eJournals unsere jugend 63/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2011
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Kicking Girls - Soziale Chancen durch Fußball

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Ulf Gebken
Ob in Oldenburg-Kreyenbrück, Berlin-Kreuzberg, Duisburg-Marxloh oder Augsburg-Oberhausen: bundesweit spielen durch das Projekt "Kicking Girls" viele Mädchen mit Migrationshintergrund Fußball. Es sind die niedrigschwelligen Mädchenfußball-AGs in den Schulen, die einen verlässlichen Rahmen bieten und so den bisher nicht in den Sportvereinen organisierten Mädchen den Zugang zum Sport eröffnen.
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497 unsere jugend, 63. Jg., S. 497 - 506 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art54d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kicking Girls Soziale Chancen durch Fußball Ob in Oldenburg-Kreyenbrück, Berlin-Kreuzberg, Duisburg-Marxloh oder Augsburg-Oberhausen: bundesweit spielen durch das Projekt „Kicking Girls“ viele Mädchen mit Migrationshintergrund Fußball. Es sind die niedrigschwelligen Mädchenfußball-AGs in den Schulen, die einen verlässlichen Rahmen bieten und so den bisher nicht in den Sportvereinen organisierten Mädchen den Zugang zum Sport eröffnen. von Dr. habil. Ulf Gebken Jg. 1963; Dipl.-Handelslehrer, leitet das Institut „Integration durch Sport und Bildung“ an der Carl-von-Ossietzky- Universität Oldenburg An der Grundschule Kreyenbrück Der Bolzplatz an der Grundschule wirkt beengt. Gerade einmal 20 der mehr als 200 SchülerInnen können mitspielen. Auffällig ist das bunte Bild: Mädchen und Jungen aus verschiedenen Kulturen laufen, springen, hüpfen und spielen. Auf dem kleinen Bolzplatz kicken aber nur die Jungen. Von mehr als 65 % Kindern mit Migrationshintergrund und maximal 20 Vereinsmitgliedern in der gesamten Schülerschaft spricht die Schule. Außerschulische Bewegungsangebote für Mädchen sucht man im Stadtteil vergeblich. Eine „gelebte“ Zusammenarbeit mit Institutionen im Viertel bleibt die Ausnahme. Der Schulleiter sagt uns: „Die Probleme aus dem Stadtteil und den Familien werden auch in die Schulen getragen, da bleibt nicht mehr viel Zeit und Kraft für Zusatzangebote.“ Diese Bilder prägen die Anfänge unseres seit fünf Jahren laufenden Integrationsprojekts Kicking Girls - Soziale Chancen durch Fußball. Die Geschichte des Projekts Die Idee, über den Mädchenfußball die Integration zu fördern, entwickelte sich im Jahr 1999 im Oldenburger Stadtteil Ohmstede. Über die niedrigschwellige schulische Arbeitsgemeinschaft gelang es dem 1. FC Ohmstede, Grundschülerinnen unterschiedlicher Schichten und Milieus für das Fußballspiel zu begeistern. Darüber hinaus organisierten Schülerinnen der IGS Flötenteich ein Turnier für die fußballinteressierten Grundschülerinnen der benachbarten Schulen. Schnell stieg in Ohmstede das Interesse der Mädchen an Fußball in der Schule und im Verein, doch es fehlten ausgebildete Trainerinnen und Übungsleiterinnen als weibliche Bezugspersonen (Gebken/ Vosgerau 2009), die insbesondere von muslimischen Eltern als Voraussetzung für die Anmeldung ihrer Tochter im Fuß- 498 uj 11+12 | 2011 Mädchen und Sport ballverein genannt werden. Um diesem Bedarf gerecht zu werden, wurden in Ohmstede jugendliche Mädchen in einer dreitägigen Ausbildung zu Fußballassistentinnen ausgebildet. Und schließlich: In einem vierten Baustein besuchten die fußballspielenden Mädchen ein mehrtägiges Fußballcamp, um Gemeinschaft zu erleben, füreinander Verantwortung zu tragen und Fußballtricks zu lernen. Dieses Modell mit den vier Bausteinen Mädchenfußball-AGs, Turniere in der Schule, Qualifizierung jugendlicher Mädchen zu Fußballassistentinnen