unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2011.art50d
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2011
6311+12
Migrantische Eltern als Zielgruppe in sozialraumorientierten Bildungs- und Erziehungslandschaften
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2011
Victoria Schwenzer
Liv-Berit Koch
Die vorliegenden Erfahrungen mit migrantischen Zielgruppen knüpfen an das dreijährige Praxisforschungsprojekt "Elternbeteiligung und Gewaltprävention in kommunalen Bildungs- und Erziehungslandschaften" an, dass bis Ende Dezember 2011 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziert wird. Mit dem Projekt beauftragt sind die drei sozialwissenschaftlichen Institute Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich - gGmbH, Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e. V. (ism) und Institut für Soziale Praxis (isp) der Ev. Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie.
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463 unsere jugend, 63. Jg., S. 463 - 474 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art50d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Victoria Schwenzer Jg. 1968; Europäische Ethnologin M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH Migrantische Eltern als Zielgruppe in sozialraumorientierten Bildungs- und Erziehungslandschaften Ausgewählte Ergebnisse eines Praxisforschungsprojektes Die vorliegenden Erfahrungen mit migrantischen Zielgruppen knüpfen an das dreijährige Praxisforschungsprojekt „Elternbeteiligung und Gewaltprävention in kommunalen Bildungs- und Erziehungslandschaften“ an, das bis Ende Dezember 2011 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziert wird. Mit dem Projekt beauftragt sind die drei sozialwissenschaftlichen Institute Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich - gGmbH, Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V. (ism) und Institut für Soziale Praxis (isp) der Ev. Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie. Der Begriff „Kommunale Bildungslandschaft“ geht auf einen Aufruf des Deutschen Vereins für Öffentliche und Private Fürsorge aus dem Jahr 2007 zurück und umfasst „die Gesamtheit aller auf kommunaler Ebene vertretenen Institutionen und Organisationen der Bildung, Erziehung und Betreuung, eingefügt in ein Gesamtkonzept der individuellen und institutionellen Bildungsförderung in Federführung eines kommunalen Verantwortungsträgers“ (Deutscher Verein 2007). Neben Landschaften in Gebietskörperschaften (wie Städten, Landkreisen und Gemeinden) hat das Praxisforschungsprojekt auch Modellgebiete des Programms „Soziale Stadt“ einbezogen, das sich mit dem Ziel einer integrierten Stadtteilentwicklung auf eng umrissene soziale Räume bezieht. In Anschluss an Michael Winklers These wird der Begriff der„Bildungslandschaft“ in dem Forschungsprojekt mit Blick auf die Bildungsbiografien und das Liv-Berit Koch Jg. 1973; Diplom-Sozialpädagogin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH 464 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in Kommunen bzw. Sozialräumen um die systematische Voraussetzung für Bildungsprozesse, nämlich die Erziehung, ergänzt (Winkler 2006, 187). Gegenstand des bundesweiten Praxisforschungsprojektes ist die Frage, wie sich kommunale Bildungs- und Erziehungslandschaften im Zusammenspiel zwischen Jugendhilfe, Schule, jungen Menschen und Eltern gestalten und welchen Beitrag die neuen Formen des Zusammenspiels institutioneller und individueller Akteure der Bildung, Erziehung und Betreuung zur Gewaltprävention leisten können. Dies ist verbunden mit der weithin geteilten Auffassung, dass Gewalt im Kindes- und Jugendalter vorrangig durch Erziehung, Lernen und Kompetenzerwerb bewältigt werden kann und somit eine Aufgabe der Familie, Kindertagesbetreuung und der Grundschulen, der Jugendarbeit, Familienbildung und der Hilfen zur Erziehung ist. Die Verschränkung der beiden Themenbereiche „Elternbeteiligung“ und „Gewaltprävention“ knüpft an das Anliegen von kommunalen Bildungs- und Erziehungslandschaften an, Kinder und Jugendliche durch vernetzte Angebote möglichst früh und optimal zu fördern. Im Rahmen des Projektes wird die - bislang vernachlässigte - Rolle von Eltern fokussiert - als Ansatz, um Risikofaktoren und Problemkonstellationen bereits in der frühen Kindheit zu erkennen und abzubauen. Im Vordergrund dieses Artikels stehen die Projekterfahrungen mit der Erreichung migrantischer Zielgruppen in zwei sozialraumorientierten Erziehungs- und Bildungslandschaften in Berlin, dem Wrangelkiez in Berlin-Kreuzberg und dem Reuterkiez in Berlin-Neukölln. Die hierfür zusammengefassten Forschungsergebnisse basieren auf zwei qualitativen Erhebungen, die Camino im Sommer 2009 sowie im Winter 2010/ 2011 durchgeführt hat. Die erste Erhebung fand im Rahmen einer regional ausgerichteten Bestandsaufnahme des Projektes zu den Themenschwerpunkten „Elternbeteiligung“ und „Gewaltprävention“ statt. In diesem Zusammenhang wurden in Berlin und den umliegenden Bundesländern über 30 ExpertInnen mittels qualitativer Interviews zu ihren Erfahrungen mit Elternarbeit/ -beteiligung und Gewaltprävention im Kontext kommunaler bzw. sozialräumlicher Bildungs- und Erziehungslandschaften befragt (Behn/ Koch/ Schwenzer 2010). Darauf aufbauend fand an einem der insgesamt sechs ausgewählten Modellstandorte des Projektes eine qualitative Evaluation zu Good-practice-Modellen der elternorientierten Gewaltprävention statt. Die hier erhobenen Daten umfassen vor allem Good-practice-Erfahrungen mit migrantischen Zielgruppen (Koch/ Schwenzer 2011). An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass migrantische Kinder und ihre Eltern eine heterogene Gruppe darstellen, deren Lebenslagen in Abhängigkeit von sozio-ökonomischen Voraussetzungen, Bildungshintergrund, Geschlecht, Religion, Aufenthaltsstatus etc. erheblich differieren können. