eJournals unsere jugend 63/1

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2011.art01d
11
2011
631

Lasst uns die Kinder wegsperren oder sie aushalten

11
2011
Jörg-Achim Schröder
Kinder werden wieder zunehmend häufiger weggeschlossen. Es gibt offensichtlich eine gesellschaftliche Akzeptanz und zugleich Hilflosigkeit, welche dies ermöglicht. Jugendhilfe aber ist nicht der geeignete Ort, so die These. Was aber sind die Alternativen? Gibt es sie und wie könnten sie möglicherweise aussehen? Der folgende Text will Position beziehen, die Diskussionen anregen und den bestehenden Diskurs ergänzen.
4_063_2011_1_0002
2 unsere jugend, 63. Jg., S. 2 - 8 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art01d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Jörg-Achim Schröder Jg. 1955; MBA (Master of Business Administration), Dipl.-Soz.Päd., Vorstandsvorsitzender des VSH e.V. Lasst uns die Kinder wegsperren oder sie aushalten Heimerziehung als (richtiger) Ort geschlossener Pädagogik? Kinder werden wieder zunehmend häufiger weggeschlossen. Es gibt offensichtlich eine gesellschaftliche Akzeptanz und zugleich Hilflosigkeit, welche dies ermöglicht. Jugendhilfe aber ist nicht der geeignete Ort, so die These. Was aber sind die Alternativen? Gibt es sie und wie könnten sie möglicherweise aussehen? Der folgende Text will Position beziehen, die Diskussionen anregen und den bestehenden Diskurs ergänzen. Bereits die Zusammenfassung beginnt mit einer Provokation: „Kinder werden weggeschlossen“, das klingt für manch einen Leser brachial. „Jugendliche werden weggeschlossen“, klingt schon etwas akzeptabler. Aber tatsächlich werden die neuen Plätze der Caritas in Niedersachsen für 10-jährige Kinder genehmigt sein. Eine Ausnahme stellen sie schon nicht mehr dar, wenngleich die Praxis auch (noch) eine andere ist. Wer junge Menschen (hier verwendet als Synonym für Kinder und Jugendliche) einsperrt, um mit ihnen pädagogisch arbeiten zu wollen bzw. zu können, muss sich die Frage nach dem Sinn dieser Maßnahme stellen; warum also bleibt als Lösung, gewissermaßen als ultima ratio, nur der Zugang zu einem geschlossenen System? Übrigens entstammt Sinn der indogermanischen Wurzel „sent“, was so viel bedeutet wie gehen, reisen, fahren. Wohin also geht gewissermaßen die Reise geschlossener Pädagogik? Die BefürworterInnen, so lässt sich einer DJI- Studie (Hoops/ Permien 2006, 119) entnehmen, sehen die jungen Menschen als „Täter“, „denen Grenzen aufgezeigt werden müssen“. Sie fordern eine härtere Gangart im Umgang mit diesen Jugendlichen. Die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters, die Abschaffung der Jugendstrafe, langfristig geschlossene Heimerziehung oder „Trainingscamps“ werden dabei gerne in einem Atemzug genannt. Die GegnerInnen dieses erzieherischen Ansatzes halten daran fest, dass Erziehung nicht mit Zwang vereinbar sei, und verweisen auf die „Sogwirkung“ der Möglichkeit zum Freiheitsentzug in der Jugendhilfe. Sie sehen die „schwierigen“ Jugendlichen vor allem als Opfer ihrer schwierigen Lebensumstände und fordern vehement eine an den indi- 3 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung viduellen Ressourcen auch dieser Jugendlichen orientierte Erziehung in und zur Freiheit. Zudem wird an die brutale Praxis in vielen geschlossenen Erziehungsheimen von 1950 bis 1970 erinnert und vor einer Wiederholung gewarnt (vgl. Wensierski 2006, 119). In dessen Studie „Schläge im Namen des Herrn“ merkt er an, dass sich jenseits dieser ideologischen und politischen Diskussion die Praxis im Hinblick auf die Thematik wesentlich differenzierter bewegt. „Hier ist zu erkennen, dass die Praxis die alte Polarisierung - und alle damit verbundene Auseinandersetzung - zwischen ‚offen‘ und ‚geschlossen‘ faktisch überholt hat“ (ebd., 120). Genau das aber ist erschreckend und eben nicht gerade beruhigend, wie uns die Studie weismachen will. Denn es zeugt nicht nur von einer Beruhigung dieser Diskussion, sondern von einer Verwischung dieser Praxis. Denn auch in quasi„normalen“ Heimen finden sich sogenannte „Timeout-Räume“, gibt es wieder Ausgangsperren und Zimmerarreste und dergleichen mehr. Dies erfährt man in Insiderkreisen, nur wird dies niemand laut sagen, weil es nämlich - ohne familiengerichtliche Genehmigung - ungesetzlich ist. Was nutzt eine Entwicklung von Standards dieser „FM-Einrichtungen“ (FM heißt „Freiheitsentziehende Maßnahmen“, das DJI prägte diesen Begriff und ersetzte damit den alten Begriff der Geschlossenen Unterbringung - GU), wenn deren Praxis, ohne jeglichen Standard, an anderen Orten gleichermaßen Einzug findet? Das nämlich ist die Auseinandersetzung, zwischen offenen und geschlossenen Heimen, die sich dadurch faktisch selber überholt hat. Im Jahre 2002, so Josef Koch, Geschäftsführer der IGFH, gab es in Deutschland 140 solcher Plätze, Ende 2009 waren es bereits 347 - die neu geschaffenen Plätze der Caritas in Niedersachsen, welche ab Mai 2010 zur Verfügung stehen, noch nicht mitgezählt (vgl. taz vom 20. 3. 2010). Zwar haben die Hamburger ihre geschlossene Einrichtung in der Feuerbergstraße wieder aufgelöst, allerdings weniger aus ideologischer Überzeugung als vielmehr aus einer politischen Notwendigkeit, war diese Einrichtung doch über Jahre stets im Kreuzfeuer der Kritik, skandalträchtig und sorgte als Unruheherd innerparteilich, über die Parteigrenzen hinweg wie auch in der Öffentlichkeit für ständige Auseinandersetzungen. Was also hat den Boden dafür bereitet, dass nun, 20 Jahre später, ein restriktiver und konservativer ordnungspolitischer Diskurs diese Einrichtungen wieder ermöglicht - und das in einer Zeit, in der die UNO-Kinderrechtskonvention unterzeichnet wurde und im föderalen System der BRD umgesetzt werden soll? Welche Entwicklungslinien, welche Phänomene lassen sich in den letzten Jahren beobachten? Wir haben es zu tun mit einer weiteren Individualisierung der Gesellschaft, parallel dazu mit einer Endsolidarisierung. Des Weiteren wächst quer durch Deutschland ein konservatives bis rechtes politisches Spektrum heran, welches sich im Osten dieser Republik nur besonders deutlich zeigt. Übergriffe auf „Andersartige“, auf Farbige und Ausländer sind in Deutschland an der Tagesordnung. Während es nach Hoyerswerda, Rostock und Mölln noch einen flächendeckenden Aufschrei durch die Republik gab, werden solcherlei Übergriffe, auch mit Todesfolge, heute eher unter „ferner liefen“ abgetan - scheinen nur noch wenige Zeilen in der Boulevardpresse wert zu sein. Dieses Phänomen insbesondere im Osten der Republik wird durch Heitmeyer und andere genauer untersucht (Gostomski/ Küpper/ Heitmeyer 2007, 102ff ). Ein Blick in Zeitschriften, Zeitungen und Fernsehen spiegelt diese Situation täglich. Wenn Zivilisation verkommt, bringt sie Antizivilisatorisches hervor, darauf verwies bereits Adorno (1970). Diese Gesellschaft produziert zunehmend mehr Ungleichheiten und diese transformieren andere Ungleichheiten durch weitere Abwertungen, erzeugen also erneut Differenzen, schließlich kann die eigene Abwertung nur ertragen werden durch die Abwertung anderer Menschengruppen. In diesem Zusammenhang 4 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung spricht Heitmeyer von einer Ökonomisierung des Marktes, vom Wandel der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft, in der alles marktfähig gemacht werden