eJournals unsere jugend 63/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2011.art02d
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2011
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Kann es ambivalenzfreie Erziehungshilfen geben jenseits von Kontrolle und Zwang?

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2011
Mathias Schwabe
Wie sind die Anregungen von Jörg-Achim Schröder einzuschätzen? Eine Replik.
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9 unsere jugend, 63. Jg., S. 9 - 16 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art02d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Mathias Schwabe Jg. 1958; ist für fünf Jahre von der Evangelischen Hochschule Berlin beurlaubt und baut mit KollegInnen für den Diakonieverbund Schweicheln e. V. eine Intensivgruppe für aggressiv und gewalttätig agierende Jugendliche in Potsdam auf. Kann es ambivalenzfreie Erziehungshilfen geben jenseits von Kontrolle und Zwang? Wie sind die Anregungen von Jörg-Achim Schröder einzuschätzen? Eine Replik. Wenn ich Herrn Schröder nicht als einen besonnenen und klugen Praktiker kennen würde, hätte ich seinen Artikel schnell beiseite gelegt und als Produkt eines sich aufplusternden Wirrkopfes abgetan. So aber habe ich seinen Text dreimal gelesen und konnte nach und nach immer besser über seine teils ungeschickt formulierten, teils uninformierten „Meinungen“ und seine zum Teil (KollegInnen) diffamierende Sprache hinweglesen (z. B. „wegsperren“ etc.) und mich auf die ernst zu nehmenden Kerne seiner Argumentation konzentrieren. Schade, dass er die neueren Debatten zum Thema „Zwang“ offensichtlich gar nicht oder zu wenig kennt (Baumann 2010, 185ff; Hoops/ Permien 2006; Müller 2007; Permien 2010; Rüth u. a. 2006; Schwabe 2007, 2008 a und b, 2009 a und b; Stadler 2006; Winkler 2003 und 2009; Wolf 2008). Aber auch ohne diese Kenntnis sind etliche seiner Gedanken ernst zu nehmen: n „Schwierige“ junge Menschen brauchen, so Schröder, eine konsequent aushaltende Pädagogik; diese darf nicht in erster Linie „regel-orientiert“ sein, muss ein ganzes Stück„Symptomtoleranz“ aufbringen (so kann man z. B. nicht erwarten, dass jedes Kind aufsteht und zur Schule geht bzw. abends immer pünktlich nach Hause kommt), beschränkt sich aber keineswegs auf Zuschauen oder Zulassen, sondern fordert in der Begegnung mit dem jungen Menschen zur Auseinandersetzung um persönliche Werte heraus; diese „aushaltende Pädagogik“ macht durchaus auch Druck, beachtet aber immer den Entwicklungsstand des jungen Menschen und achtet darauf, was diesem innerlich an Anpassung möglich ist, ohne sich selbst oder wichtige Loyalitäten zu verraten, und was nicht. Etwa in diese Richtung argumentieren viele erklärte Gegner von Freiheitsentziehenden Maßnahmen (FM) wie z. B. Friedhelm Peters, Regina Rätz-Heinisch oder Peter Hansbauer. Die meisten davon teilen die prinzipielle Ablehnung von „Zwang in der Erziehung“, insofern bewegt sich Herr Schröder hier in guter Gesellschaft, auch wenn es nicht meine ist (Hansbauer 1999; Peters 2004; Rätz-Heinisch 2005). n Obwohl Schröder darauf setzt, mit einer solchen aushaltenden Pädagogik viele FM-Maßnahmen überflüssig machen zu können, ist er (leidvoll) erfahren genug, um einzuschätzen, dass man damit nicht alle„schwierigen“ jungen 10 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung Menschen erreichen kann. Sehr viel mutiger als die strikten Ablehner von „Zwang“ hält er „Einschluss“ durchaus für erforderlich, nur möchte er diesen an anderen Orten, außerhalb der Jungendhilfe, ansiedeln. n Speziell für den Personenkreis der „Selbst- und Fremdgefährdenden“ denkt er an einen Aufenthalt