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind in Deutschland jedoch trotz dieser heterogenen Lebenslagen insgesamt gesehen „deutlich unterrepräsentiert in den oberen Positionen der Bildungshierarchie“ (Fürstenau/ Gomolla 2009, 8), da sie nicht über die gleichen Bildungschancen verfügen wie Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Arbeit mit und Beteiligung von Eltern mit Migrationshintergrund Die empirische Bestandsaufnahme, die im Rahmen des Praxisforschungsprojektes durchgeführt wurde, zeigt, dass die Erfahrungen, die mit der Einbeziehung von migrantischen Eltern gemacht wurden, sehr stark divergieren. In einigen Bildungs- und Erziehungslandschaften besteht die Auffassung, migrantische Eltern seien schwer zu erreichen. Dies wird von anderen überwiegend migrantisch geprägten sozial benachteiligten Quartieren nicht bestätigt. Im 465 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus Gegenteil: Hier konnten große Erfolge erzielt werden, migrantische, eher bildungsnahe, aber auch sozial benachteiligte Eltern mit geringen Deutschkenntnissen zu erreichen. „Sie kommen. Aber wir haben sie auch da abgeholt, wo sie waren. Wir haben nicht gleich alles in Deutsch gemacht und mit hehren Themen, wir haben sie in der türkischen Muttersprache abgeholt … und nach ihren Themenwünschen gefragt. Und nicht von oben, wir können jetzt mal über Pubertät reden, sondern das war ein Wunsch von den Eltern. Und dann entwickelte sich das so nach und nach.“ (Schulleiterin) Eine wichtige Strategie zur Einbeziehung migrantischer Eltern ist die Akzeptanz der Normalität von Mehrsprachigkeit. Dies geschieht beispielsweise durch den Einsatz von ÜbersetzerInnen (in der Regel andere Eltern) bei allen wichtigen Treffen und Veranstaltungen, damit auch die Eltern teilnehmen können, die nur geringe Deutschkenntnisse haben, oder diejenigen, die sich nicht trauen, in größerer Runde die deutsche Sprache anzuwenden. Außerdem kann es für migrantische Eltern wichtig sein, eigene Treffen oder auch eigene Arbeitsgruppen im Rahmen von größeren Veranstaltungen in der Muttersprache durchzuführen, um sich zunächst in der eigenen vertrauten Sprache auszutauschen. Durch Eltern oder durch professionelle ModeratorInnen, die beide Sprachen beherrschen, kann dann wiederum der Transfer in ein Plenum gewährleistet werden. Auch Sprachförderangebote werden als geeignetes Mittel bzw. als Türöffner angesehen, um einen Zugang zu migrantischen Eltern zu erhalten. Über die Teilnahme an Mutter-Kind-Angeboten können Eltern dann auch für andere Angebote oder sogar Beteiligungsformen begeistert werden. Eine Mutter hat sich - aktiviert durch die Teilnahme an einem Mutter-Kind- Sprachförderprogramm - beispielsweise mehr in der Kindertagesstätte eingebracht und sich in den Elternausschuss wählen lassen. Eine weitere wichtige Strategie besteht darin, im Quartier aktive MultiplikatorInnen zu finden, die dort fest verwurzelt sind und über bereits bestehende Netzwerke verfügen, z. B. durch den Zugang zu Sportvereinen. Ein migrantischer Vater berichtet, dass die aktiven Eltern es sich zur Gewohnheit gemacht haben, zu Veranstaltungen jeweils ein weiteres Elternteil persönlich anzusprechen und mitzubringen. Schließlich gilt es auch, kulturelle und religiöse Besonderheiten bei der Planung von Aktivitäten mit einzubeziehen (wie z. B. Ramadan) und entsprechende Feste in die Bildungs- und Erziehungslandschaft (z. B. das muslimische Opferfest) zu integrieren. Die Bildungs- und Erziehungslandschaft kann somit auch einen wichtigen Beitrag zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund leisten. Ein migrantischer Vater macht im folgenden Zitat deutlich, welchen Effekt Beteiligung in dieser Hinsicht erzielen kann: „Dadurch fühlt man sich ja auch integriert, wenn man in diese demokratischen Verhältnisse reinkommt, wo man seine Rechte auch fordern kann und das weiß, wie man das macht, weil man drin ist … Vielleicht macht es auch irgendwann Spaß, weil man mitwirken kann, mit beeinflussen kann und man hat auch hinter sich die Eltern als wichtige Macht. Das ist gut, weil man da auch mal mit Politikern spricht und sagt: ‚Ja, hört uns an! ‘“ Das Zitat macht auch deutlich, dass Beteiligung als Prozess zu verstehen ist, in den man hineinwächst. Während formale Formen der Elternbeteiligung (wie Gremienarbeit) zumindest im ersten Schritt weniger geeignet erscheinen, migrantische, sozial benachteiligte Eltern einzubeziehen, da diese nicht niedrigschwellig genug sind (so sind z. B. für die Übernahme von Mandaten gute Deutschkenntnisse besonders wichtig), wurden in den Bildungs- und Erziehungslandschaften, die Beteiligung im Rahmen von Bottom-Up-Ansätzen entwickelt haben, große Erfolge speziell in Bezug auf die 466 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus Beteiligung migrantischer Eltern erzielt. In diesen Landschaften dominieren non-formale Beteiligungsformen (z. B. Beteiligung in Elternforen oder Elterninitiativen) gegenüber der formalen Gremienarbeit (aufschlussreiche Informationen über die Rolle und den Grad der Beteiligung von MigrantInnen in Bildungs- und Erziehungslandschaften liefert auch die Expertise von Fortmann/ Rittern/ Warsewa 2010). Im Folgenden werden zwei unterschiedliche Wege beschrieben, wie Eltern mit Migrationshintergrund