muss. Alles wird dem Markt untergeordnet, auch die Familie, die FreundInnen und UnterstützerInnen im Nahbereich. Wenn diese Eigenlogik der ökonomischen Systeme alles Soziale durchdringt, dann vernichtet diese Dominanz des Marktes die Moral einer Gesellschaft, so die These Heitmeyers (vgl. hierzu Heitmeyer 2007, 55ff ). Es lässt sich bei alledem aktuell nicht von einer Zeit flächendeckender Rückbesinnung sprechen. Die Sicht der Menschen ist überwiegend nicht rückwärtsgewandt, sie entwickeln aber auch keine Zukunftsperspektive. Diese skizzierten Entwicklungslinien verweisen auf eine tiefgreifende Verunsicherung vieler Menschen dieser Gesellschaft, sie zeigen das stetige Bemühen um einfache Lösungen sozialer Probleme auf, also z. B. den Versuch, die unglaubliche Informationsflut einzudämmen, das „anything-goes“ zu reduzieren, den Versuch, an der heutigen Komplexität nicht zu scheitern. Diese tägliche Reduktionsarbeit entgleitet nur allzu schnell in zu einfache scheinbare Lösungsoptionen, versprachlicht sich in Plattitüden, bewirkt Fluchten in individuelle (auch virtuelle) Parallelwelten und erzeugt täglich aufs Neue blinde Flecken. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich scheinbar erklären, wieso es wieder möglich geworden ist, Kinder wegzuschließen. Es handelt sich auch hierbei, so die öffentliche Wahrnehmung, um eine Randgruppe. Es scheinen ja auch nur wenige Kinder bzw. Familien betroffen zu sein, diese Familien und Kinder sind selbstverschuldet in diese Lage gekommen, die Gesellschaft muss sich schließlich vor diesen Außenseitern schützen und - nun kommt die Verdrehung ins Positive - „wir“ (als Gesellschaft) lassen uns das was kosten, denn wir helfen, geben selbst diesen Kindern und Familien noch eine Chance. So lässt es sich damit leben, aus den Augen - aus dem Sinn. Eine solche Sicht überrascht nicht in Anbetracht des vielfältigen Unheils in der Welt. Die Nöte sind anderswo erheblich größer, die Sorgen der Menschen verteilen sich auf eine Anzahl unüberschaubarer Felder: Kriege, Umweltkatastrophen, Einzelschicksale und vieles andere mehr. Da gibt es den Missbrauch in den Bistümern, bei den Domspatzen, in der Odenwaldschule, in den Fürsorgeheimen der Nachkriegszeit bis in die 70er Jahre, die Zeit davor sei besser einmal ausgeklammert. Wie lässt sich bei all dieser Unübersichtlichkeit und Not noch über 347 geschlossene Plätze für Kinder in Deutschland diskutieren? Die leben dort warm, satt und trocken, und sie werden obendrein auch noch menschlich und erzieherisch gut versorgt. Und dennoch lässt sich darüber nicht nur diskutieren, sondern es muss zwangsläufig darüber diskutiert werden, denn zum einen geht das Wegschließen von Kindern an der Menschenwürde dieser Kinder vorbei, sie wird an dieser Stelle missachtet, zum anderen ist bereits Heimerziehung selbst ausgrenzend. Die besondere Form in „FM-Einrichtungen“ ist hochgradig stigmatisierend. Zu guter Letzt verweisen wir mit dem Wegsperren von auffälligen Kindern auf Defizite dieser Gesellschaft. Das Elend dieser Heimkinder ist ein Spiegelbild ihres Elends in dieser Gesellschaft und damit ein Verweis auf das Elend dieser Gesellschaft; während wir mit dem Finger auf sie verweisen, weisen zeitgleich drei Finger auf uns. Nur - was sind die Alternativen? Jenseits jeder Besserwisserei geht es nicht um Rezepte, sondern um das Ringen um jeweils individuelle Lösungen vor dem Hintergrund des Verstehenwollens und bestimmter konzeptioneller Annahmen. Diese Annahmen basieren auf dem Recht des Kindes auf Entwicklung, Bildung, Förderung in freier Selbstentfaltung, Partizipation sowie auf dem Recht und der Notwendigkeit, stabile, verlässliche, tragende Bindungen