in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dieser kann und muss aufgrund der Gefahren durchaus geschlossen sein. Das müsste allerdings eine Klinik sein, in der die jungen Menschen mittelfristig leben können (3 bis 12 Monate oder auch mehr, deutlich länger jedenfalls, als es das System der Krankenkassenfinanzierung mit den 6 Wochen im Moment zulässt) und in der sie zugleich medizinisch, therapeutisch und sozialpädagogisch betreut werden. Diese Kliniken wären notwendigerweise Orte interdisziplinärer Zusammenarbeit auf Augenhöhe, in denen ÄrztInnen, SozialpädagogInnen, FamilientherapeutInnen, MotopädagogInnen und ErgotherapeutInnen etc. eng zusammenarbeiten, bis so viel an emotionaler und sozialer Entwicklung erreicht ist, dass das Kind aus dem Gefährdungsbereich heraus„gewachsen“ ist. Dann geht es mit der „normalen“ Jugendhilfe (oder in der Familie) weiter. n Auch eine dritte Gruppe von jungen Menschen, die überwiegend kriminell Agierenden, soll aufgrund von Gefahren und Gefährdungen geschlossen untergebracht werden; dieses Mal im Rahmen der Justiz. Allerdings hätten sich auch die Jugendstrafanstalten grundlegend zu verändern: Sie müssten weit über das rhetorisch propagierte und weit über das heute praktizierte Maß hinaus sozialpädagogisch gestaltete Lebens- und Lernorte werden, die durchaus erlebnispädagogische Aktivitäten oder Auslandsaufenthalte integrieren, aber eben immer unter klarer „Kontrolle“ und mit dem Auftrag der Fluchtverhinderung. Nicht die Verbüßung der Strafe darf - wie heute von den Inhaftierten immer noch erlebt - im Vordergrund stehen, sondern eine reale Chance für eine Neuorientierung des eigenen Lebens inklusive des schrittweisen Erlernens der dazu notwendigen Kompetenzen. n Dieses neue Modell der strikten Aufteilung von Zwangsanwendung zwischen Systemen bzw. des alternativen Ineinandergreifens von Erziehung und Zwang/ Freiheitsentzug hätte nach Schröder mehrere Vorteile: ➤ Die Jugendhilfe, insbesondere die Heime, wären offene Orte, die klar auf Begegnungen in Freiheit setzen bzw. auf Zwang und Kontrollaufgaben verzichten und so eine neue ambivalenzfreie Attraktivität für ihre BewohnerInnen erhalten: „Wir werden dir schon helfen“ würde seinen erschreckenden Unterton verlieren. ➤ Die ohnehin schon mit hoheitsstaatlichen bzw. sichernden Aufgaben betrauten Systeme wie Justiz und Kinder- und Jugendpsychiatrie hätten einen klaren Auftrag in Bezug auf Teilgruppen von jungen Menschen und würden an diesen wenigen Orten Zwang und Entwicklungsförderung unter Beachtung sozialpädagogischer Kernüberzeugungen umsetzen. Das gesellschaftliche Renommee dieser Systeme hilft ihnen dabei, diese schwierige Aufgabe besser zu lösen, als die sehr viel weniger angesehene Jugendhilfe es vermag. ➤ Die momentan praktizierten Formen von Freiheitsentziehenden Maßnahmen im Rahmen der Jugendhilfe wären dann überflüssig; ebenso die vielen Kontrollmaßnahmen im Graubereich, die auch „normale“ Heime praktizieren. Denn zur Zeit, so Schröder, stellen die Erziehungshilfen einen schlechten und unklaren Mix von Entwicklungsanregung und Zwang her, der nicht in das System der Jugendhilfe passt und dieses den „NutzerInnen“ verdächtig machen muss. So weit die Schröderschen Vorschläge, wie ich sie verstanden habe. Dazu - und nur zu diesen interessanten Argumentationskernen - ein paar Anmerkungen: 11 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung n Erst einmal erlebe ich es als erfrischend, dass sich jemand an großen Reformideen versucht, einen umfassenden Entwurf liefert und dabei kreativ „herumspinnt“. Schröders Ideen mischen die festgefügte (Diskurs-)Landschaft auf und sind im besten Sinn des Wortes „utopisch“: Sie haben noch keinen, aber sie suchen