und Fußballcamps wurde vom Deutschen Fußballbund im Jahre 2006 aufgegriffen und zu seinem bundesweiten Integrationsprojekt gemacht. Nachdem auch das Niedersächsische Innenministerium diese Idee an fünfzehn Standorten in elf Städten fortsetzt, folgen die Bundesländer Nordrhein-Westfalen („Mädchen mittendrin“), Hessen („Bunter Mädchenfußball“), Saarland („Golden Goal“), Bremen („Laureus Kicking Girls“), Hamburg („Kicking Girls“) und Schleswig-Holstein („Mädchen kicken cooler“) und beteiligen sich an dem gesamten Projekt mit der verbindenden Bezeichnung Kicking Girls - Fußball ohne Abseits. 2007 greifen auch die Kommunen Oldenburg, Osnabrück, Wolfsburg, Delmenhorst, Augsburg, Bayreuth und Dietzenbach die Initiative auf und setzen das Projekt in mehreren Grundschulen und weiterführenden Schulen, deren Migrationsanteil sehr hoch ist, um. In der Stadt Oldenburg werden zum Beispiel in kürzester Zeit Mädchenfußballmannschaften in 14 von 20 Oldenburger Fußballvereinen gegründet. Auch die beiden Migrantenvereine sind im Rahmen von Kooperationen mit ihren jeweiligen benachbarten Grundschulen dabei und nehmen mit mehreren Mädchenmannschaften am Spielbetrieb teil. Die Stadt Oldenburg belegt 2011 im Ranking des Niedersächsischen Fußball-Verbandes (55 fußballspielende Mädchen/ 1.000 EinwohnerInnen) den ersten Platz. Dies ist ein bemerkenswertes Ergebnis, denn im Allgemeinen liegt der Organisationsgrad von Kindern und Jugendlichen im Vereinssport auf dem Lande bis zu 30 % über dem in den Ballungsräumen. Inzwischen rollt der Ball bundesweit in mehr als 120 Stadtteilen. Wöchentlich kicken in den sogenannten „marginalisierten Stadtteilen“ mehr als 3.000 Mädchen mit und ohne Migrationshintergrund mit. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Prof. Dr. Maria Böhmer würdigt „Kicking Girls“ anlässlich des dritten Integrationsgipfels als eines der besten deutschen Integrationsprojekte. Wie gehen wir vor? Die Arbeit des Projekts beginnt mit der Kontaktaufnahme zu der in dem jeweiligen Sanierungsgebiet „Soziale Stadt“ liegenden Grundschule. Das Bundesbauministerium fördert (noch) über dieses Programm Stadtteile mit verstärkten sozialen Problemen und einem hohen Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Im Zuge zunehmender Segregation leben dort viele sozial schwache Familien auf engem Raum; im Stadtteil fehlt es oft an kostenlosen, barrierefreien Angeboten Abb. 1: Bausteine des Projektes 499 uj 11+12 | 2011 Mädchen und Sport für Kinder und Jugendliche und insbesondere für Mädchen. Grundschulen mit Migrationsanteilen von mehr als 85 % und mit SchülerInnen aus über 20 Herkunftsnationen sind nicht nur in den Großstädten, sondern selbst in Stadtteilen kleinerer Städte wie Stade oder Hildesheim keine Seltenheit und prägen das Miteinander im Schulleben. Trotz der bundesweiten Programme zur Förderung der Kooperation von Schule und Sportverein wissen die potenziellen Partner in den sozial prekären Stadtteilen nur wenig voneinander und arbeiten gar nicht bzw. in einer geringen Intensität zusammen. Das liegt sicherlich auch an den schwierigen sozialen Rahmenbedingungen, die die Arbeit der Sportvereine beeinträchtigen. Es fehlen für alle Zielgruppen qualifizierte, lizenzierte ÜbungsleiterInnen. In ganzen Stadtteilen wie zum Beispiel im Altländer Viertel in Stade gibt es kein einziges bewegungsbezogenes Eltern-Kind-Angebot, welches für die Entwicklungsförderung von Kleinkindern als besonders bedeutsam eingeschätzt wird. Die Mehrheitsgesellschaft ist in diesen städtischen Quartieren faktisch nur noch über die Lehrkräfte an den Schulen und SozialarbeiterInnen präsent. Öffnung, außerschulische Kooperation oder Sozialraumorientierung bleiben Schlagwörter, die mit viel Arbeit