einzugehen. Sie basieren darauf, dass Kinder lernfähig und entwicklungsfähig sind, und darauf, dass sie lernen und sich entwickeln wollen. Sie 5 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung basieren darauf, dass Kinder eine Perspektive für ihre Zukunft haben und entwickeln wollen und müssen. Eine solche Perspektive ist zwar individuell, muss sich aber an gesellschaftliche und individuelle Rahmungen anpassen, d. h. Gesellschaft darf nicht ausgrenzen, stigmatisieren und abschieben. Kinder in geschlossenen Systemen sind ausgegrenzt, stigmatisiert und abgeschoben. Sie haben dort ein sehr eingeschränktes Recht auf Partizipation, sie können dort, allein wegen der temporären Begrenzung und des strukturellen Beziehungsdefizites, keinerlei Bindungen entwickeln - wenn sie dies dennoch tun sollten, so werden sie enttäuscht. Wenn über Alternativen nachgedacht wird, muss dies auf mehreren Ebenen geschehen. Zum einen sind die Entwicklungsbedingungen von Kindern in dieser Gesellschaft zu betrachten und damit einhergehend notwendige Veränderungen in Form gesellschaftlicher Eingriffe, Übertragung eines Teils der Erziehungs-, Entwicklungs-, Bildungsverantwortung und Förderung auf gesellschaftliche Institutionen (wie Krippe, Kita und Schule). Dies wäre die agierende Ebene der Prävention, also vorsorglicher und fürsorglicher Gestaltung gesellschaftlicher und damit öffentlicher Erziehungsverantwortung. Die andere Ebene der Betrachtung steckt die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Reagierens ab, also der Rettungsoptionen für das bereits in den Brunnen gefallene Kind. Dabei ist davon auszugehen, dass mit dem Ausbau der ersten Ebene die Brunnen zunehmend besser gesichert sind und deswegen immer weniger Kinder dort hineinfallen werden. Auf dieser zweiten reaktiven Ebene gilt es, ein differenziertes Bild zu entwickeln. Denn Hilfen müssen individuell ausgerichtet werden, schließlich ist jede kindliche Biografie eine strikt individuelle, d. h. ein gutes Fallverstehen mithilfe der Instrumente sozialpädagogischer, psychologischer, medizinischer und psychiatrischer Diagnostik steht am Anfang. Weiteres muss folgen: Aus Forschung und Evaluation wissen wir um die Wirkungen von Jugendhilfe. Dies gilt auch für ihre Grenzfälle (vgl. ISA 2009; IKJ 2008; Köckeritz 2009; Arbeitsgruppe Jugendhilfe 2007; Polutta 2009; Osterndorff 2009). Die Erkenntnisse der Studien müssen zwingend in die Praxis übertragen werden, dazu gehören unter anderem die Einbeziehung aller Beteiligten in transparente und verbindliche Verfahren sowie Partizipationsrechte der Kinder in ihrem Alltag. Diese Elemente müssen ernst genommen werden. Daraus ergäbe sich auf der dritten Ebene ein gemeinsamer Weg. Dass eine solche Annahme idealtypisch klingt und täglich aufs Neue zum Scheitern verurteilt ist, weil sich die jungen Menschen dann doch nicht an die gemeinsam getroffenen Absprachen halten, muss zunächst hingenommen werden, denn zum einen ist die Suche nach einer wirklichen Gemeinsamkeit ein Prozess, und Prozesse bedürfen einer (Entwicklungs-) Zeit, zum anderen sind gerade diese Kinder/ Jugendlichen darin geübt, quasi Gemeinsames zu postulieren (sie wissen, was ihr Gegenüber hören will), haben jedoch wenig Erfahrung damit, das wirklich Gemeinsame zu entwickeln. Diese jungen Menschen an die Absprachen immer wieder zu erinnern, sie ernst zu nehmen, sie daraufhin zu verpflichten, ihnen „an den Fersen zu kleben“, sie immer wieder zu suchen und aufzusuchen und immer wieder das Gemeinsame gemeinsam in Frage zu stellen, zu modifizieren, sich mit ihnen auf die Suche nach dem wirklich Gemeinsamen zu begeben, also auszuloten, „was meinst du Kind eigentlich