einen Ort der Realisierung. n Er scheint freilich zu verkennen, dass „Jugendhilfe“, „Psychiatrie“ und „Justiz“ voneinander abgegrenzte Systeme darstellen, die nach je eigenen Gesetzmäßigkeiten mit je eigenen Systemzwängen funktionieren und sich deswegen immer nur begrenzt auf die Logiken anderer Systeme einlassen können. Wenn man „Geschlossenheit und die Verhinderung von Flucht“ ansagt und durchsetzen will (Justiz), dann bewegt man sich in prinzipieller Gegnerschaft zu den Menschen, die sich nicht für Jahre festsetzen lassen wollen, und kann dieses System nicht unbegrenzt sozialpädagogisch aufladen. Alles Sich-Einlassen auf sozialpädagogische Kommunikation kann von den Inhaftierten (spätestens) am Tag der Haftentlassung als (strategisch) notwendige Anpassung auch wieder fallen gelassen werden. Verhalten in Freiheit lässt sich im Gefängnis nicht trainieren. Wenn man„Heilung von aus den Fugen geratenen Prozessen ansagt, die unter der Dominanz des Körpers betrachtet werden, auch wenn das seelische und soziale Aspekte beinhaltet“, (Psychiatrie) dann kommt man um Diagnosen und Medikation nicht herum und muss als Arzt die „erste Geige spielen“, der sich das Orchester der anderen Professionen unterzuordnen hat etc. Systemtheoretisch gedacht ist es mehr als unwahrscheinlich, dass sich diese fremden Systeme, die sich auf gänzlich andere Grundsätze und Aufträge beziehen, unter der Führung von Jugendhilfefachleuten sozialpädagogisieren lassen. Das scheint auch professionstheoretisch nicht sehr wahrscheinlich, da jede Berufsgruppe im Laufe von oftmals jahrhundertelangen Abgrenzungskämpfen eigene Domänen besetzt (hat), die sie sich nicht streitig machen lassen will und kann. n Man sage dennoch nicht zu früh, eine Psychiatrie wie die von Herrn Schröder vorgestellte wäre unmöglich. Es gibt Misch-Institutionen, in denen sich unterschiedliche Berufsgruppen durchaus auf Augenhöhe begegnen, ich denke z. B. an die „Sozialpädiatrischen Zentren“, in denen ÄrztInnen, PsychologInnen und andere Heilkundige (ErgotherapeutInnen, PhysiotherapeutInnen, HeilpädagogInnen etc.) zum Wohle von entwicklungsverzögerten und -gestörten Kindern zusammen arbeiten. Dort ist es - zumindest prinzipiell - gelungen, eine neue Form von Institution mit eigenem Auftrag zu kreieren, weil allen Berufsgruppen klar war, dass es auf verschiedene, sich ergänzende Blickwinkel und Interventionsformen auf ein und dasselbe Kind ankommt. Wenn ich die Landschaft richtig überblicke, dann gibt es durchaus unterschiedliche mal mehr, mal weniger medizinisch oder pädagogisch-psychologisch ausgerichtete Sozialpädiatrische Zentren, was wahrscheinlich viel mit den jeweiligen Menschen und ihren Neigungen zu tun hat, die dort arbeiten. Das ist möglich, weil diese auch im rechtlichen Rahmen Spielräume vorfinden (so muss z. B. der/ die LeiterIn nicht unbedingt eine Ärztin sein etc.). Die Sozialpädiatrischen Zentren zeigen, dass Misch-Institutionen quer zur Systemlogik immerhin möglich sind. Die Frage ist, ob die Schnittstelle „schwierige Kinder, die die Jugendhilfe ratlos gemacht haben“, eine ähnliche Attraktionsfläche für verschiedene Professionen bietet wie„kleine, entwicklungsverzögerte Kinder“. Ich fürchte, nein. Außerdem hätten die SozialpädagogInnen in diesem neuen System ein Problem: Sie (nicht als Personen, aber als Profession) hätten bereits vorher in der Jugendhilfe lange Zeit „den Hut aufgehabt“, wären dort an ihre Grenzen gekommen und nun auch wieder im neuen System „sozialpädagogische Langzeitpsychiatrie“ tätig. Das ist bei den Sozialpädiatrischen Zentren ja anders: Dort formiert sich das System von Anfang an um das entwicklungsverzögerte Kind, ohne dass es vorher eine Profession