für Schulleitung, Lehrkräfte und außerschulische ExpertInnen verbunden zu sein scheinen. So finden die Projektverantwortlichen längst nicht überall offene Türen, auch deutliche Skepsis und Vorbehalte sowie mühsame Versuche der Kontaktaufnahme stehen dem Projekt in der Startphase oft im Weg. Ist die Schulleitung von der Teilnahme am Projekt überzeugt, wird im Umkreis der Schule und in Absprache mit Schulleitung und Kollegium ein Kooperationsverein gesucht und anschließend zügig mit einer Mädchenfußball-AG in der Schule gestartet. AG-LeiterInnen sind im Idealfall Trainerinnen des beteiligten Vereins, geleitet wird im Tandem, um gerade bei Anfangsschwierigkeiten und Konflikten die AG- Gruppe sicher betreuen zu können. Die Projektaktivitäten geben den Anstoß für eine gegenseitige Information und ein erstes Kooperationsvorhaben. Die Schulen verbinden mit der Aufnahme eines Mädchenfußballangebots neben einer Erweiterung ihres Profils auch die Hoffnung, das außerunterrichtliche Angebot zu verbessern. Die Vereine verfolgen das Ziel, über die Zusammenarbeit mit der Schule ein attraktives Angebot für Mädchen einzurichten, um neue Mitglieder und auch mögliche Talente zu gewinnen. Schulische AGs als wichtiger Faktor der„Integration im und durch Sport“ Im Diskurs zu Integration und Sport spielen schulische Arbeitsgemeinschaften trotz des verstärkten Auf- und Ausbaus vieler Einrichtungen zu Ganztagsschulen bisher eine untergeordnete Rolle (vgl. Frohn 2007). Und doch bieten gerade AGs einen überzeugenden und niedrigschwelligen Zugang zum Sport (vgl. Vosgerau 2009). Unsere Studien (Gebken/ Vosgerau, 2009; Vosgerau u. a. 2011) verdeutlichen, dass es gerade über den Fußball in der Schule gelingen kann, die oftmals als sportabstinent geltende Gruppe der Mädchen mit Migrationshintergrund zu erreichen, zu begeistern und zu binden. Entsprechenden Vereinsangeboten fehlen die viel beschworene Niedrigschwelligkeit, die Akzeptanz der zugewanderten Eltern und oftmals eine unmittelbare Nähe zum Sozialraum bzw. Wohnumfeld der Schülerinnen. Die Institution Schule ist für die Eltern ein vertrauter Ansprechpartner. Sie vermittelt Zuverlässigkeit und Sicherheit bei der Betreuung ihrer Kinder. „Ein schulisches Angebot hat für die Eltern eine klare Linie und gut definierte Regeln. Sie wissen, dass ihre Mädchen in dem schulischen Mädchenfußballangebot gut auf- 500 uj 11+12 | 2011 Mädchen und Sport gehoben sind“, bilanziert ein beteiligter Schulleiter. Mit dem Sportvereinsleben dagegen sind viele Eltern der migrantischen Mädchen bislang nicht vertraut: Skepsis, Misstrauen und auch Ängste stehen dem organisierten Sporttreiben der Töchter oftmals im Wege. Erst durch das Zuschauen bei den durch Begeisterung geprägten Spielen und Turnieren der Schul-AGs auf dem Vereinsgelände mindern sich die anfänglich bestehenden Vorbehalte gegenüber dem Vereinssport. Aspekte für ein nachhaltiges Gelingen Der Blick auf die demografische Entwicklung macht deutlich: Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund steigt stetig an. Sind es in der Gesamtbevölkerung bislang noch 19 %, so haben heute schon 40 % der Neugeborenen einen Migrationshintergrund. Die Integration von zugewanderten Kindern und Jugendlichen wird deshalb zu einer Schlüsselaufgabe für die Gesellschaft und den organisierten Sport. Während im Grundschulalter viele Jungen mit Migrationshintergrund Mitglied im Sportverein sind, bleiben die Mädchen mit Zuwanderungsgeschichte im Sportsystem weiterhin unterrepräsentiert (Kleindienst-Cachay 2007). Dass sie jedoch keineswegs als sportabstinent gelten können, zeigen die Erfahrungen bundesweit. Mädchen mit Migrationshintergrund haben großen Spaß am Fußball. Es fehlen jedoch niedrigschwellige Angebote