unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2011
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Frauen in sozialer Verantwortung: Anna von Gierke
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2011
Manfred Berger
Zum großen Teil waren es Frauen, die Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik maßgeblich beeinflussten. Sie haben Akzente gesetzt und Impulse gegeben, die bis heute nachwirken. Leider sind viele von ihnen im Laufe der Zeit immer mehr in Vergessenheit geraten. Manfred Berger stellt in "Unsere Jugend" solche bahnbrechenden Frauen in unregelmäßiger Folge vor.
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386 unsere jugend, 63. Jg., S. 386 - 389 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art44d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Frauen in sozialer Verantwortung: Anna von Gierke Zum großen Teil waren es Frauen, die Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik maßgeblich beeinflussten. Sie haben Akzente gesetzt und Impulse gegeben, die bis heute nachwirken. Leider sind viele von ihnen im Laufe der Zeit immer mehr in Vergessenheit geraten. Manfred Berger stellt in „Unsere Jugend“ solche bahnbrechenden Frauen in unregelmäßiger Folge vor. von Manfred Berger Jg. 1944; Diplom-Pädagoge, Diplom-Sozialarbeiter, Diplom-Heilpädagoge, ehrenamtlicher Leiter des Ida-Seele-Archivs zur Geschichte der Sozialarbeit/ -pädagogik und ihrer Nachbarwissenschaften Peter Reinicke (1998, 201) schreibt treffsicher über Anna von Gierke, dass sie mit ihrer organisatorischen und pädagogischen Arbeitsleistung zu den PionierInnen der Sozialen Arbeit gehört, „die Ende des 19. Jahrhunderts neue Wege in der Kinder- und Jugendarbeit suchten und fanden. Beeindruckend ist das Gelingen der Verbindung von praktischem Handeln, dem Aufbau von Bildungseinrichtungen und der Umsetzung in berufspolitisches Tun.“ Anna Ernestine Therese erblickte am 14. März 1874 in Breslau das Licht der Welt. Sie war das älteste von sechs Kindern des berühmten Rechtsgelehrten Otto Friedrich von Gierke, der 1911 in den erblichen Adelsstand erhoben wurde. Ihre Mutter, Marie Cäcilie Elise (genannt Lili), war die Tochter des jüdischen Frankfurter Verlegers Zacharias Löwenthal, der 1858 mit der Erlaubnis von Großherzog Ludwig II von Hessen den Namen Loening annehmen durfte. Des Vaters akademische Karriere führte die Familie von Breslau nach Heidelberg und schließlich 1887 nach Charlottenburg, wo sie eine staatliche Villa bezog. Otto Friedrich Gierke übernahm an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität den Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte. Nach Abschluss der Höheren Mädchenschule unterstützte Anna von Gierke die Mutter im Haushalt. Zudem engagierte sie sich in ehrenamtlicher sozialer Tätigkeit. Dabei wurde für sie der Kontakt zu der wohlhabenden Fabrikbesitzersgattin Hedwig Heyl von großer Bedeutung. Ab 1891 arbeitete die 17-Jährige als Erziehungshelferin im Jugendheim der Heylschen Fabrik, „einer Einrichtung, die das Ziel verfolgte, Kindern bedürftiger und berufstätiger Eltern eine Stätte zu verschaffen, wo sie sich ergänzend zur Schule bei Arbeit und Spiel weiterbilden und auf die Zukunft vorbereiten konnten“ (Jochens/ Miltenberger 1999, 22). Schließlich übernahm Anna von Gierke auf Wunsch von Hedwig Heyl am 1. Oktober 1898, nachdem sie einen Schnellkurs am Kindergärtnerinnenseminar und an der Haushaltungsschule im Pestalozzi-Fröbel-Haus absolvierte hatte, die bezahlte Leitung des 1894 gegründeten Vereins Jugendheim E.V., dessen „vornehmste