alleine versucht 12 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung hätte. Wird man deswegen der Sozialpädagogik im neuen System nicht mit Skepsis begegnen? Anders herum: Was hätten die SozialpädagogInnen in der „sozialpädagogischen Psychiatrie“ oder dem „sozialpädagogischen Vollzug“ denn Neues zu bieten, was ihre KollegInnen vorher noch nicht eingebracht hätten? Oder nochmals anders: Denkt Herr Schröder, dass manche sozialpädagogischen Angebote für bestimmte Jugendliche eben nur im geschlossenen Rahmen (der Psychiatrie, der Justiz) wirksam werden können, d. h. diesen Rahmen als „vorpädagogische“ Voraussetzung brauchen (vgl. Winkler 2003, 142)? Und was heißt das dann für das Selbstverständnis unserer Profession? Pädagogik kann erst wirken, wenn bestimmte Voraussetzungen von anderen Nicht-PädagogInnen geschaffen werden? Diese Fragestellung kennen wir auch aus politischen Diskussionen in der Sozialpädagogik: Auch hier ist klar, dass bestimmte Bildungsprozesse mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit stattfinden, wenn die organisatorischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen z. B. für Unterricht stimmen (z. B. angemessene Klassengrößen, materielle Absicherung der Familien oder verfügbare Arbeitsplätze, für die es sich lohnt zu lernen, etc.) und man pädagogische Institutionen bzw. PädagogInnen nicht damit überfordert, diese allein aus eigener Kraft zu leisten. Freilich würde sich die Frage beim „Zwang“ noch einmal zuspitzen: Welche Berufsgruppen (außer der Polizei) sollen denn die Voraussetzungen für Erziehungsprozesse der „besonders Schwierigen“ schaffen? Fazit: auch wenn Misch-Institutionen möglich sind, so werden die SozialpädagogInnen dort eher nicht das Sagen haben, sondern sich bestenfalls in einen komplizierten Aushandlungsprozess mit anderen Professionen begeben müssen und bestenfalls eine Stimme im Orchester darstellen. Und: Zwang ausüben will erst einmal keiner und schon gar nicht dafür, dass eine andere Berufsgruppe tätig werden kann. n Einleuchtend scheint mir die Idee, dass eine strikte Aufteilung von Erziehung und Zwang sinnvoll und möglich ist. Denkbar wäre es z. B., das Setting „Freigang“ zur Regel zu machen: Jemand sitzt aufgrund einer Straftat ein und muss auch jeden Abend zurück in das Gefängnis. Tagsüber kann er (nach relativ kurzer Zeit) aber außerhalb des Gefängnisses z. B. in einem Arbeitsprojekt der Jugendhilfe lernen und arbeiten; mit anderen Jugendlichen gemeinsam, durchaus auch mit Teilnahme an Ausflügen und Festen etc. Dann würde hier das (soziale) Lernen stattfinden und dort die Sicherheitsverwahrung, die zwar vorläufig ausgesetzt ist, aber jederzeit wieder einsetzen kann. Der Jugendliche hätte die Chance, sehr viel Lebens- und Erfahrungszeit draußen zu verbringen, aber nur so lange, wie er sich an grundlegende Spielregeln hält. Ähnliches praktiziert man ja auch in der Form der „Verbüßung einer Haftstrafe in einer Jugendhilfeeinrichtung“ (§ 27 JGG). Auch dort bleibt der Zwang über den Kontext der Justiz ständig präsent, aber braucht das Heim keine Mauern. Freilich findet dieses Arrangement innerhalb der Jugendhilfe statt, während es Herr Schröder bewusst außerhalb verorten will. n Ermutigend bezogen auf die systemübergreifende Zusammenarbeit könnte es sein, wenn man über den nationalen Tellerrand schaut. In Frankreich und in den Niederlanden gibt es durchaus Kooperationsformen von Jugendhilfe und Justiz, von denen wir in Deutschland lernen könnten. Das geht dort freilich oft mit einer sehr viel schnelleren und„massenhafteren“ Einschränkung von Freiheitsrechten einher; nicht nur, dass rund 10 % der Heimplätze in den Niederlanden „geschlossen“ sind (in