im Sozialraum, Turniere und Wettkampfformen für die Jüngsten und weibliche Vorbilder vor Ort. Zu beachten ist, dass die Gruppe der MigrantInnen sich sehr heterogen zusammensetzt und auch in ihrer Herkunft eine große Vielfalt aufweist. Sorgen bereitet den Integrationsexperten eine Entwicklung, die als „Abwärts-Integration“ bezeichnet wird. Eine zunehmende Anzahl von Kindern und Jugendlichen, viele von ihnen mit Migrationshintergrund, leben in Sozialräumen, deren soziale Problemlagen sich verfestigen und die von Armut geprägt sind. Diesen jungen Menschen kann Sport und insbesondere Fußball helfen, am gesellschaftlichen Leben aktiv teilzunehmen und teilzuhaben. Nicht nur die Nationalspielerin Fatmire Bajramaj, die Bundesligaschiedsrichterin Sinem Turac, die Berliner AG-Leiterin Sarah Atoui oder die Bremer Trainerin Yasemin Cakar machen deutlich, welche soziale Vorbildfunktion engagierte junge Frauen für die migrantische Community besitzen. Aus den Evaluationen der Projekte (Gebken 2009; Gebken u. a. 2010) ergeben sich acht Aspekte, die Gelingensbedingungen für das Mitspielen migrantischer Mädchen aufzeigen. 1. In der Grundschule beginnen Über die Grundschule lassen sich Mädchen mit Zuwanderungsgeschichte für den Fußballsport begeistern und binden. Hier können sie unbeschwert kicken und erste Erfolge sammeln. Der vertrauensbildende schulische Rahmen reduziert mögliche Bedenken und Einwände ihrer Eltern. Insbesondere muslimische Mütter und Väter erlauben und unterstützen das Fußballspielen ihrer Töchter oft nur, wenn es unter Aufsicht der Schule und geschlechtergetrennt organisiert wird. 2. Die Mädchenfußball-AG: Kern der Kooperation von Grundschule und Verein Um den weniger fußballerfahrenen und leistungsschwächeren Mädchen das Fußballspielen zu ermöglichen, ist das Angebot einer von Vereinsexpertinnen geleiteten AG sinnvoll. Hier können die Schülerinnen in einem „geschützten Rahmen“ ihre ersten Tore erzielen, Pass- und Schusstechniken erlernen, ihr Positionsspiel verbessern und selbstbewusst Freude am gemeinsamen Spiel entwickeln. Separate Mädchenfußballpausen auf dem Schulhof, Klassen- und Schulturniere ermutigen Mädchen mitzuspielen. 501 uj 11+12 | 2011 Mädchen und Sport 3. AGs brauchen Ziele: Wettkämpfe und Turniere Fußball-AGs brauchen Ziele, die Mädchen fordern den Wettkampf, wollen sich messen und beweisen. Die Teilnahme an Spielen und Turnieren verändert das Leben in der AG: Die Mädchen agieren zielorientierter, beginnen auch Übungen zur Verbesserung ihrer taktischen und technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten wertzuschätzen. 4. Den Übergang der Mädchen in die Vereine begleiten - Eltern aktivieren Der Übergang von der schulischen Arbeitsgemeinschaft (Schule) in ein vereinsgebundenes Team ist kein Selbstläufer, sondern bedarf umsichtiger unterstützender Maßnahmen, damit das Integrationsziel, Mitglied einer Fußballmannschaft zu werden, realisiert werden kann: Elterninformation, -abende, separate Umkleiden für die Mädchen, Trainingszeiten vor der einsetzenden Dämmerung, Beantragung der Spielerpässe, Lösung der Transportprobleme, Rücksichtnahme auf religiöse Regeln, Finanzierung der Trikots und der Beiträge. 5. Stadtteilmanagement und Schulsozialarbeit als Netzwerkpartner nutzen Neben den Sportlehrkräften und den Schulleitungen entwickeln sich Stadtteilmanagement und SchulsozialarbeiterInnen zu neuen und bedeutsamen Partnern der Sportvereine. Als KoordinatorInnen im Stadtteil und für den Ganztagsbetrieb suchen sie nach attraktiven außerunterrichtlichen Bewegungsangeboten und möglichen unterstützenden Netzwerkpartnern. Und sie zeigen sich gegenüber den Auswirkungen der Kinderarmut sensibilisiert und suchen für diese Herausforderung auch nach Lösungen für den Vereinssport. 