unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2011.art52d
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Arbeit mit „schwer erreichbaren“ Eltern im Rahmen offener Jugendarbeit
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Sevil Yildirim
Die Mädcheneinrichtung MaDonna bietet offene und mobile Kinder- und Jugendarbeit und Beratung sowie ergänzende Eltern- und Familienarbeit in Berlin Neukölln in einem Quartier, das gemeinhin als "sozialer Brennpunkt" bezeichnet wird. Die Einrichtung wendet sich an Mädchen und junge Frauen zwischen ca. 9 und 18 Jahren, wobei über drei Viertel der Besucherinnen Migrantinnen aus dem Libanon, aus Syrien, Kurdistan, der Türkei und Ex-Jugoslawien sind. Viele wachsen in kinderreichen Familien und beengten Wohnverhältnissen auf. Schwierige Familienverhältnisse wie z. B. häusliche Gewalt, fehlende Selbstbestimmung junger Frauen und Zwangsverheiratung sind keine Seltenheit. Für die Mädchen und jungen Frauen ist das MaDonna vor allem ein Ort, an dem sie sich frei von den Zwängen zu Hause bewegen und unterhalten können.
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483 unsere jugend, 63. Jg., S. 483 - 486 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art52d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Arbeit mit „schwer erreichbaren“ Eltern im Rahmen offener Jugendarbeit Interview mit Sevil Yildirim Die Mädcheneinrichtung MaDonna bietet offene und mobile Kinder- und Jugendarbeit und Beratung sowie ergänzende Eltern- und Familienarbeit in Berlin Neukölln in einem Quartier, das gemeinhin als „sozialer Brennpunkt“ bezeichnet wird. Die Einrichtung wendet sich an Mädchen und junge Frauen zwischen ca. 9 und 18 Jahren, wobei über drei Viertel der Besucherinnen Migrantinnen aus dem Libanon, aus Syrien, Kurdistan, der Türkei und Ex-Jugoslawien sind. Viele wachsen in kinderreichen Familien und beengten Wohnverhältnissen auf. Schwierige Familienverhältnisse wie z. B. häusliche Gewalt, fehlende Selbstbestimmung junger Frauen und Zwangsverheiratung sind keine Seltenheit. Für die Mädchen und jungen Frauen ist das MaDonna vor allem ein Ort, an dem sie sich frei von den Zwängen zu Hause bewegen und unterhalten können. von Sevil Yildirim Jg. 1984; studiert Psychologie und ist seit mehreren Jahren pädagogische Mitarbeiterin im MaDonna Mädchentreff ? Ihr arbeitet mit Mädchen überwiegend türkischer, arabischer Herkunft - warum ist Elternarbeit hier besonders wichtig? Um überhaupt mit den Mädchen arbeiten zu können, brauchen wir ja zuerst die Erlaubnis der Eltern. Wenn die Eltern die Mädels die ganze Zeit zu Hause behalten und nicht zu uns lassen, dann liegt es auf der Hand, dass wir erst einmal mit den Eltern arbeiten müssen, damit ihre Kinder überhaupt zu uns in die Einrichtung kommen können. Natürlich würden uns auch so Mädchen besuchen, beispielsweise zur Hausaufgabenhilfe oder um das Internet für Bewerbungen zu nutzen. Aber wenn es wirklich um Integrationsfragen geht, um die Frage, was darf ich und was darf ich nicht, um heikle Themen wie arrangierte Ehen oder Zwangsheiraten - dafür ist Elternarbeit Voraussetzung. ? Welche Strategien habt ihr, um die Eltern zu erreichen? Es heißt doch immer, Eltern mit Migrationshintergrund in sozialen Brennpunkten sind fast überhaupt nicht zu erreichen. Was macht ihr anders als andere? Erstens ist es so, dass ich hier groß geworden bin und die Verhältnisse hier kenne. Ich komme sel- 484 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus ber aus dem Kulturkreis, habe also auch einen Migrationshintergrund weiß, wie die Eltern hier reagieren. Das ist eine wichtige Voraussetzung, die SozialarbeiterInnen, die aus völlig anderen Verhältnissen kommen, natürlich nicht haben. Zu den Strategien: Zuerst muss man auf die Eltern eingehen. Dabei muss man in jedem Fall anders (re)agieren; es gilt also, passgenau und zielgerichtet vorzugehen. Sind die Eltern sehr bildungsnah, bekommt man den Zugang, indem man beispielsweise erklärt: ‚Deiner Tochter können wir hier in der Einrichtung diese und jene Unterstützung bieten, schick sie doch zu uns.’ Dann gibt es aber Eltern, die sehr konservativ sind und bei denen Bildung keine große Rolle spielt. Diese Eltern achten sehr viel stärker auf die Person, die mit ihren Töchtern arbeitet - also auf mich. Sie prüfen, wie ich mich auf der Arbeit verhalte, wie ich mich im Kiez bewege, was ich über ihre Religion weiß - letztlich geht es darum, ob sie mich akzeptieren und ob sie der Ansicht sind, dass ich ein Vorbild für die Mädchen bin oder sein kann. ? Bist du ein positives Rollenmodell für die Mädchen und/ oder für die Eltern? Ja, die Mädchen nehmen mich als Vorbild, aber auch für die Eltern bin ich oft eine Art Wunschtochter. Dann haben sie auch kein Problem, wenn ich mit ihren Kindern arbeite, weil sie die Hoffnung haben, dass ihre Töchter so werden wie ich. Das heißt aber auch, dass ich mich an bestimmte ungeschriebene Vorschriften hier im Kiez halten muss. Ich kann hier nicht mit einem Minirock herumlaufen oder mit einem Dekolleté und sagen, ich möchte, dass eure Töchter so werden wie ich. Das möchten die Eltern nämlich nicht. Da muss man behutsam vorgehen. Und in der Konsequenz bedeutet das natürlich, dass man, wenn man hier arbeitet, eine„Berufskleidung“ hat und sich an bestimmte Vorschriften halten sollte. ? Wie stellt ihr den ersten Kontakt zu den Eltern her? Geht ihr hin oder kommen sie zu euch? Meist gehe ich zu den Eltern hin. Das ist wichtig, denn viele der Eltern, die in abgeschlossenen Communities leben, fühlen sich leicht von außen, von der „Gesellschaft“, angegriffen. Also, was mache ich? Ich gehe zu ihnen, in ihr Leben hinein, denn dort fühlen sie sich sicher und stark. In anderen gesellschaftlichen Räumen fühlen sie sich eher schwach und unsicher. In ihren eigenen Räumen fühlen sie sich viel stärker, als wenn ich sie bitten würde, in die Einrichtung zu kommen. Viele würden dann auch gar nicht erscheinen. ? Welche Strategien spielen noch eine Rolle? Natürlich ist Mundpropaganda ein ganz wichtiger Faktor. Am Anfang war die Elternarbeit extrem schwierig, jetzt rennen uns die Eltern eigentlich die Bude ein. Zu Beginn waren es fünf Frauen, zu denen wir engeren Kontakt hatten, und die haben dies in dem Viertel hier natürlich weiter erzählt und positiv beschrieben. Und so sind die nächsten gekommen, wenn sie ein Problem hatten und Hilfe benötigten. Man muss dem informellen Austausch unter den Eltern auch ein bisschen freien Lauf lassen. Damit ist die Grundlage da, um bei Problemen, wenn es z. B. um bestimmte Freiheiten für das Mädchen geht wie die Teilnahme an einem Ausflug, mit den Eltern zu reden. Wichtig ist hier, dass man ihnen auch ein bisschen entgegenkommen muss und versucht, sie zu verstehen. Also wenn ein Vater zum Beispiel sagt, ich möchte es einfach nicht, dann gilt es, mit ihm zu reden und versuchen zu verstehen, warum er es nicht möchte. Wovor hat er Angst? Er muss ja einen Grund haben, warum er das nicht möchte, und wenn man den weiß, kann man auch argumentieren und Lösungen anbieten. ? Wendest du dich eher an die Väter oder eher an die Mütter? Zu Beginn habe ich die Mütter aufgesucht. Das ist der leichtere Zugang, aber ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass es nicht reicht, wenn die Mutter überzeugt ist. Wenn ich die Mütter 485 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus gefragt habe, haben sie mir häufig keine konkrete Antwort gegeben, sondern gesagt, ich muss erst noch meinen Mann fragen. Da bin ich dazu übergegangen, die Väter von Beginn an einzubeziehen und mit ihnen die Sachen zu besprechen. Das hatte auch den Vorteil, dass die Väter bemerkt haben, dass ich nichts zu verheimlichen habe, und Vertrauen aufgebaut haben. ? Ihr werdet ja mittlerweile von den meisten Eltern hier im Kiez wertgeschätzt. Welche Bedeutung hat die Einrichtung für die Eltern? Wir kümmern uns um die Eltern, führen Einzelgespräche, unterstützen sie, wo es nötig ist - und das merken sie. Ihnen ist deutlich, dass ich das wirklich ernst meine und dass ich ihnen auch helfen möchte. Das war natürlich ein langer Prozess. Ich mache Elternarbeit jetzt seit fast fünf Jahren, und sie wissen mittlerweile, dass sie sich an uns wenden können, wenn sie beispielsweise Probleme mit ihren Kindern oder familiäre Probleme haben. Und sie wissen, dass ich verstehe, wovon sie reden, wenn sie mir schwierige Situationen schildern. Ich nehme sie ernst und versuche, ihnen zu helfen. ? Was macht die Einrichtung darüber hinaus attraktiv für die Eltern? Sie wissen, dass ich mir Mühe gebe, mir für ihre Kinder Mühe gebe. Alle Eltern möchten, dass es ihren Kindern gut geht und dass sie Erfolg haben. Sie merken, dass dadurch, dass ich mit ihren Kindern arbeite, diese mehr Möglichkeiten haben, weiterzukommen. Und sie haben auch gemerkt, dass durch die Elternarbeit und durch die Jugendarbeit ihr Verhältnis zu ihren Kindern viel besser geworden ist. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, denn anfänglich hatten viele ja Angst, dass wir die Kinder von ihnen, ihren Traditionen und ihrer Herkunftskultur entfremden wollten. Es ist ein großer Schritt, wenn die Eltern dann erkennen, dass sie durch unsere Arbeit mit ihren Kindern besser klarkommen - weil sie gelernt haben, zuzuhören, weil die Kinder gelernt haben, sich zu trauen, etwas zu sagen oder eine eigene Meinung zu äußern. ? Wie kommt es, dass sich so viele Eltern hier engagieren? Bedeutet MaDonna auch für die Eltern so etwas wie einen Treffpunkt? Wir haben Madonna zu einem Treffpunkt im Kiez gemacht, der - natürlich nicht immer, sondern zu bestimmten Zeiten, es ist ja eine Jugendeinrichtung - auch den Eltern offen steht. Wir haben die Eltern an die Einrichtung herangeführt, indem wir sie zum Beispiel um Unterstützung bei Grillpartys gebeten haben. Damit haben wir auch noch mehr Eltern erreicht - dadurch, dass wir gezeigt haben, dass wir ihre Hilfe benötigen, und ihnen die Möglichkeit gegeben haben, Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen. Wichtig ist, die Bedürfnisse der Eltern aufzugreifen und gleichzeitig die eigenen Anliegen einzubringen. Ein Beispiel: Viele sehr junge Mütter haben einen hohen Nachholbedarf, was Spaß und Geselligkeit betrifft. Das haben wir bei unseren Elternabenden bemerkt. Diese Elternabende sahen am Anfang nicht aus, wie wir normalerweise einen Elternabend kennen. Ich habe die Eltern eingeladen und da kamen vielleicht fünf Mütter, die haben erst mal Party gemacht, gegessen, gelacht, gequatscht. Sie dachten sich, jetzt haben wir einen Raum für uns und können machen, was wir wollen, obwohl es eigentlich darum ging, dass wir bestimmte Themen besprechen. Nun, ich habe sie erst mal gelassen, und dann haben wir uns geeinigt, dass wir an jedem Elternabend beides machen: Ich spreche meine Punkte an und bearbeite meine Themen mit ihnen, und dann ist Raum für Vergnügen, für Spaß. Oder umgekehrt: wir machen eine bestimmte Zeit ab, wie lange gefeiert werden kann, und danach arbeiten sie intensiv mit. ? Gibt es noch weitere wichtige Aspekte für die Arbeit mit Eltern mit Migrationshintergrund? Man muss bereit sein, auch mal bis um ein Uhr morgens hier zu sitzen. Das ist das Wichtige. Also dass man nicht sagt, okay, ich habe jetzt Feierabend - das merken die Eltern und sagen, es ist ihr doch nicht wichtig, sie macht hier nur 486 uj 11+12 | 2011 Arbeit mit Eltern in migrantischen Milieus ihre Arbeit. Aber wenn man dann sagt, ich nehme mir jetzt Zeit für dich, lass raus, was du rauslassen möchtest, dann zeigt man, dass man als ganzer Mensch dabei ist und dass man sie wirklich ernst nimmt. Man muss Interesse an der Arbeit haben - das spüren die Kinder und das spüren auch die Eltern. ? Vielen Dank für das Gespräch! Das Interview führte: Sabine Behn Interviewpartnerin: Sevil Yildirim MaDonna e.V. Falkstraße 26 12053 Berlin madonnamaedchenpower@web.de Liebe Abonnentinnen und Abonnenten, der Bezugspreis der Zeitschrift unsere jugend wird ab Heft 1 des kommenden Jahres für Nicht- Private/ Institutionen und Buchhandlungen geringfügig angehoben (neuer Preis für das Jahresabonnement € 68,-), der Abonnementpreis für Privatkunden bleibt bei € 56,-; jeweils zzgl. Versandspesen. Wir bitten Sie um Ihr Verständnis. Als besonderen Service bieten wir eine kostenlose Online-Recherche in den Volltexten aller Fachbeiträge der unsere jugend an, die seit Heft 6/ 2007 erschienen sind. AbonnentInnen können sich diese Beiträge darüber hinaus als zitierfähige PDF-Datei kostenlos per E-Mail zusenden lassen. Nutzen Sie unser Online-Angebot unter www.reinhardt-verlag.de Ihr Ernst Reinhardt Verlag