Deutschland nicht mal 1 %). Auch die Drastik, mit der dort vorgegangen wird, ist für deutsche Verhältnisse gewöhnungsbedürftig: So müssen sich z. B. in den Niederlanden sowohl der schlagende Partner wie auch die geschlagene Partnerin Gesprächen unterziehen (wenn sie zusammen bleiben wollen), und zwar sowohl gemeinsam als auch einzeln. Weder die geschlagene Frau noch der schlagende Partner darf in der Trennungsphase Kontakt zum ande- 13 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung ren aufnehmen. Auch eine geschlagene Frau kann bestraft werden, wenn sie es dennoch tut, weil man entdeckt hat, dass sich auch die „Opfer“ oftmals nicht an die Sicherheitsstandards halten, welche die Behörden für wichtig ansetzen, und in gewisser Weise die „Täter“ mit double-binds und/ oder subtilen Aufforderungen zu neuen Runden eines destruktiven Beziehungsspiels herausfordern. Alles dies deutet darauf hin, dass wir es als HelferInnen bei einer genaueren Definition von Selbst- und Fremdgefährdung und geschärfteren Interventionen im Hilfebzw. Schutzbereich zur Eindämmung dieser Gefahren auch mit deutlich mehr Kontrollmaßnahmen zu tun bekämen als in Deutschland heute üblich. Damit sollte man rechnen. Was wir in den letzten Jahren im Zusammenhang mit Kinderschutz und diesbezüglichen Absicherungsprozeduren erlebt haben, lässt dabei nichts Gutes ahnen. n Auch in der eigenen, nach Schröder zukünftig kontrollfreien Domäne werden sich für die Jugendhilfe Probleme auftun. Wer kann oder soll denn bestimmen, wann die Grenzen der freien Jugendhilfe erreicht sind und die anderen „geschlossenen“ Systeme mit ihrer Arbeit einsetzen? Wenn diese anderen Systeme zuverlässig und, wie Herr Schröder meint, „mit gesellschaftlicher Legitimation ausgestattet“ zur Verfügung stehen, dann wird es auch einen größeren öffentlichen Druck geben, die schwierigen Kinder rechtzeitig in diese Systeme zu schicken. Denn dann hätte man den klar definierten Auffangbereich, der heute eher unklar definiert ist und aus dem sich jedes System (häufig auch zufällig)„herausfischt“, wen es gerade haben will: die Spezialgruppen der Jugendhilfe (von denen die FM-Maßnahme nur eine ist) die einen; die Psychiatrie, die sich nach häufig völlig unklaren und von Klinik zu Klinik wechselnden Regeln mal zuständig erklärt, mal nicht, die anderen jungen Menschen. Und die Justiz, die ebenfalls je nach Richter hoch personenabhängig entscheidet, ob auf ein Delikt Gefängnis folgt oder nicht, die dritten Jugendlichen. Sicher ist die momentane Situation nicht befriedigend. Aber handelt man sich mit der Schröderschen Lösung nicht einfach andere Probleme ein, deren einziger Vorteil ist, dass wir sie jetzt noch nicht kennen? n Andersherum: gehört es nicht zu den festen und unverrückbaren Grundlagen der Sozialen Arbeit (weit über die Jugendhilfe hinaus), dass sie „Hilfe im Schatten von Kontrolle“ anbietet bzw. „Hilfe und Zwang zur Hilfe“ vermischt oder einerseits„personenbezogene Dienstleistungen“ offeriert, andererseits aber auch „andere Aufgaben“ wie im Zusammenhang mit „Kinderschutz“ (Inobhutnahme) erfüllen muss, oder wie man sonst immer das„doppelte Mandat“ spezifiziert. Heilt sich die Jugendhilfe wirklich, wenn sie sich ihrer ungeliebten Kontrollseite entledigt und diese an andere Systeme delegiert (oder, wie Herr Schröder das will, fremde Systeme sozialpädagogisiert)? Oder schwächt sie sich damit nicht auch, weil sie damit zwar ambivalenzfreier wird, zugleich aber auch jede Menge an hoch relevanten Zuständigkeiten verliert? Macht es nicht wie bisher Sinn, zunächst auf relative Freiwilligkeit zu bauen und damit 50 % der Familien und jungen Menschen zu erreichen, für die anderen 50 % aber ein Set