6. Jugendliche Fußballassistentinnen qualifizieren und einbinden Vor allem muslimische Eltern erwarten weibliche Bezugspersonen, die bisher im organisierten Fußball noch unterrepräsentiert sind. Jugendliche Mädchen zeigen ein großes Interesse an der Mitarbeit in Übungsgruppen. Einsatzmöglichkeiten für die Assistentinnen bieten sich auch in den Fußballgruppen in der Schule und im Verein sowie bei der Planung und Organisation von Schulturnieren und -wettkämpfen. 7. Interkulturelles Wissen und religiöse Regeln beachten Für ein gleichberechtigtes Miteinander wird es immer wichtiger sein, über interkulturelles Wissen zu verfügen, um fremde Kulturen mit ihren Gebräuchen und Einstellungen besser zu verstehen und erfolgreich handeln zu können. Den Alltag beeinflussen religiöse Rituale und Traditionen. Sie beeinflussen Ernährungs-, Kleidungshygiene und Lebensstil und prägen das soziale Verhalten, indem sie Regeln für zwischenmenschliche und zwischengeschlechtliche Beziehungen aufstellen. 8. Durch Mädchenfußball emanzipieren Fußballspielende migrantische Schülerinnen fallen nicht nur durch ihre Begeisterung, ihre Einsatzfreude und ihre Selbstbewusstseinsentwicklung auf, sondern tragen auch ein verändertes Rollenverhalten in die Schule, das sich auch bei den Jungen bemerkbar macht. Sie erobern klassisch jungendominierte Räume und stellen das traditionelle Geschlechterverständnis infrage. Und dennoch - viel mehr als fußballspielende Jungen tauschen sie sich miteinander über ihre Befindlichkeiten aus, klären ihre Konflikte in Gesprächen und bevorzugen das Spielen mit den besten Freundinnen und ihrer Peergroup. Dieses zu berücksichtigen fällt nicht immer leicht. 502 uj 11+12 | 2011 Mädchen und Sport Zusammenfassung und Perspektiven Im Rahmen der verschiedenen integrativen Mädchenfußball-Projekte erkennen wir unterschiedliche Stufen eines gelingenden Integrationsprozesses: Stufe 1: Mitspielen in der Mädchenfußball-AG Fußballspielende Mädchen in einer sozialen Brennpunkt-Grundschule sind kein Selbstläufer. Die Jungen dominieren den häufig viel zu kleinen Bolzplatz und die einzige - geschlechts- Stufen Institutionen Merkmale Stufe 4 Selbstständige Leitung von Übungsgruppen Schul- und Vereinssport Junge/ jugendliche Übungsleiterin Stufe 3 Engagement in und mit Übungsgruppen Mitwirkung in Schul-AG, Vereinsmannschaften, Schulfußballturnieren und außerschulischen Einrichtungen Assistentin mit ersten „echten“ sozialen Aufgaben im Kinder- und Jugendfußball Stufe 2 Mitspielen im Fußballverein Sportverein Teilnahme am wöchentlichen Training und Üben Stufe 1 Mitspielen in der Mädchenfußball AG Schule (in Zusammenarbeit mit dem Sportverein) Einmal wöchentliches Fußballspielen in der Turnhalle mit Mitschülerinnen unter Anleitung einer AG-Leitung heterogene - Fußball-AG. Eigene Untersuchungen am Beispiel Bremen-Gröpelingen zeigten, dass vor dem Start des Projekts regelmäßig 50 bis 70 Jungen der Grundschule den Hof in der Pause zum Kicken nutzten. Keines der zumeist migrantischen Mädchen spielte vorher mit. Erst das Üben und Trainieren in einer Fußball-AG, in der nur (auch weniger ballerfahrene) Mädchen mitspielen dürfen, ändert das Bild. Spieltaktik, Ballfertigkeiten verbessern sich, die Spielfreude nimmt durch erste Erfolge zu. Die Schülerinnen klagen eigene Zeiten, sogenannte Mädchenfußballzeiten, auch auf dem Schulhof ein und und zeigen ihre Freude an geschossenen Toren auch außerhalb der „geschlossenen“ AG. Voraussetzung für diese Entwicklung sind eine verlässliche AG-Leitung, eine Übungszeit, die für die Mädchen attraktiv ist, mädchengerechte Informationen und Ansprache zu Beginn der AG und eine Wertschätzung dieses zusätzlichen