Aufgabe“ darin bestand, den Kin- 387 uj 9 | 2011 Porträt dern aus den Mietskasernen und Hinterhöfen, „deren Mütter durch die sozialen Mißverhältnisse dem Haus entzogen sind, ein Heim zu bieten, in dem sie glückliche Kinderstunden erleben. Glücklich, weil sie dort ihre Kräfte betätigen können und lernen, sie in den Dienst anderer und der Gemeinschaft zu stellen, glücklich, weil sie dort ganz Kinder sein dürfen und für Stunden dem Druck von Not und Sorge, dem Daseinskampf, der zu Hause immer auf ihnen lastet, entrückt sind“ (Gierke 1919, 19). Unter ihrer Ägide entwickelte sich im Laufe der Jahre der Verein Jugendheim E.V., der 1910 in einen stattlichen Neubau mit neoklassizistischer Fassade in die Charlottenburger Goethestraße 22 umzog, zu einer allumfassenden sozialpädagogischen Erziehungs- und Bildungsstätte. Dazu gehörten mehrere (örtlich verstreute) Einrichtungen (Filialen) für Jungen und Mädchen, wie beispielsweise ein Kindergarten, eine Liege- und Laufkrippe, eine Lesehalle, ein Landjugendheim, eine Erziehungsberatungsstelle, eine Jugendstube für arbeitslose Jugendliche, ein Nachtheim für Kinder arbeitender Mütter, ein Soziales Institut, ein Sozialpädagogisches Seminar sowie Geschäftsstellen von Wohlfahrtsverbänden und Frauenvereinen. Die Arbeit des Vereins Jugendheim E.V. fand schell Anerkennung, weit über die Grenzen seiner Wirkungsstätte hinaus. Demzufolge erhielt Anna von Gierke viele Einladungen zu Vorträgen, um über ihre Erfahrungen zu berichten: „Beispielsweise 1907 nach München durch den Verein für Fraueninteressen, wo sie drei Vorträge über ‚Grundzüge der Erziehungstätigkeit’ hielt; 1912 sprach sie auch zweimal in Wien über ‚Schulkinderfürsorge und Volkserziehung’“ (Reinicke 1998, 200). Ein besonderes Anliegen unter vielen anderen war für Anna von Gierke der Auf- und Ausbau der Schulkinderpflege. Diesbezüglich forderte sie eine planmäßige Vermehrung und weitere Ausgestaltung der Horte und ihre organische Eingliederung in die allgemeine Volkserziehung, wobei mit Volkserziehung die „Versöhnung der Klassen“ zu verstehen ist: „1. Die Errichtung von Horten hat im Anschluß an die einzelne Gemeindeschule unter Zuweisung von eigenen Räumen in der Schule und unter Mitbenutzung von Schulräumen zu geschehen. Der Betrieb hat in ständiger Fühlung mit Rektor, Lehrern und Schularzt, aber unter vollständiger Wahrung der Selbständigkeit der Fürsorge nach besonderen, nicht schulmäßigen Prinzipien zu erfolgen. Je nach den örtlichen Bedürfnissen sind Horte mit der Schulspeisung zu vereinen und so zu Tagesheimen zu erweitern. Lesehallen für Kinder, Ausflugsvereine, Arbeitsstunden und Vermittlungsstellen für Kinderfürsorge sind gleichfalls den Horten anzugliedern. Auch die Fürsorge für Schulentlassene wird sich zweckmäßig aus den Horten entwickeln. 2. Bei der Auswahl der Kinder für die Horte und die angeschlossenen Fürsorgeeinrichtungen ist dafür Sorge zu tragen, daß alle bedürftigen Kinder herangezogen werden, daß sich aber die Horterziehung auch auf alle die Fälle beschränkt, in denen aus wirtschaftlichen und persönlichen Gründen die El- 388 uj 9 | 2011 Porträt ternerziehung versagt … Es lassen sich hier daher allgemeine Grundsätze nicht aufstellen, vielmehr muß jeder Fall auf Grund persönlicher Kenntnis des einzelnen Kindes, seines Schullebens, seiner Familie individuell gewürdigt und entschieden werden. Hierfür bedarf es besonders in den Großstädten eigener Schulpflegerinnen - im Hauptberuf tätige, mit Schule, Elternhaus, Armenverwaltung und Hort in Verbindung stehende Persönlichkeiten, denen die Auswahl der Kinder für die Horte und für jede sonstige Fürsorgeeinrichtung an einer Schule von einem Vereine unter städtischer Anerkennung und Beihilfe übertragen wird“ (Gierke 1911, 4). Die berufsmäßige Ausbildung von Schulpflegerinnen erfolgte an dem von ihr gegründeten Sozialpädagogischen Seminar des Vereins Jugendheim E.V., an dem ferner Hortnerinnen und später noch Jugendleiterinnen ausgebildet wurden. 