von sich individuell anpassenden und durchaus steigerbaren Druck- und Kontrollstrategien zu entwickeln? Das kann von der Einladung zum Gespräch bis hin zur richterlich angeordneten Familienhilfe gehen. Oder denken wir an ein Kind im Heim, das dreimal wöchentlich „völlig außer Rand und Band“ gerät, ohne dass man die Auslöser vorrangig im Verhalten seiner Umwelt suchen kann und muss (so etwas habe ich z. B. oft bei Kindern erlebt, die an einem Fetalen Alkoholsyndrom leiden oder deren Traumatisierung noch nicht aufgedeckt werden kann). Diese Kinder müssen nicht unbedingt in die Psychiatrie (wie viele PädagogInnen es fordern), sie lernen dort auch nichts Vernünftiges. Man kann diese Kinder nur aushalten und in lange stabil gehaltenen Umwelten kleine Lernfortschritte erreichen. Solchen Kindern bekommt während der 14 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung Hocherregung häufig ein gepolsterter Raum gut, in den sich der/ die PädagogIn mit ihnen zusammen hineinbegibt, durchaus auch gegen den Willen des Kindes, und wo es sich im Kontakt mit dem/ der PädagogIn ausagieren kann; oder auch alleine, wenn ihm das besser tut; mal mit offener, mal mit verschlossener Türe („Time out“), je nachdem, wie übergriffig es sich während der „Tobephase“ verhält und wie gut seine Selbstkontrolle entwickelt ist („ich komme erst raus, wenn ich mich beruhigt habe! “). Drei Kinder können hier drei verschiedene Konzepte im Umgang mit Zwang und Kontrolle brauchen oder ein Kind im Laufe von zwei Jahren drei sich jeweils neu anschmiegende Konzepte. Natürlich entsteht dadurch ein weiter „Graubereich“ zwischen freiwillig in Anspruch genommener Jugendhilfe und Freiheitsentzug bzw. zwischen Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentzug. Selbstverständlich muss dieser genauestens geregelt und dokumentiert werden. Was aber an mehr individuell passenden Kontroll- und Zwangselementen schlecht in der Jugendhilfe sein soll, weiß ich nicht, wenn sie denn den Kindern helfen, länger dort zu leben, wo sie sich prinzipiell wohlfühlen (auch wenn sie dort dreimal in der Woche „ausrasten“). In solchen auf der Grundlage von „Fallverstehen“ gut ausgedachten und extern aufmerksam überwachten Kontroll- und Zwangselementen innerhalb der Jugendhilfe würde ich mehr Sinn sehen als in der Auslagerung dieses Themas an sozialpädagogische Spezialeinrichtungen im Schröderschen Sinne. n Die pädagogische Kernfrage lautet: Kann oder muss sich Erziehung von Kontrolle und Zwang verabschieden? Oder sich (erst) dazu gesellen, wenn andere Institutionen die Ausführung von Kontrolle und den Zwang übernehmen? Ich glaube, nein. Man kann die Unausweichlichkeit von Kontroll- und Zwangselementen in der Jugendhilfe von oben her (der Sozialen Arbeit qua gesellschaftlicher Funktionsbestimmung immanent) begründen (siehe oben: doppeltes Mandat); man kann das Zusammengehören dieser spannungsreichen Dyade aber auch „von unten“, von dem, was Erziehung - vor allem in der ursprünglichen Form von Familienerziehung - ist, begründen: Wir alle sind als Kleinkinder von den starken Armen unserer Eltern immer wieder hoch genommen und abgesetzt worden. Mal ganz im Einklang mit unserem Willen, mal gegen diesen. Wir wurden z. B. gegen unseren Willen mal vom Hundekot weggeholt, der uns doch so interessiert hätte, oder zum Herrn Doktor hingereicht, von dem wir nicht angefasst werden wollten. Wir wurden mal aus dem Bett gehoben, obwohl wir noch schlafen wollten, oder mal rein gelegt, weil wir schlafen sollten, obwohl wir gar keine Müdigkeit empfinden konnten. Die Älteren von uns kennen auch noch den „Laufstall“ mit den Holzstäben; wie oft haben wir lautstark gegen diese Einschränkung unseres