deutschland. Schicksale, die es nicht geben dürfte. München Zeitdruck Verlag, 1997: „Suchen tut mich keiner.“ Texte, Protokolle und Interviews von Straßenkindern in Deutschland. Berlin Anzeige