1919 wurde Anna von Gierke Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und des Reichstages für die „Deutschnationale Volkspartei“ (DNVP). Sie war Vorsitzende des Ausschusses für Bevölkerungspolitik und beteiligte sich insbesondere an der sozialen Gesetzgebung. In ihrer ersten Rede vor der Nationalversammlung sprach sie sich eindringlich für stabile Familienverhältnisse zur Erhaltung eines gesunden Volksbewusstseins aus: „Die Gesetzgebung muß Stellung nehmen zu dem Problem: Erhaltung eines gesunden Volksbewusstseins oder impulsive Abhilfe jeder Einzelnot … Deshalb begrüßen wir die Fassung der Artikel 118 und 1190, wie sie aus dem Ausschuß hervorgegangen sind. Sie legt fest, dass die Familie ein organisches Glied des Ganzen ist, ein Organ, das für die einzelnen ein Bindeglied für seine Beziehungen zu der Gesamtheit sein soll. Alle vorliegenden Anträge bedeuten - allerdings in verschiedenen Graden - Versuche, die Mutterschaft und Ehe gleichzustellen … Die Ehe und Familie müssen im Volksbewußsein ihren besonderen geheiligten Platz erhalten. Verläßt man diese eheliche Norm, so verläßt man die sichere Fahrrinne und in den Wogen und Stürmen, in die man sich begibt, gelangt man leicht zur Strandung im Kommunismus. Auch die vorliegenden Anträge, die sich auf die Stellung des unehelichen Kindes beziehen, wollen uns als Entwertung der Familie zugunsten der Behebung einzelner Notstände erscheinen. Alle diese Bestimmungen gehören nicht in die Verfassung. Die Spezialgesetzgebung muß versuchen, wie sie hier die den einzelnen gewiss oft hart treffenden Notstände beseitigen kann, ohne dem Volksbewußtsein zu schaden. Aber man darf nicht in dem Wunsche, dem einzelnen zu helfen, das Ganze ruinieren und damit letzten Endes auch den Einzelnen unglücklich machen. Ich bin jederzeit bereit, der Einzelnot zu helfen, aber gerade in jahrelangem heißen Bemühen, der Einzelnot abzuhelfen, habe ich erkannt, daß nicht Freiheit, nicht Ausleben, nicht blinde Fürsorge, sondern nur Gewöhnung und Erziehung durch scharfe zielbewußte Gesetzgebung aufwärts führen kann“ (Verhandlungen Bd. 328, 1605). Anna von Gierkes parlamentarische Arbeit fand nach der ersten Wahlperiode keine Fortsetzung, da sie wegen ihrer jüdischen Abstammung von der DNVP nicht wieder als Kandidatin für die Reichstagswahlen am 6. Juni 1920 aufgestellt wurde. Daraufhin trat sie aus der Partei aus und legte ihr Amt in der Charlottenburger Stadtverordnetenversammlung nieder. Ihr Versuch, sich über eine von ihr angeführte überparteiliche Frauenliste aufzustellen, scheiterte, „da nicht nur die Massen, sondern auch die in der Frauenbewegung führenden Frauen ihm ablehnend gegenüberstanden“ (Baum 1954, 76). Folgend konzentrierte sie sich wieder verstärkt auf ihre ehrenamtlichen Aufgaben in Verbänden, Vereinen, Ausschüssen etc. auf Berlin- und Reichsebene. So war sie beispielsweise 1. Vorsitzende des Vereins Jugendheim E.V., Mitglied im Vorstand der „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“, seit 1925 Herausgeberin der von ihr gegründeten Wochenzeitschrift „Soziale Arbeit“, 2. Vorsitzende des V. Wohlfahrtsverbandes (heute: Paritätischer Wohlfahrtsverband), den