innerhalb von Bildungs- und Erziehungslandschaften erreicht werden können und wie sie sich innerhalb der Landschaft beteiligen. Die zwei empirischen Beispiele stammen - wie bereits erwähnt - aus innerstädtischen Berliner Quartieren und sind beide an einer bzw. mehreren Schulen angesiedelt. In dem ersten geschilderten Projektbeispiel fungieren migrantische Eltern selbst als MultiplikatorInnen, die andere Eltern zur Beteiligung motivieren. Im zweiten Beispiel, einem Modellprojekt zur Arbeit mit migrantischen Eltern, sind es migrantische Fachkräfte, die eine Mittlerfunktion einnehmen. Elternforum und Elternbotschafterinnen - erfolgreiche Ansätze zur Elternbeteiligung Die im Folgenden geschilderten Beteiligungsansätze wurden an einer Grundschule in Berlin-Kreuzberg entwickelt und umgesetzt. Die Grundschule ist Teil der Bildungsinitiative „Wrangelkiez macht Schule“, die 2005 von unterschiedlichen Bildungsakteuren (u. a. dem Jugendamt, dem Quartiersmanagement, Schulen, Kitas, Familienzentren, Bibliothek) gegründet wurde, um gemeinsam die Bildungssituation im Quartier zu verbessern und die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen zu erhöhen. Schwerpunkte der Bildungsinitiative sind die Sprachförderung, die Zusammenarbeit mit Eltern und die Bildungswegbegleitung. Grundlage der Arbeit ist der Ansatz der „Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung“, der an den vielfältigen Kompetenzen und Erfahrungen im Stadtteil ansetzt, diese für Bildungsprozesse nutzt und sich gleichzeitig gegen Ausgrenzung, Vorurteile und Diskriminierung einsetzt. Das Elternforum, das hier kurz vorgestellt wird, kann als erfolgreiches Beteiligungsmodell auf institutioneller Ebene gelten, das eine Ausstrahlungskraft auf die ganze Bildungs- und Erziehungslandschaft hat. Die Elternbeteiligung entwickelte sich hier sukzessive. Bei dem Modell Elternforum wurde - im Rahmen des Schulentwicklungsprogramms „Demokratie lernen und leben“ der Bund-Länder- Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung - vonseiten eines türkischsprachigen Mitarbeiters an einer Schulstation ein Elterncafé in der Muttersprache ins Leben gerufen, nachdem ihm von den türkischsprachigen Eltern signalisiert wurde: „Wir würden ja gerne ins Elterncafé kommen, aber wir trauen uns nicht, weil wir die Sprache nicht so gut können.“ Wegen des großen Zuspruchs trafen sich die türkischsprachigen Eltern in der Folge monatlich, um sich zu Themen rund um Schule, Bildung und Erziehung auszutauschen (z. B. Verantwortung und Engagement von Eltern, Gestaltung von Elternabenden, Pausenregelungen in der Schule, Freizeitgestaltung von Kindern). Entsprechend dem Ansatz, Schule demokratisch zu entwickeln und zu gestalten, beschlossen die Eltern, das rein türkischsprachige Treffen für Eltern mit weiteren Herkunftssprachen zu öffnen. Das Elternforum findet als mehrsprachiges Forum inzwischen regelmäßig statt; für Kinderbetreuung wird gesorgt, um möglichst vielen Eltern die Teilnahme zu ermöglichen. Themen des Elternforums waren bislang z. B. der Umgang mit Gewalt an der Schule, die Einführung von neuen Schulregeln, der Umgang mit den Regeln in der Schule und in den Familien und die Aktivierung von weiteren Eltern. Im Elternforum, das nun selbstständig von Eltern 467 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus ohne Unterstützung von außen vorbereitet und moderiert wird, wurden dann die Aushandlungsrunden auf Schulebene vorbereitet. Aushandlungsrunden sind ein zentrales Instrument im Konzept der demokratischen Schulentwicklung, bei der die konsensorientierte Aushandlung unter Beteiligung aller Schulbeteiligten für eine möglichst hohe Akzeptanz von Entscheidungen sorgt. Das heißt, es geht nicht um meist übliche quantitative Entscheidungen, sondern um die Qualität einer Entscheidung, mit der alle Beteiligten am Schluss zufrieden sind bzw. die alle unterstützen können (Schütze/ Hildebrandt 2006, 17). In diesen Aushandlungsrunden wurden gemeinsam mit Eltern, SchülerInnen, PädagogInnen und Schulleitung die Entwicklungsschwerpunkte des Schulprogramms, die Schulregeln und ihre Konsequenzen sowie weitere schulrelevante Themen ausgehandelt. Ziel ist es, einen Konsens der unterschiedlichen Gruppen zu finden, wobei es - wie bereits erwähnt - um Beteiligung an Entscheidungsprozessen geht (Mitbestimmung), nicht um eine beratende Funktion von Eltern (Mitwirkung). Ein Teil der Eltern agiert dabei als „Elternbotschafterinnen“, die ihre Erfahrungen in der Schule und im Kiez an andere Eltern weitergeben, ihnen Tipps und Anregungen geben, wie sie sich noch mehr in das Schulleben einbringen können, und sowohl Fachkräfte als auch Eltern ermutigen, die Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus zu verbessern. Die aktive Mitarbeit der überwiegend migrantischen Eltern im Bereich der Schulentwicklung beförderte die Qualifizierung und Kompetenzsteigerung dieser Eltern - sowohl in Bezug auf die Weiterentwicklung der eigenen Deutschkenntnisse als auch in Bezug auf Präsentations-, Moderations- und Kommunikationsfähigkeiten. Die Aktivierung dieser Eltern führte dazu, dass sie sich auch auf Ebene der Bildungs- und Erziehungslandschaft mit ihren Wünschen und Ideen einbrachten und weitere Projekte entwickelt wurden. So dienten die Maßnahmen im Rahmen der demokratischen Schulentwicklung als Keimzelle für die Elternbeteiligung an der gesamten Landschaft. Das Beispiel zeigt, dass eine konsequente Einbeziehung der Eltern innerhalb einer Institution, die die Eltern als Partner in der Erziehung und Bildung des Kindes ernst nimmt, eine große Ausstrahlungskraft