Spielraumes protestiert und uns dann doch damit arrangiert oder blieben untröstlich ob dieses Verlustes an Bewegungsfreiheit. Unsere Eltern hatten die totale Verfügungsgewalt über unseren Körper und haben diese auch in Anspruch genommen. Viele Eltern haben das Zwingen angemessen oft und mit angemessenem Körpereinsatz praktiziert, andere zu grob und häufiger als nötig, wieder andere völlig unsicher und zu selten, weswegen wir in Gefährdungssituationen gerieten oder uns gegen diesen halbherzigen Zwang durchsetzen konnten. Wir alle kennen körpergestützten Zwang und viele von uns auch raumbezogenen (Schwabe 2008 a und 2009). Diese frühen Erlebnisse prägen unser Verhältnis zum Zwang (auch in den anderen davon abgeleiteten Formen von Einschluss etc.) und lassen ihn uns als „übergriffig und abscheulich“ oder als „gute Führung“ einschätzen. Die empirische Bandbreite des Erlebten ist groß, und „schlimme“, vor allem mit Demütigungen verbundene Zwangserfahrungen müssen als „schlimm“ anerkannt werden. Aber eines ist klar: Nicht aufgrund von Worten, sondern primär aufgrund von einschneidenden, hautnah erlebten Interventionen haben wir gelernt, dass wir uns mit 15 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung diesen mächtigen Wesen irgendwie abstimmen und arrangieren müssen. Nicht nur, aber auf jeden Fall auch aufgrund ihrer Überlegenheit haben wir angefangen, auf ihr „Ja“ und „Nein“ zu achten, weil den Worten Taten folgten. Aufgrund dieser Erlebnisse konnten wir uns vorstellen, wann und wie unsere ersten Erziehungspersonen eingreifen würden, und haben deswegen angefangen, selbst die Verhaltensregulation zu übernehmen, weil es sich besser bzw. autonomer anfühlt, etwas selbst zu beenden, als es weggenommen zu bekommen oder fortgetragen zu werden etc. All dies sind basale Erziehungsprozesse; sie finden von Anfang an in Kontexten statt, in denen Erwachsene einen klaren Machtüberhang besitzen und Zwang ausüben. Diesen Zwang gibt es neben der Liebe, neben Versorgung und Körperpflege, neben dem Spielen … als ein Element der kindlichen Erziehungswelt (Schwabe 2008 a, 44ff ). Alleine das macht klar, dass Erziehung und Zwang innig und untrennbar miteinander verwoben sind (Schwabe 2009 b). Freilich wirkt Zwang nur dann entwicklungsförderlich, wenn das Kind sich ihm - bei aller bleibenden Ambivalenz - freiwillig unterwirft, ohne dass es dieses teilweise und vorläufige Einverstandensein nach außen zeigen oder kommunizieren muss (Permien 2009; Schwabe 2009 b). n Damit ist noch nicht gesagt, dass das, was einmal war, immer so bleiben muss. In der Familienerziehung kommt es unbedingt darauf an, dass die Selbstregulationsspielräume und -fähigkeiten immer größer werden und dass man von Anfang an das Aushandeln neben dem Zwingen praktiziert und immer mehr durch jenes ersetzt. Und im Kindergarten und in der Schule kommt es darauf an, dass die auch über Zwang eingespurten Verhaltensweisen nur noch über sanfte Körpergesten angestoßen und begleitet werden bzw. durch verbale Anweisungen ersetzt werden können. Wenn Erziehungsinstitutionen selbst wieder Hand anlegen und direkten Zwang (Einschluss) ausüben, dann kehren sie damit zugleich wieder zurück in einen frühen Zustand, in dem Erziehung und Zwang sehr nahe beieinander lagen. Ob man das tun will, muss man entscheiden. Man muss es nicht tun bzw. kann und darf sich auf diesem Feld auch verweigern. Aber offensichtlich haben viele Kinder in diesem frühen Bereich etwas erlebt, was sie heute noch angewiesen auf„gut gestaltete“ Zwangserfahrungen sein lässt. Die Frage ist, ob wir das Nachdenken über und die Praxis von „gutem“ Zwang anderen überlassen wollen oder ob wir als SozialpädagogInnen genau die „Richtigen“ für dieses „schwierige“ Geschäft sind. Zwang hat ein Doppelgesicht: Einschränkung tut (durchaus auch zu sehr) weh. Zwang führt fast immer auch zu Gegenwehr und Reaktanz, das sind erwartbare und berechtigte Reaktionen. Zwang ist aber auch der mächtige Walfisch, auf dessen Rücken Sozialisation und Zivilisierung ihre „Siedlungen“ bauen, ohne den wahren Charakter ihres unsicheren „Fundaments“ zu kennen (Schwabe 2009 a). Man bemerkt ihn erst, wenn er wegtaucht oder man vergeblich versucht, Siedlungen aufs Wasser zu bauen. n Nichts im Bereich institutioneller Hilfen ist ein für alle Mal festgelegt und muss so gestaltet bleiben, wie es aktuell praktiziert wird. Alles kommt darauf an, wie wir es organisieren. Allerdings lässt sich kaum etwas einfach mal schnell umorganisieren. Ganz bestimmt nicht das spannungsreiche Miteinander von Erziehung und Zwang. Schröder hat dafür Anregungen gegeben, die man aufgreifen und diskutieren sollte. Ob sie am Ende zu Verabredungen für „neue Systemzuschnitte“ führen oder ob man bei aller Ambivalenz bei den alten Systemen bleibt, scheint mir - auch zu Recht - noch offen. Dr. Mathias Schwabe Evangelische Jugendhilfe Geltow/ Diakonieverbund Schweicheln mathias.schwabe@web.de 16 uj 1 | 2011 Geschlossene Unterbringung Literatur Baumann, M., 2010: Kinder, die Systeme sprengen: wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern. Baltmannsweiler Hansbauer, P., 1999: Traditionsbrüche in der Heimerziehung. Münster Hoops, S./ Permien, H., 2006: „Mildere Maßnahmen sind nicht möglich“ - Freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1631 BGB in Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie. München Müller, B., 2008: Zum Themenheft Zwang: ein offener Brief. In: Widersprüche, H. 106, S. 13 - 19 Permien, H., 2010: Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug? Zentrale Ergebnisse der DJI- Studie „Effekte freiheitsentziehender Maßnahmen in der Jugendhilfe“. München Peters, F., 2004: Freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen von Kinder- und Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Justiz. In: Forum Erziehungshilfen, 10. Jg., H. 3, S. 181 - 183 Rätz-Heinisch, R., 2005: Gelingende Jugendhilfe bei „aussichtslosen Fällen“! Biographische Rekonstruktionen von Lebensgeschichten junger Menschen. Würzburg Rüth, U./ Pankofer, S./ Freisleder, F. J. (Hrsg.), 2006: Geschlossene Unterbringung im Spannungsfeld von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe. München Schwabe, M., 2007: Zwang in der Erziehung und in den Hilfen zur Erziehung. In: Widersprüche, H. 106, S. 19 - 41 Schwabe, M., 2008 a: Zwang im Heim: Chancen und Risiken. München/ Basel Schwabe, M., 2008 b: Kampf um Anerkennung, Negation und Zwang. In: Widersprüche, H. 108, S. 85 - 97 Schwabe, M., 2009 a: Gewalt, Zwang und Disziplin. Dunkle Gestalten an der Wiege sozialer Entwicklungen. In: Widersprüche, H. 113, S. 63 - 88 Schwabe, M., 2009 b: Systemtheoretische Überlegungen zu Zwang beim Militär, im Strafvollzug und in der Jugendhilfe. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript für VI. Workshop „Qualitätsstandards bei freiheitsentziehenden Maßnahmen“ am 7. und 8. 7. 2009 in Eisenach Stadler, B., 2006: Therapie unter geschlossenen Bedingungen - ein Widerspruch? Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Humboldt-Universität zu Berlin Winkler, M., 2003: Kritik der Pädagogik. Göttingen Winkler, M., 2009: Widersprüchliche Überlegungen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript für VI. Workshop „Qualitätsstandards bei freiheitsentziehenden Maßnahmen“ am 7. und 8. 7. 2009 in Eisenach Wolf, K., 2008: Erziehung und Zwang. In: Widersprüche, H. 107, S. 93 - 108