sie 1924 mitbegründete, Vorstandsmitglied der 1925 von Alice Sa- 389 uj 9 | 2011 Porträt lomon gegründeten Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, Kuratoriumsmitglied der Sozialhygienischen Akademie in Charlottenburg. Zudem war sie noch Mitglied im Gesamtvorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine, im Arbeitsausschuss der Altershilfe der Frauenbewegung im BDF sowie im Verbandsvorstand des Vaterländischen Frauenvereins vom Roten Kreuz der Provinz Brandenburg, 1. Vorsitzende des Stadtverbandes Berliner Frauenvereine und 1. Vorsitzende des Hausfrauenvereins Charlottenburg u. a. m. Als die Nazis an die Macht kamen, musste Anna von Gierke all ihre Ämter aus Gründen ihrer „jüdischen Versippung“ niederlegen. 1934 wurde ihr ureigenstes Werk - der Verein Jugendheim E.V. - aufgelöst und seine Einrichtungen an das Pestalozzi-Fröbel-Haus überführt. Sie war nun ohne Berufsarbeit, aber nicht ohne ihre Arbeit, die ja immer den Menschen galt. Die Politikerin und Wohlfahrtspflegerin Marie Elisabeth Lüders schrieb rückblickend über Anna von Gierkes weiteres Wirken während der Nazi-Diktatur: „Denn mit ihrem Genie des Herzens sah sie sofort wieder eine große seelische Not, die nach Hilfe verlangte. Es war die Not der ‚Mischlinge’ und der getauften Juden. Diesen Kreisen und denen, die das bittere Unrecht fühlten, schuf sie in ihrem Heim in der Carmerstraße einen der Bibelkreise der Bekennenden Kirche … Dieser Bibelkreis wuchs zu einer festen inneren Gemeinschaft zusammen und hat allen Teilnehmern unverlierbare Werte vermittelt. Was verdankten ihm alle an Kraft und seelischer Hilfe, auch als die Not der Juden immer größer wurde! Es kam die Zeit, daß der gelbe Stern getragen werden mußte; es kam die Zeit, als der Bibelkreis immer mehr zusammenschmolz, weil immer mehr Deportationen erfolgten, viele auswanderten … Es war schon ein Wunder, wie lange sich dieser Bibelkreis trotz ständiger Bedrohung durch die Gestapo hatte halten können. Aber schließlich wurde auch er unter schärfsten Bedrohungen verboten“ (zit. n. Coppi 2001, 175). Nach längerer Krankheit starb Anna von Gierke in den frühen Morgenstunden des 3. April 1943. Ihr Tod wurde von der Öffentlichkeit Nazi- Deutschlands nicht registriert. Trotzdem kam eine unüberschaubare Anzahl von Trauernden zur Beerdigung auf dem Friedhof der Kaiser- Wilhelm-Gedächtnisgemeinde, darunter einige ehemalige „Jugendheimer“. Heute erinnern in Berlin die „Gierkezeile“, der „Gierkeplatz“, eine Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus der Familie von Gierke sowie in Hamburg die „Anna von Gierke-Stiftung“ und der „Anna-von-Gierke-Ring“ an die Pionierin der Sozialen Arbeit. Manfred Berger Am Mittelfeld 36 89407 Dillingen Literatur Baum, M., 1954: Anna von Gierke. Ein Lebensbild. Weinheim/ Berlin Coppi, M., 2001: Anna von Gierke (1874 - 1943). Leben und Werk einer bedeutenden Frau der Sozialpädagogik/ -arbeit. Unveröffentl. Diplomarbeit. Berlin Gierke, A., 1911: Grundsätze für die Auswahl der Kinder. In: Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge (Hrsg.): Aufsichtslose Schulkinder. Erste Deutsche Kinderhort-Konferenz. Dresden, S. 4 - 12 Gierke, A., 1919: 25 Jahre Verein Jugendheim. Charlottenburg Jochens, B./ Miltenberger, S. (Hrsg.), 1999: Zwischen Rebellion und Reform. Frauen im Berliner Westen. Berlin, S. 22 - 24 Reinicke, P., 1998: Gierke, Anna von. In: Maier, H. (Hrsg.): Who is who der Sozialen Arbeit. Frankfurt am Main, S. 199 - 201 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenografische Berichte. Berlin 1920