auf die Bildungs- und Erziehungslandschaft haben kann. Von zentraler Bedeutung war es hier, dass ein entsprechendes Beteiligungsklima geschaffen wurde, das den Eltern vermittelte, dass ihre Stimme wichtig ist, gehört wird und dass ihre Wünsche, Ideen und Anregungen ernst genommen werden und auch Konsequenzen haben. Das führte dazu, dass sich ursprünglich professionell moderierte Gremien verselbstständigten und von Eltern nun selbst vorbereitet, organisiert und moderiert werden. Interkulturelle ModeratorInnen Als eine weitere erfolgreiche Strategie werden professionelle interkulturelle ModeratorInnen genannt, die Eltern in der Muttersprache ansprechen, ihre Wünsche und Themen aufgreifen und zwischen Schule und Elternhaus vermitteln. Dabei wird die Einbeziehung von Migrantenselbstorganisationen und -initiativen sowie von bezirklichen Integrationsämtern und -büros als hilfreich bewertet, denn die Arbeit mit „Mittlern“ kann als ein vielversprechender Weg gelten, um Eltern mit Migrationshintergrund stärker an Bildungsprozessen zu beteiligen (Süssmuth 2009). Im Rahmen der Evaluation wurde das Modellprojekt „Interkulturelle Moderation“, das auf der Vermittlungsrolle von migrantischen Fachkräften basiert, intensiver untersucht. Im Folgenden werden einige Ergebnisse dieser Untersuchung dargestellt. Das Projekt „Interkulturelle Moderation“ wird seit 2006 an mehreren Schulen im Rahmen des „Lokalen Bildungsverbundes Reuterkiez“ in Berlin-Neukölln umgesetzt. Das Projekt wurde in der Anfangsphase durch die Universität Pots- 468 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus dam wissenschaftlich begleitet. Gebietskulisse für den „Lokalen Bildungsverbund Reuterkiez“ ist das Programm „Soziale Stadt“ mit den Quartiersmanagementgebieten Reuterkiez und Donaustraße. Zum „Lokalen Bildungsverbund Reuterkiez“ gehört auch das Modellprojekt „Campus Rütli - CR2“, an dem die verschiedenen lokalen Institutionen der Erziehung und Bildung in gemeinsamer Verantwortung räumlich konzentriert auf einem Campus-Gelände zusammenarbeiten. Bestandteile, Aufgaben und Ziele des Modellprojektes „Interkulturelle ModeratorInnen“ (IKM) sind sozialpädagogisch ausgebildete Fachkräfte, die aufgrund ihrer eigenen (arabischen, türkischen, serbokroatischen etc.) Herkunft, ihrer Geschichte und ihrer Kompetenzen in besonderem Maße dazu in der Lage sind, Brücken der Verständigung zwischen SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen zu schlagen, gegenseitige Vorurteile und Missverständnisse zu überwinden, gegenseitige Erwartungen transparent zu machen und einen interkulturellen Dialog zu fördern. Sie leisten sozialpädagogische Arbeit mit SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen mit einem interkulturellen Ansatz. Aufgrund ihrer doppelten Zugehörigkeit sollen sie eine Vorbildfunktion einnehmen, das Interesse der Eltern am Bildungsweg der Kinder wecken, den Eltern den Zugang zur Schule erleichtern und ihre (Erziehungs-)Kompetenzen stärken. Außerdem unterstützen sie die SchülerInnen bei ihrer schulischen und außerschulischen Lebensbewältigung und der Entwicklung ihrer sozialen Kompetenzen. Übergeordnetes Ziel ist es, ein offenes, respektvolles und gewaltfreies Miteinander in der Schule zu fördern. Die konkreten Aufgaben der IKM sind breit gefächert und umfassen im Wesentlichen die folgenden Bestandteile: ➤ Interkulturelle Moderation, Konfliktbearbeitung und Förderung der Kommunikation zwischen SchülerInnen und/ oder LehrerInnen und/ oder Eltern, ➤ Elternaktivierung und Förderung von Elternbeteiligung, ➤ Unterstützung und Kompetenzförderung von Eltern mittels niedrigschwelliger Angebote, ➤ Individuelle und fallbezogene Beratung von Eltern, ➤ Beratung von SchülerInnen bei schulischen und familiären Problemen und Kompetenzförderung, ➤ Unterstützung von LehrerInnen bei der Elternarbeit, ➤ Unterstützung von LehrerInnen bei der Umsetzung von Projekten zur interkulturellen und sozialen Kompetenzentwicklung, ➤ Netzwerkarbeit und Öffnung der Schule in den Sozialraum. Zu den Besonderheiten der IKM gehört, dass es sich um Fachkräfte handelt, die nicht nur ExpertInnen für zwei Kulturen sind und über interkulturelle Kompetenzen verfügen (denn dies könnte auch eine „herkunftsdeutsche“ Fachkraft leisten), sondern dass sie sich in beiden Kulturen „zu Hause“ fühlen und sich in der jeweiligen migrantischen Community genauso wie in der deutschen Gesellschaft ganz selbstverständlich bewegen können. Hierzu gehören im optimalen Fall auch Ähnlichkeiten im sozialen Milieu und ähnliche biografische Erfahrungen wie die Zielgruppe. Auch eine entsprechende Altersmischung bei den IKM und die Beschäftigung von männlichen und weiblichen IKM als AnsprechpartnerInnen für Mütter und Väter werden als hilfreich und wichtig erachtet (so gelang es beispielsweise einem„Interkulturellen Moderator“, auch Väter zum Elternfrühstück zu motivieren). Diese Aspekte erleichtern den Zugang zu den Zielgruppen und die Herstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Eltern und sozialpädagogischer Fachkraft. 