wirklich“, das ist die große Kunst (sozial-)pädagogischer Einflussnahme. Ich nenne es schlicht, Kinder bzw. Jugendliche „entschlossen aushalten zu können“. Dahinter verbirgt sich ein langer Atem der SozialarbeiterInnen, Geduld also, ein hoher Grad an Interesse am jungen Menschen, Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und eine menschenfreundliche Grundhaltung. Diese Form der Entschlossenheit, wenngleich sie risikobehaftet und mühsam ist, erscheint mir eine echte Alternative zu freiheitsentziehenden Maßnahmen. Sie setzt die Achtung vor der freiheitlichen Selbstbestimmung voraus. 6 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung Nun werden KritikerInnen vieles einzuwenden wissen. Ja, sicherlich schwingt eine Gefährdung des jungen Menschen mit, auch eine Gefährdung anderer, eine Gefährdung von Sachwerten usw. Diese Güter, das will ich zugestehen, müssen gut gegeneinander abgewogen werden. Wenn aber eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht, die nicht mehr zu verantworten ist, so ist in diesen Fällen die Jugendhilfe mit ihren Möglichkeiten und Instrumenten am Ende, und es bedarf einer medizinischen und/ oder psychiatrischen Intervention - dafür stehen geeignete Institutionen zur Verfügung. Hier darf aus Schutzgründen kurzzeitig geschlossen interveniert werden (mit richterlichem Beschluss). Sie verfügen anerkannt über einen entsprechenden Status, sind also gesellschaftlich legitimiert. In diesen Institutionen gilt es, die Kontrollmechanismen und Verbindlichkeiten weiter zu entwickeln. Zum berüchtigten Drehtüreffekt kommt es doch deswegen, weil diese Institutionen ihre Verantwortung und Aufgaben deutlich eng begrenzt definieren und alles Pädagogische außerhalb verorten. Genau das aber ist die Crux, denn medizinische, psychiatrische Grundversorgung muss fließend übergehen in therapeutische Interventionen. Solche bedürfen für ihre Annahme, Akzeptanz und Wirksamkeit aber der Zeit, d. h. parallel zu therapeutischen Interventionen muss ein angemessener pädagogischer Rahmen geschaffen werden, also eine temporäre Aufgabenübertragung originärer Jugendhilfe an diese Institutionen stattfinden. Das bedeutet nichts weniger als eine neue inhaltliche Ausrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrien. Ein möglicher Übergang dieser medizinisch/ psychiatrischen, in der Folge therapeutisch-pädagogischen Hilfe in eine Maßnahme der Jugendhilfe muss im guten Sinne gestaltet werden, denn die Übergänge sind ähnlich bedeutend wie die Hilfen selbst und entscheiden mit darüber, ob die Anschlusshilfe auch anschlussfähig wird. Jenseits dieser beiden benannten Hilfeoptionen gibt es Situationen, die dadurch geprägt sind, dass junge Menschen überwiegend durch Kriminalität auffallen, also stetig und heftig gegen bestehende Gesellschaftsnormen und Gesetzesnormen verstoßen. Sofern dies durch einen Gruppenkodex bestätigt und gefestigt wird, lässt sich ggf. noch pädagogisch intervenieren, sofern es gelingt, diese Gruppe in ihrem Handeln zu beeinflussen, besser irgendwie aufzulösen oder die jungen Menschen dort herauszulösen. Wenn dieses Phänomen der Devianz aber in der Person gefestigt erscheint, muss der junge Mensch die Reaktion durch die ausführenden staatlichen Gewalten sowie die Judikative spüren. Nun soll an dieser Stelle auf keinen Fall für einen härteren Jugendstrafvollzug plädiert, auch nicht das Wort für eine Vorverlegung der Strafmündigkeit erhoben werden, sondern es soll auf die Notwendigkeit verwiesen werden, den Zusammenhang herzustellen zwischen nicht akzeptierbaren Handlungen junger Menschen und daraus erwachsenden notwendigen Folgen dieser Rechtsbrüche, und zwar unmittelbar, eben nicht