Bewegungsangebotes durch die Verantwortlichen in der Schule. Quelle: Städtler 503 uj 11+12 | 2011 Mädchen und Sport Kräftigen „Schwung“ bekommen die Projekte durch die Teilnahme der Mädchen an Fußballturnieren für Mädchen. Nun wird„richtig“ geübt. Ethnisch bedingte Konflikte in den Gruppen werden zurückgestellt, und man will gewinnen. Ob in Duisburg-Marxloh oder in Hannover- Vahrenheide, das Klassen- oder Schulturnier für alle Schülerinnen kann sich zu einem emotionalen Höhepunkt im Schulleben entwickeln. Die Begeisterung am Spiel, am Torerfolg „steckt“ nicht nur jüngere Mitschülerinnen, sondern auch zuschauende Eltern oder bisher eher fußballskeptische KollegInnen an. Wichtig bleibt, dass das Mitspielen und die Leistung aller mitspielender SchülerInnen mit Hilfe von Medaillen, Urkunden oder anderen Erinnerungsstücken gewürdigt und anerkannt wird. Scheinbar eine Selbstverständlichkeit, aber in der Realität nicht selten ein Wunsch, denn die von uns untersuchten Schulfußballturniere waren oftmals durch Wartezeiten, frühzeitiges Ausscheiden und Preise nur für die Ersten geprägt. Bedeutsam bleibt bei diesen Turnieren und Wettkämpfen die Trennung der Mädchen von den häufig schon sehr viel fußballerfahreneren Jungen. Nur so gewinnen auch leistungsschwächere und weniger ballerfahrene Schülerinnen an Sicherheit im Fußball, Erfolge stellen sich ein, und auch muslimische Eltern äußern keine Vorbehalte mehr gegenüber Fußballspielen in der Schule ihrer Töchter. Stufe 2: Mitspielen im Fußballverein Die Beispiele von Borussia Hannover, Türkiyemspor Berlin, Rotweiß Neukölln, SV Rhenania Hamborn, dem Türkischen Sportverein Oldenburg, dem TSV Wandsbek-Jenfeld, dem FC Dietzenbach oder dem 1. FC Ohmstede zeigen, dass der Übergang von der Mädchenfußball-AG in den Sportverein gelingen kann. Ein aus dem Sportverein stammender Leiter der AG nimmt die Mädchen zum Vereinstraining mit. Wie viele Mädchen der Fußball-AG als Spielerinnen in den folgenden Jahren am Punktspielbetrieb teilnehmen, hängt von den jeweiligen Bedingungen ab. Sind die Trainingsplätze gut zu erreichen? Akzeptieren die Eltern die Trainingszeiten? Gelangen die Fußballerinnen vor der Dunkelheit wieder nach Hause? Werden sie begleitet? Gibt es Mädchentrainingstage, an denen die Jungs nicht auf die Fußballplätze dürfen? Während der Schulsport in seinem Wesen und seinem Auftrag Sieg und Erfolgsstreben relativieren soll und will, bleiben diese wesentliche Merkmale des Wettkampfsportes in den Verbänden und Vereinen. Nicht immer spielen alle interessierten Kinder mit und werden eingewechselt, und nicht immer würdigen die engagierten„Laien“ die Leistung eines jeden Kindes. Stufe 3: Engagement in und mit Fußballgruppen Auf allen organisatorischen Ebenen des Fußballsports wirken wenige Menschen mit Migrationshintergrund mit. Zugewanderte Mädchen und Frauen fehlen gänzlich. Auch in den Aus- und Fortbildungsmaßnahmen des Verbandes spiegelt sich dieses Bild wider. Nur ganz selten lassen sich Frauen mit Migrationshintergrund zu Übungsleiterinnen im Fußballsport ausbilden. Schulungen im Sozialraum bieten attraktive Bedingungen. Das Interesse jugendlicher Mädchen, daran teilzunehmen, ist groß, bedarf aber einer umsichtigen Abstimmung mit dem Schulleben (Klassenfahrten, Vergleichbzw. Abschlussprüfungen usw.). Da die schulischen Anforderungen zunehmen, die Ganztagsschule sich weiter ausbreitet, wird es für Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund immer schwieriger, sich neben der Schule freiwillig zu engagieren. Auch wenn GymnasiastInnen trotz der Verkürzung der Schulzeit auf zwölf Jahre zunehmend entsprechende Aufgaben übernehmen, fällt der Rückgang bei HauptschülerInnen und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). 