469 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus Aufgrund der Sprachkompetenzen der IKM ist eine fachlich kompetente Arbeit mit den Eltern auch in der Muttersprache möglich, wenn diese über geringe Deutschkenntnisse verfügen. Dies ermöglicht es, sprachliche Missverständnisse zu vermeiden und die Scham, die Eltern aufgrund von geringen Deutschkenntnissen mitunter haben, zu überwinden und sie zu Nachfragen zu ermutigen. Die Beschäftigung von sozialpädagogischen Fachkräften mit Migrationshintergrund ist auch ein Zeichen der Schule nach außen hin, sich interkulturell zu öffnen. Aufgrund ihrer Mittlerfunktion zwischen Schule und Elternhaus werden die „Interkulturellen ModeratorInnen“ weniger als Teil eines schulischen Macht- und Hierarchiesystems wahrgenommen als die LehrerInnen. Diese Position erleichtert es ihnen, auch problematische Themen (wie häusliche Gewalt) und weitere Erziehungsfragen anzusprechen. Die IKM stoßen dabei mit ihren pädagogischen Interventionen auf größere Akzeptanz als die LehrerInnen. Dies kann zum einen auf den Statusunterschied zwischen LehrerIn und IKM und auf ihre Mittlerfunktion, die eine gleichberechtigte partnerschaftliche Kommunikation erleichtert, zurückgeführt werden, zum anderen aber auch auf die fundierten Kenntnisse der jeweiligen Herkunftskultur und der Aufnahmegesellschaft sowie auf die angemessene Ansprache der Eltern. „Wenn meine Kollegin mit arabischen Eltern spricht, dann weiß sie ganz genau, auf welche Art, in welcher Tonart, in welcher Art sie die Leute ansprechen soll, damit sie das ernst nehmen, und die Eltern fühlen sich aber gleichzeitig auch ernst genommen. Sie fühlen sich nicht gemaßregelt, auch wenn sie sehr wohl kritisiert werden.“ Zielgruppen des Projektes Zu den Zielgruppen der„Interkulturellen ModeratorInnen“ gehören SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern. Im Mittelpunkt der Arbeit der IKM stehen jedoch die Eltern. Zur Zielgruppe gehören grundsätzlich alle Eltern, insbesondere aber diejenigen Eltern mit Migrationshintergrund, die keinen oder wenig Kontakt zur Schule haben, deren Kinder sich in der Schule „problematisch“ verhalten, die mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind und/ oder die Unterstützung hinsichtlich ihrer Lebensbewältigung benötigen. Gemäß der Vorstellung vieler Eltern ist die Schule für die Bildung und Erziehung der Kinder zuständig, sobald das Kind die Schule betritt: Elternhaus und Schule werden als zwei verschiedene Welten betrachtet, die Erziehungsverantwortung während der Schulzeit wird komplett an die Schule delegiert, was dazu führen kann, dass das Fehlverhalten des eigenen Kindes in der Schule als Problem der pädagogischen Fachkräfte wahrgenommen wird, das auch durch die Fachkräfte gelöst werden muss, denen ein Expertenstatus zugeschrieben wird. Ziel des Projektes ist es hier, dieses Verständnis von Schule zugunsten einer Perspektive der gemeinsamen Erziehungsverantwortung und partnerschaftlichen Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus zu überwinden. Es gibt bei vielen Eltern starke Vorbehalte gegenüber staatlichen Institutionen, insbesondere dem Jugendamt (aus Angst vor der Herausnahme des Kindes aus der Familie), und gegenüber Hilfsangeboten (aus Angst vor Stigmatisierung - nach dem Motto: „Mein Kind braucht keinen Psychologen, es ist ja nicht verrückt“). Auch Fehleinschätzungen der Leistungen des eigenen Kindes (z. B. bei SchülerInnen mit Lernbehinderung) führen dazu, dass vorhandene Hilfsangebote nicht wahrgenommen werden. Ziel des Projektes ist es hier, Vorbehalte abzubauen, Vertrauen zu entsprechenden Angeboten und Institutionen zu schaffen und die Akzeptanz und Inanspruchnahme der Angebote zu erhöhen. Den Eltern werden entsprechende Hilfsangebote weitervermittelt; sie werden gegebenenfalls auch zu Terminen begleitet. 470 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus Bereits an der Schule aktive und engagierte Eltern werden von den „Interkulturellen ModeratorInnen“ selbstverständlich auch unterstützt, der Schwerpunkt der Arbeit liegt jedoch auf den Zielgruppen, die durch herkömmliche Konzepte und Strategien noch nicht erreicht werden konnten, bzw. denjenigen, die (noch) nicht an der Schule aktiv sind und aufgrund von problematischen Lebensverhältnissen einen entsprechenden Unterstützungsbedarf haben. Die Erfolge in der Zielgruppenerreichung sind auf ein Bündel an Strategien und niedrigschwelligen Aktivitäten zurückzuführen. Strategien der „Interkulturellen ModeratorInnen“ Als grundsätzliche Strategie wird ein mehrstufiges Verfahren genannt, das mit dem Aufbau einer Willkommenskultur beginnt. Diese Willkommenskultur wird durch eine entsprechende offene Haltung der Fachkräfte, aber auch durch niedrigschwellige Angebote etabliert, die dazu führen, dass die Eltern sich in der Schule wohlfühlen und die Distanz, das Misstrauen und die Schwellenangst vor der staatlichen Institution überwinden. „Das ist oft von Misstrauen geprägt das Verhältnis zur Schule. Oder überhaupt generell zu staatlichen Institutionen. Da guckt man, dass man erst mal zusieht, wie schafft man es, dass Eltern sich wohl fühlen, dass sie kommen, dass sie ein Interesse am schulischen Geschehen nicht nur ihrer Kinder haben, sondern am gesamtschulischen Geschehen.“ Die Einladung zu den Angeboten erfolgt in Form von schriftlichen mehrsprachigen Flyern, vor allem aber durch persönliche Ansprache der Eltern. Das Projekt machte die Erfahrung, dass schriftliche Einladungen häufig vergessen werden, während ein persönliches Gespräch oder ein Telefonat als erfolgreicher eingeschätzt wird. Ein Angebot, das von den Eltern besonders gut angenommen wird, ist das (wöchentliche oder monatliche) Elternfrühstück am Vormittag, das an beiden Schulstandorten regelmäßig stattfindet. Das Elternfrühstück dient nicht nur dem Kennenlernen und dem Austausch der Eltern untereinander, es werden auch immer wieder VertreterInnen aus dem Kiez eingeladen, die sich und ihre Institution vorstellen oder über bestimmte Angebote im Quartier informieren und mit den Eltern diskutieren (z. B. die Präventionsabteilung der Polizei oder