mit 12- oder 18-monatiger „Verspätung“. Der Jugendstrafvollzug ist in diesen Fällen das geeignete Mittel, nicht das Heim, welches nämlich in den Verruf gerät (heute: insbesondere das geschlossene Heim), in der Nähe des Strafvollzuges angesiedelt zu sein. Heimerziehung sollte aus sich heraus schon ein originäres Interesse entwickeln, diese falsche Nähe nicht aufkommen zu lassen. Das Heim als künstlicher Ort des Aufwachsens sollte ein Ort sein oder wieder werden, der die Kinder und Jugendlichen nicht in fataler Weise stigmatisiert, abgesehen davon, dass es immer ein letzter Ort bleiben sollte, nämlich für diejenigen „Fälle“ reserviert, die offensichtlich, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr in andere Wohn- und Lebensformen integriert werden können. Geschlossene Erziehung gehört in geschlossene Systeme, so meine These, in Systeme also, die an sich geschlossen sind, weil sie dafür und für nichts anderes vorgesehen sind, die über eine dementsprechende gesellschaftliche Legitimation verfügen. Ein solcher Weg dorthin und dort hinein ist gesellschaftlich verankert, ak- 7 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung zeptiert und toleriert, das weiß gewissermaßen jedes Kind. Ein junger, strafmündiger Mensch, der über ausreichende, strafrechtlich relevante Auffälligkeiten verfügt, weil er diese bereits hinreichend „gelebt“ hat, wird ein richterlich gesprochenes Urteil annehmen und akzeptieren können, er wird dadurch nicht überrascht. Diese Einsicht und Akzeptanz ist ein erster Schritt zur möglichen Veränderung. Eine positiv ausgerichtete Veränderung allerdings ist nicht von einer inneren Läuterung allein abhängig, sondern von weiteren Faktoren. Wenn eine Gesellschaft diesen Weg will, einen Weg also, der stringent daraufhin ausgerichtet ist, dass er in eine vorgegebene gesellschaftliche Struktur und allgemein akzeptierte Traditionslinie passt, muss sie sich mit der Umsetzungs- und Ausführungsebene dieser Institutionen auseinandersetzen. Dieser Weg ist nicht bereits deswegen richtig, weil er in seiner Gesellschaft bekannt, akzeptiert und traditionell verankert ist, weil es eine entwickelte Rechtsprechung und eine Trennung gesetzgebender, Recht sprechender sowie ausführender Kräfte gibt. Vielmehr muss der Weg sich dadurch erst legitimieren, dass er, jenseits von Vergeltung und Strafe, den einsitzenden Menschen die Möglichkeit wirklicher Resozialisierung eröffnet - da gibt es allerdings noch unendlich viel zu tun. Insbesondere im Jugendstrafvollzug gilt diese Forderung umso eher. Hier bedarf es grundlegender Reformen, gewissermaßen einer neuen Reformpädagogik, denn das Mittel der Veränderung knüpft an die oben benannten Grundrechte der Kinder und Jugendlichen an, nämlich an das Recht auf Entwicklung, Bildung, Förderung in freier Selbstentfaltung, Partizipation sowie an das Recht und die Notwendigkeit, stabile, verlässliche, tragende Bindungen einzugehen. Junge Menschen im sogenannten Jugendstrafvollzug müssen diese Rechte unbedingt und ohne Abstriche wahrnehmen können, dazu bedarf es einer ausschließlich pädagogischen und therapeutischen Orientierung. Es bedarf des Mutes, sich vom Strafcharakter lösen zu wollen und den erzieherischen Entwicklungs- und Förderungscharakter in den Vordergrund zu rücken. Dass dazu die derzeitigen Formen vollkommen umgekrempelt werden müssen, liegt auf der Hand. Es bedarf des Muts, neue Formen zu erproben, Schwächen jetziger Formen einzugestehen und mit Hilfe interdisziplinärer Zusammenarbeit Neues zu entwickeln, sowohl am „grünen Tisch“ als auch zeitgleich in der Praxis. Hier kann der Vollzug viel aus der Heim- und (Reform-)Pädagogik lernen. Er sollte Erlebnispädagogik