504 uj 11+12 | 2011 Mädchen und Sport Für die Zukunft des organisierten Sports und des Fußballs ist ein soziales Engagement junger Menschen unabdingbar. Es sei denn, man verzichtet auf den organisierten Wettkampfsport in den unteren Jugendklassen und kreiert ein Schulwettkampfsystem fürs Mitspielen von vielen Kindern und Jugendlichen. Stufe 4: Selbstständiges Leiten von Übungsgruppen Die im Rahmen des Projekts „Kicking Girls“ mitwirkenden Fußballassistentinnen zeigen, dass junge Menschen sehr gerne mit jüngeren Kindern im Sport arbeiten, dabei ihre eigenen Stärken einbringen und überschaubare Aufgaben im Fußball übernehmen können. Klassenturniere, Schul-AGs oder Vereinsgruppen bieten vielfältige Partizipationsmöglichkeiten. Eine selbstständige Übernahme von Aufgaben im Sportverein erfordert aber nicht nur hohen Sachverstand und Regelkompetenz, sondern auch hohe Zuverlässigkeit. Vor allem im Fußballwettspielbetrieb erwarten Kinder und Eltern (mit und ohne Migrationshintergrund) Erfolg, der zum großen Teil für die Bindung an eine Sportart verantwortlich ist. Für junge Menschen geht es deshalb erst einmal darum, Freude an der Übernahme von ersten Aufgaben bei der Betreuung von jüngeren Kindern zu gewinnen. Ihr Einsatz ist aber nur erfolgreich, wenn sie Unterstützung durch die Erwachsenenwelt finden. Soziales Engagement im Fußball erfordert Coaching durch Vertrauenspersonen und Strukturen, die Schule und soziales Engagement miteinander vereinbaren lassen. Besonders gelingen kann dies in sogenannten Gemeinschaftsschulen wie dem Rütli- Campus in Berlin. Die ehemalige Rütli-Schule besuchen SchülerInnen von Klasse 1 bis 10 (und später sogar bis Klasse 12). Der betreuende, unterstützende und lehrende Einsatz von jugendlichen Fußballassistentinnen ist hier organisatorisch machbar und macht sich im gesamten Klima der Schule bemerkbar. Lizenzierte migrantische Übungsleiterinnen sind im gesamten Gebiet des DFB noch eine Ausnahme. Es erfordert viel Mut und Durchsetzungsvermögen, als eine von wenigen Frauen an einer zentralen Lizenzausbildung teilzunehmen. Ausbildungen im Sozialraum, wie wir sie im Rahmen des Projektes mit jugendlichen Fußballassistentinnen machen, scheinen ein geeigneter niedrigschwelliger Rahmen zu sein. Unter sich und in ihrem gewohnten Umfeld er- Quelle: Gebken 505 uj 11+12 | 2011 Mädchen und Sport lernen die Mädchen den Umgang mit Kindern im Sport und qualifizieren sich für die Leitung und Mithilfe in den Fußball-AGs und Vereinsgruppen. Doch auch über die Trainerfunktionen hinaus ist die Partizipation von MigrantInnen im Sport noch eine bislang nicht gelöste Herausforderung: Nach wie vor sind MigrantInnen auf allen Ebenen des Sports deutlich unterrepräsentiert, insbesondere auf Funktionärs- und Verbandsebene fehlen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Herausforderungen Die bisherigen Erfolge des Projekts sind beträchtlich; gerade den beteiligten Migrantenvereinen gelang es zügig, die Mädchen aus den AGs am Vereinsspielbetrieb teilnehmen zu lassen. Aber auch die „urdeutschen“ Sportvereine profitieren von dem Projekt, haben erste Mädchenteams gemeldet bzw. den Anteil fußballspielender Migrantinnen merklich erhöht. Und doch kann die Überführung der Mädchen aus der AG in den Verein als größte Herausforderung bezeichnet werden. Nach wie vor ist die Hemmschwelle für Mädchen mit Migrationshintergrund groß; Vorbehalte und Unwissenheit der Eltern gegenüber dem deutschen Vereinswesen, aber auch fehlende strukturelle und personelle Voraussetzungen der Vereine, die sich erst langsam auf die neue Zielgruppe einstellen, verhindern das Sporttreiben der Mädchen im Verein. Nur über eine direkte Ansprache der Eltern, geduldige Aufklärungsarbeit