das Gesundheitsamt). Nach dem Aufbau der Willkommenskultur an den Standorten ist der zweite Schritt die Klärung von Interessen, Wünschen und dem Unterstützungsbedarf der Eltern. Im dritten Schritt werden dann weitere bedarfsgerechte Angebote und Aktivitäten entwickelt, wobei das Ziel ist, Eltern „stark“ zu machen, also sowohl ihre Erziehungskompetenzen zu stärken als auch ihre Fähigkeit, selbstständig Verantwortung zu übernehmen und sich einzubringen. Dies kann beispielsweise zur gemeinsamen Entwicklung, Vorbereitung und Umsetzung von Angeboten bzw. Aktivitäten führen, wie z. B. eine Opferfestfeier, die im Rahmen des Elternfrühstückes gemeinsam mit den Eltern organisiert wurde. Dabei wird an den Kompetenzen und Ressourcen angesetzt, die die Eltern selbst mitbringen. Als besonderer Erfolg ist die Bildung einer Elterninitiative an einer Schule zu nennen, die inzwischen einzelne Termine des Elternfrühstücks selbstständig vorbereitet und durchführt und außerdem ein wöchentliches Elterncafé am Nachmittag organisiert, das sich vor allem an berufstätige Eltern wendet, denen Kaffee und Kuchen angeboten wird. Diese Befähigung zur Eigenverantwortung ist durchgängiges Prinzip, auch in der individuellen Beratung der Eltern in Einzelgesprächen. Hier hat es sich bewährt, Sprechstunden einzurichten, aber gleichzeitig immer auch durch das Prinzip der „Offenen Tür“ Gesprächsbereitschaft zu signalisieren und sich auch auf Tür-und-Angel- Gespräche einzulassen. Als weitere erfolgreiche Strategie zur Zielgruppenerreichung sind Hausbesuche zu nennen, wobei deren Einsatz sehr 471 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus stark von den jeweiligen zeitlichen Ressourcen der IKM abhängig ist. Weiterhin werden thematische Elternabende angeboten, zu denen ebenfalls ExpertInnen und KooperationspartnerInnen bzw. schulische VertreterInnen eingeladen werden. Diese Elternabende finden zu unterschiedlichen Themen statt (z. B. zu Gewalt in der Schule, Einhaltung schulischer Regeln, Berufsübergang). Zum Angebot gehören ebenfalls Workshops für Eltern (z. B. zur Organisation des Elterncafés), Elternkurse, die in Kooperation mit der Schulstation durchgeführt werden (z. B. der Kurs „Starke Eltern - starke Kinder“ zur Stärkung von Erziehungskompetenzen), sowie Erziehungsberatung in Gruppen. Als besonders wichtige Strategie der Arbeit mit „schwer erreichbaren“ Eltern wurde das Prinzip der Hartnäckigkeit genannt, mit der die „Interkulturellen ModeratorInnen“ mit ihrer Klientel in Kontakt bleiben. Die Erfahrung zeigt, dass Hartnäckigkeit letztendlich zum Erfolg führt. „Da gerät man oft in Versuchung, zu sagen: ‚Ich habe da jetzt schon fünfmal angerufen und die haben jetzt schon wieder eine neue Nummer und ich habe da auch keine Lust mehr hinterher zu rennen.‘ Nein, man muss hartnäckig bleiben, weil irgendwann - und das ist auch eine kulturelle Sache - ist es ihnen nämlich unangenehm, dass man so oft angefragt hat, also früher oder später kommen sie dann doch her und sagen: ‚Ja, ich weiß ja auch, und ich wollte eigentlich schon lange vorbeikommen, jetzt habe ich es endlich mal geschafft.‘“ Die Arbeit der „Interkulturellen ModeratorInnen“ führt auch dazu, dass sich das Schulklima verbessert und Verbindungen zwischen Schule und Elternhaus entstehen. Die Vorstellung von getrennten Erziehungswelten wird zugunsten einer gemeinsamen Erziehungsverantwortung überwunden. Durch die Förderung von Elternbeteiligung an der Schule erhöht sich die Eigenverantwortung der Eltern. Sie bringen sich mit ihren Ideen und Wünschen ein und übernehmen Aufgaben an der Schule. Weiterhin ist zu beobachten, dass sich der Ruf der Schule im Kiez langsam wandelt: Das Vertrauen in die Schule wächst, da das Engagement der Fachkräfte an der Schule nach außen dringt und von den Eltern der Schule weitergetragen wird. Das positive Bild der Schule wirkt sich auch positiv auf die Kinder und ihren Bezug zur Schule aus. Förderliche Faktoren für die Arbeit mit und die Beteiligung von Eltern mit Migrationshintergrund Im Folgenden werden zusammenfassend die wichtigsten förderlichen Faktoren für die Arbeit mit und die Beteiligung von Eltern mit Migrationshintergrund aufgeführt (vgl. auch Behn/ Grossart u. a. 2010). Ein großer Teil der hier aufgeführten Faktoren gilt nicht nur für Eltern mit Migrationshintergrund, sondern für die Zielgruppe Eltern allgemein. Dies macht deutlich, dass zwar einerseits bei der Arbeit mit und der Beteiligung von Eltern mit Migrationshintergrund besondere Faktoren zu beachten sind, dass aber andererseits migrantische Eltern sich in vielen ihrer Bedürfnisse, Wünsche und Interessen nicht von anderen Eltern unterscheiden. Grundsätzlich ist jedoch für die Arbeit mit und die Beteiligung von migrantischen Zielgruppen eine interkulturelle Öffnung der jeweiligen Institution bzw. der gesamten Bildungs- und Erziehungslandschaft notwendig. Dazu gehören sowohl konkrete Prozesse der Organisationsentwicklung (z. B. regelmäßige Fortbildungen zu interkulturellen Themen, Verankerung von Interkulturalität im Leitbild) als auch eine entsprechende Haltung aller Beteiligten (z. B. Offenheit gegenüber Vielfalt, wie im Folgenden beschrieben). Wertschätzung von Vielfalt und Mehrsprachigkeit: Die Arbeit mit migrantischen Eltern muss an ihren vielfältigen Kompetenzen und Erfahrungen anknüpfen; dazu bedarf es einer Haltung der Offenheit gegenüber Vielfalt und he- 472 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus terogenen Lebensentwürfen. Es ist von Bedeutung, dass die Mehrsprachigkeit der Eltern nicht als Hindernis betrachtet wird, sondern