integrieren, er sollte Schule als Lebensschule begreifen und mit Segelschiffen begrenzte Lebensräume schaffen, innerhalb derer jeder seine Aufgabe findet und benötigt wird. Er kann Einzel- und Kleingruppenförderung aufgreifen, er kann Projekte in Afrika oder anderswo integrieren und vieles andere mehr - nur muss diese Form vom Strafvollzug wegkommen. Es geht nämlich nicht um den Vollzug einer Strafe, sondern um den Vollzug von Entwicklung, Bildung, Förderung und Erziehung, im Sinne einer Nachreifung, kurzum der Menschwerdung und der Anerkennung als gesellschaftlich akzeptiertes Mitglied. Dementsprechend werden in diesem neuen Vollzug auch keine VollzugsbeamtInnen mehr benötigt, sondern authentische Fachkräfte, im Sinne des Fachkräftegebotes gem. § 72 SGB VIII, also ErzieherInnen, (Sozial-)PädagogInnen, PsychologInnen, ErgotherapeutInnen u. a. m. Junge Menschen im Vollzug sollen sich als wertvoll erfahren lernen, das geht aber nur in völlig neuen Formen! Damit sind die Formen offen benannt, die Abgrenzungen konstruiert, die Grauzonen aufgelöst: 1. Eine „entschlossen aushaltende Betreuung“ sichert im Vorfeld anderer Maßnahmen eine Pädagogik der Geduld, des agierenden Handelns, des Aufsuchens, der Achtung vor dem Leben dieser Kinder in echter gelebter Partizipation; 2. übernähmen die Kinder- und Jugendpsychiatrien, neben ihrem Auftrag der Diagnostik, neben ihrer therapeutischen Orientierung 8 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung und Arbeit einen parallelen Erziehungs- und Bildungsauftrag auf Zeit; 3. der Strafvollzug wäre pädagogischer Vollzug im eigentlichen Sinne der Menschenbildung und eröffnete Chancen wirklicher (Re-) Sozialisierung. Ganz nebenbei wären Heime in einem positiven Sinn wieder Heime, also eine Art von Heimat oder Beheimatung auf Zeit. Nichts aber ist überflüssiger als „Geschlossene Unterbringung“ in Heimerziehung. Gäbe es eine Steigerung von falsch, so wäre diese Form der Pädagogik der falscheste Irrweg überhaupt - aber kann etwas, das falsch ist, noch falscher sein? Jörg-Achim Schröder Geschäftsführender Vorstand Verbund systemischer Hilfen e.V. Hohenwestedter Straße 6 24589 Nortorf jas.schroeder@t-online.de Literatur Adorno, T. W., 1970: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt am Main Arbeitsgruppe Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik, 2007: Leicht gesagt und schwer getan? Bericht zur Veranstaltung„Mythos wirkungsorientierte Steuerung“. Berlin Gostomski, C./ Küpper, B./ Heitmeyer, W., 2006: Fremdenfeindlichkeit in den Bundesländern. Die schwierige Lage in Ostdeutschland. In: Heitmeyer, W.: Deutsche Zustände. Folge 5. Frankfurt am Main, S. 102 - 128 Heitmeyer, W., 2007: Deutsche Zustände. Folge 6. Frankfurt am Main, S. 55 - 72 Hoops, S./ Permien, H., 2006: Mildere Maßnahmen sind nicht möglich. Freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1631 b BGB in Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. München Institut für Kinder- und Jugendhilfe, 2008: EVAS-Auswertung 2007. Gesamtbericht. Mainz Institut für Soziale Arbeit (ISA), 2009: Wirkungsorientierte Jugendhilfe. Band 9. Münster Köckeritz, C., 2009: Wirksamkeit der ambulanten Jugendhilfe - Daten, Debatten und offene Fragen. In: ZKJ, 4. Jg., H. 12, S. 477 - 482 Osterndorff, G., 2009: Selbstwirksamkeit erleben durch Selbstwirksamkeit messen. In: Dialog Erziehungshilfe, 4. Jg., H. 3 - 4, S. 55 - 62 Polutta, A., 2009: Perspektiven einer gemeinsamen wirkungsorientierten Qualifizierung öffentlicher und freier Träger der Jugendhilfe. In: Dialog Erziehungshilfe, 5. Jg., H. 3 - 4, S. 49 - 54 Wensierski, P., 2006: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik. München