und eine Sensibilisierung der Vereine für Integrationsthemen kann es gelingen, die Hemmschwellen abzubauen. Problematisch für neu gegründete Vereinsteams bleiben die weiten Fahrwege. Oftmals bestehen Spielgemeinschaften mit benachbarten Fußballkreisen, sodass die mitspielenden Mädchenteams Anreisen bis zu fünfzig Kilometer zu überwinden haben. Dies erfordert Transportmöglichkeiten und finanzielle Ressourcen, die die Vereine in den Problembezirken überfordern. Diese Aspekte spielen bei der Spielklasseneinteilung bisher keine Rolle. Der Vorsitzende von SV Rhenania Hamborn bilanzierte deshalb: „Der längste Anfahrtsweg für unsere erste Männermannschaft beträgt in den Duisburger Süden sieben Kilometer, die E-Juniorinnen fahren bis Wuppertal eine Stunde.“ Die Zusammenarbeit von Schule und Sportverein zur Förderung der Integration hat erst begonnen. Sie kann vor allem aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Ganztagsschule weiter ausgebaut werden. Fußballvereine nutzen nur sehr selten die Ressourcen des Stadtteilmanagements und der Netzwerke im Stadtteil. Schulen partizipieren nur in Ausnahmen an den Kompetenzen und Stärken der MigrantInnen und ihrer Communitys. Ethnische Vereine dürfen dabei nicht mehr nur als bedrohende und abschottende Institutionen gesehen werden. Im Gegenteil, ihnen kann es durch die Nähe zu migrantischen Communitys eher gelingen, den Zugang zu den Eltern zu erhalten und Mädchen aus eher sportabstinenten Familien durch die Partizipation im Sport zu integrieren. Wichtig und von besonderer Bedeutung bleibt die Einbeziehung der Eltern. Kommunikation und Ideen sind gefragt. Ein fußballbezogener Elternabend in der Fridtjof-Nansen-Schule in Hannover oder ein Mütter-Töchter-Turnier in Oldenburg zeigen, dass die Zusammenarbeit mit den Elternhäusern über die Schaffung von Vertrauen, Kontinuität, aber auch über neue Ideen gelingen kann. Dr. habil. Ulf Gebken Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg Institut „Integration durch Sport und Bildung“ Marie-Curie-Straße 1 26129 Oldenburg ulf.gebken@uni-oldenburg.de 506 uj 11+12 | 2011 Mädchen und Sport Literatur Arbeitsgruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.), 2010: Bildung in Deutschland 2010. Bielefeld Frohn, J., 2007: Mädchen und Sport an der Hauptschule. Sportsozialisation von Mädchen mit niedrigem Bildungsniveau. Baltmannsweiler Gebken, U., 2007: Soziale Integration durch Mädchenfußball. Erfahrungen und Ergebnisse in Oldenburg- Ohmstede. Oldenburg Gebken, U., 2009: Soziale Integration von Mädchen durch Fußball. Ergebnisse des Modellversuchs. Oldenburg Gebken, U./ Althoff, K./ Kuhlmann, B., 2010: Mädchen mittendrin - Zwischenbericht zu dem integrativen Fußballprojekt in Nordrhein-Westfalen. Oldenburg Gebken, U./ Vosgerau, J., 2009: Soziale Integration. In: Sportpädagogik, 33. Jg., H. 5, S. 2 - 9 Kleindienst-Cachay, C., 2007: Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund im organisierten Sport: Ergebnisse zur Sportsozialisation - Analyse ausgewählter Maßnahmen zur Integration in den Sport. Hohengehren Kuhlmann, B., 2009: Von der Schülerin zur Trainerin. In: Sportpädagogik, 33. Jg., H. 9 Vosgerau, J., 2009: Aus dem Abseits kicken. Muslimische Mädchen spielen begeistert Fußball. Wie schulische Arbeitsgemeinschaften den Integrationsprozess fördern können. In: Sportpädagogik, 33. Jg., H. 5, S. 12 - 16 Vosgerau, J., 2011: Soziale Integration von Mädchen mit Migrationshintergrund durch Fußball. Unveröffentlichter Abschlussbericht zum Projekt in Niedersachsen. Osnabrück Vorschau auf die kommende Ausgabe Kleine Kinder in stationären Einrichtungen Anstieg der Zahlen und Konsequenzen Heilpädagogisches Kinderwohnen Kleine Kinder in altersgemischten Wohngruppen