als eine Ressource, die wertgeschätzt wird, z. B. durch die Repräsentation der unterschiedlichen Sprachen, die an einer Institution gesprochen werden. Mehrsprachigkeit sollte auch in der Einladungskultur (Flyer, Info-Zettel etc.) gezielt eingesetzt werden; Veranstaltungen sollten bei Bedarf mit Übersetzung (z. B. durch andere Eltern oder semi-/ professionelle Fachkräfte) geplant werden. Vorurteilsbewusstes Handeln und demokratische Schulentwicklung: Vorurteilsbewusstes Handeln umfasst die gezielte Reflexion der eigenen Vorurteilsstrukturen und eine Auseinandersetzung mit Diskriminierung und Ausgrenzung. Dazu können beispielsweise gezielte Fortbildungen für Fachkräfte (auch gemeinsam mit Eltern) durchgeführt werden, die einen Raum für solche Reflexionsprozesse schaffen. Vorurteilsbewusstes Handeln kann genau wie die Wertschätzung von Vielfalt auch im Leitbild der Institution festgeschrieben werden. Ferner zeigen die Erfahrungen, dass die Beteiligung an und Mitgestaltung von demokratischen Schulentwicklungsprozessen die Chance bieten kann, Demokratie als Lebens- und Umgangsform zu erleben und für undemokratische, diskriminierende, rassistische bzw. menschenverachtende Haltungen sensibilisiert zu werden. Interkultureller Dialog: Eltern beschreiben, dass Missverständnisse zwischen migrantischen Eltern und herkunftsdeutschen Fachkräften aufgrund von mangelndem interkulturellem Wissen und der Unkenntnis der Lebenswelt und der kulturellen Alltagspraktiken des jeweils anderen entstehen können. Sinnvoll können hier die Initiierung von Dialogveranstaltungen mit Eltern und Fachkräften sein, um den gegenseitigen Respekt zu befördern. Wenn es um den interkulturellen Dialog und Austausch gehen soll, wird auch die Einbindung von externen ModeratorInnen als hilfreich genannt. Einbindung von migrantischen Mittlern: Die Einbindung von migrantischen Mittlern hat sich in den untersuchten Bildungs- und Erziehungslandschaften als ein besonders förderlicher Faktor erwiesen. Dazu zählen sowohl migrantische Eltern, die wiederum andere Eltern aktivieren und ermutigen, sich in der Bildungs- und Erziehungslandschaft einzubringen, als auch Fachkräfte mit Migrationshintergrund, die über entsprechende interkulturelle Kompetenzen und Erfahrungen sowie über Kenntnisse der jeweiligen migrantischen Community verfügen. Empowerment: Die Stärkung von Autonomie und Selbstbestimmung von Eltern, insbesondere von migrantischen Frauen, werden als wichtige Faktoren für die Beteiligung dieser Zielgruppe angesehen. So berichten mehrere migrantische Frauen, die sich aktiv im schulischen Kontext bzw. im sozialen Nahraum einbringen, dass sie ihr Selbstbewusstsein stärken und vielfältige Kompetenzen erwerben konnten. Dies motiviert sie zu weiterem Engagement. Darüber hinaus berichten sie von einem selbstbewussteren Umgang mit der Institution Schule, die ihnen neue Beteiligungsfelder, wie beispielsweise die schulische Gremienarbeit, eröffnet. Niedrigschwelligkeit: Ein grundlegender Ansatz in der Arbeit mit und der Beteiligung von migrantischen Eltern in sozial benachteiligten Quartieren bildet die Niedrigschwelligkeit des Erstkontaktes bzw. auch der daran anschließenden Angebotsstrukturen. So sollte ein Zugang zu der Zielgruppe geschaffen werden, die an ihrer Lebenswelt ansetzt und Komm- und Gehstrukturen miteinander verbindet. Wirksamkeitserfahrungen: Als eine sehr wichtige Gelingensbedingung von Elternbeteiligung wurde von verschiedenen Akteuren, Professionellen wie Eltern, formuliert, dass Eltern die Erfahrung von Wirksamkeit machen müssen. Sie müssen tatsächlich an Entscheidungsprozessen beteiligt werden und das Gefühl haben, dass sie tatsächlich Einfluss nehmen und etwas 473 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus verändern können. Sie müssen erleben, dass ihre Wünsche ernst genommen und wenn möglich auch zeitnah umgesetzt werden, so dass sie bzw. ihre Kinder davon profitieren. Würdigung und Anerkennung von Beteiligung: Ehrenamtliches Engagement braucht Würdigung und Anerkennung; dabei wurde von Eltern geschildert, dass das Engagement an einer Institution rapide abnehmen kann, wenn die Anerkennung ausbleibt. Anerkennung kann verschiedene Ebenen haben: Sie kann auf politischer Ebene stattfinden (z. B. durch KommunalpolitikerInnen, die die ehrenamtliche Arbeit würdigen), auf institutioneller Ebene (z. B. durch die Schulleitung), aber auch durch andere Eltern bzw. der migrantischen Community im Sozialraum. Kommunikation auf Augenhöhe: Eltern wollen in der Kommunikation mit VertreterInnen der Institutionen „auf Augenhöhe“ behandelt werden und nicht „von oben herab“. Sie möchten gleichberechtigte Partner sein, deren Stimme ein Gewicht hat. Wird ihnen nicht auf Augenhöhe begegnet, kommt es innerhalb einer Institution, besonders der Schule, häufig zu Konflikten. Da wo Elternbeteiligung jedoch als ein gleichberechtigter Austauschprozess verstanden wird, bei dem beispielsweise nicht nur Eltern, sondern auch LehrerInnen sich als Lernende begreifen, kann Beteiligung gelingen. Konkrete Anbindung der Beteiligung: Häufig wird die Anbindung von Beteiligung an ein konkretes Thema (z. B. Planung eines Elternzentrums) oder an eine Institution (z. B. Beteiligung an der Schule, um die Bildungsprozesse des eigenen Kindes zu fördern) als eine wichtige Gelingensbedingung von Elternbeteiligung formuliert. Je lebensweltlicher und alltagsbezogener Beteiligung ist, desto mehr erscheint sie für Eltern sinnvoll. Besonders Beteiligungsangebote, die ein klares Ziel haben, das relativ kurzfristig erreicht werden kann, sind erfolgreich. Deswegen ist häufig die Einbeziehung in die gesamte Bildungs- und Erziehungslandschaft erst ein zweiter Schritt, weil hier der Ansatzpunkt zunächst abstrakter erscheint. Bereitstellung von Unterstützung: Eltern müssen das Gefühl haben, dass sie Unterstützungsbedarf formulieren können und diese Unterstützung auch erhalten, wenn dies möglich ist - sei es durch professionelle Akteure in konkreten Situationen, sei es bei der Akquise von Fördermitteln für weiterführende Projektideen von Eltern. Darüber hinaus schaffen Eltern auch selbst die Voraussetzungen dafür, sich zu beteiligen, indem Elternorganisationen Seminare und Fortbildungen für Eltern anbieten, die sie in die Lage versetzen sollen, ihre Interessen und die ihrer Kinder angemessen zu vertreten. Etablierung eines Schneeballsystems durch Schlüsselakteure: Beteiligung hat auch eine wichtige soziale Komponente; das Gewinnen von engagierten und bekannten Eltern als MultiplikatorInnen, die in der Lage sind, andere Eltern für Vorhaben der Bildungs- und Erziehungslandschaft zu begeistern, ist ein wichtiger Faktor für die Aktivierung von Eltern. Solche Schlüsselakteure verfügen auch häufig über Netzwerke, die in die Landschaft integriert werden können (z. B. über Vereinsmitgliedschaften). Transparenz von Arbeitsweisen und Kommunikationsformen: Häufig verfügen Eltern über wenig Wissen darüber, welche unterschiedlichen Beteiligungsmöglichkeiten sie haben. Gerade an den Übergängen zwischen den Bildungsinstitutionen ist deswegen eine transparente Einführung in die bestehenden Partizipationsformen notwendig, z. B. über die Erstellung und Verteilung von Broschüren. Gelingt es, Informationen über Formen und Reichweite von Beteiligung an Eltern weiterzugeben, ist die Einbindung von Eltern vielfach erfolgreich. Sowohl die Arbeit in den entsprechenden Beteiligungsgremien als auch die verwendete Sprache müssen so gestaltet sein, dass die Gremienarbeit für Eltern transparent und die Sprache verständlich ist. Der Fachdiskurs muss den 474 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus Eltern angepasst werden, notwendige „Übersetzungsarbeit“ muss geleistet werden (nicht nur im Sinne von Mehrsprachigkeit, auch im Sinne von unterschiedlichen sozialen und fachlichen Sprachwelten). Primat der persönlichen Kommunikation: Elternaktivierung gelingt eher, wenn Eltern persönlich angesprochen und eingeladen werden - sei es durch andere Eltern oder durch professionelle Fachkräfte. Fachkräfte müssen den persönlichen Kontakt zu den Eltern suchen und möglichst persönliche Beziehungen herstellen, damit Eltern sich angesprochen fühlen. Dazu kann ihre Anwesenheit z. B. in Elterncafés beitragen. Schriftliche Einladungen, z. B. zu Elternabenden, erscheinen häufig weniger Erfolg versprechend als ein persönliches Gespräch. Öffnung der Institutionen und positives Beteiligungsklima: Institutionen müssen die Beteiligung von Eltern zulassen, sie müssen sich öffnen und mit den Beteiligungswünschen von Eltern produktiv umgehen. Das führt zwangsläufig zu einer Veränderung von Institutionen, wenn die Beteiligung der Eltern über gesetzlich verankerte Beteiligungsformen hinausgehen soll. Für Beteiligung braucht es ein positives Beteiligungsklima vonseiten der Institution bzw. vonseiten der an der Bildungs- und Erziehungslandschaft beteiligten Akteure. Dazu gehört auch eine entsprechende Haltung und Offenheit den Belangen der Eltern gegenüber und das Anliegen, Eltern in Prozesse einzubinden und einer Alibibeteiligung entgegenzuwirken. Victoria Schwenzer Liv-Berit Koch Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH Scharnhorststraße 5 10115 Berlin livkoch@camino-werkstatt.de victoriaschwenzer@camino-werkstatt.de Literatur Behn, S./ Koch, L.-B./ Schwenzer, V., 2010: Elternbeteiligung und Gewaltprävention in kommunalen Bildungs- und Erziehungslandschaften. Bestandsaufnahme Region Ost. Berlin Behn, S./ Grossart, A./ Höblich, D./ Koch, L.-B./ Lembeck, H.-J./ Lutz, T./ Schwenzer, V., 2010: Elternbeteiligung und Gewaltprävention in kommunalen Bildungs- und Erziehungslandschaften. Neue Formen im Zusammenspiel von Jugendhilfe, Schule, jungen Menschen und Eltern. Zwischenbericht. Hamburg/ Berlin/ Mainz Deutscher Verein für Öffentliche und Private Fürsorge e.V., 2007: Diskussionspapier des Deutschen Vereins zum Aufbau Kommunaler Bildungslandschaften. Berlin Fortmann, C./ Rittern, R. v./ Warsewa, G., 2010: Zum Umgang mit Diversität und Heterogeninät in Bildungslandschaften. Expertise im Auftrag der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Bremen Fürstenau, S./ Gomolla, M., 2009: Migration und schulischer Wandel: Elternbeteiligung. Wiesbaden Koch, L.-B./ Schwenzer, V., 2011: Impulse zu Elternbeteiligung und Gewaltprävention in Bildungs- und Erziehungslandschaften. Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation und Begleitung des Modellstandortes „Lokaler Bildungsverbund Reuterkiez“ in Berlin-Neukölln. Berlin Schütze, D./ Hildebrandt, M., 2006: Demokratische Schulentwicklung. Partizipations- und Aushandlungsansätze im Berliner BLK-Vorhaben„Demokratie lernen und leben“. Begleitheft zum Praxisbaukasten. Berlin Süssmuth, R., 2009: Integration und schulische Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund: Von Verdrängung zu aktiver Zukunftsgestaltung. In: Bleckmann, P./ Durdel, A. (Hrsg.): Lokale Bildungslandschaften. Perspektiven für Ganztagsschulen und Kommunen. Wiesbaden, S. 67 - 76 Winkler, M., 2006: Bildung mag zwar die Antwort sein - das Problem aber ist Erziehung. Drei Thesen. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik, H. 2, S. 187
