unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2011.art05d
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2011
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Was bewirkt Heimerziehung? Die Sichtweise der Fachkräfte
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2011
Richard Günder
Eckart Reidegeld
Die Stationäre Erziehungshilfe war und ist häufig dem (Vor-)Urteil ausgesetzt, dass diese Form der Jugendhilfe eine der letzten Möglichkeiten darstelle, nachhaltige Erfolge würden jedoch eher ausbleiben, wenn Erfolge doch einmal einträten, dann seien diese eher marginal. Oftmals wurde und wird sogar die Meinung angetroffen, Heimerziehung würde für einen Großteil der betroffenen jungen Menschen eine Negativkarriere begünstigen. Gleichzeitig ist die Stationäre Erziehungshilfe sehr betreuungsintensiv und damit die teuerste Form der Jugendhilfe. Wenn sich die Negativurteile der Heimerziehung bestätigen sollten, wäre diese Erziehungshilfe kaum zu rechtfertigen.
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36 unsere jugend, 63. Jg., S. 36 - 44 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art05d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Was bewirkt Heimerziehung? Die Sichtweise der Fachkräfte Die Stationäre Erziehungshilfe war und ist häufig dem (Vor-)Urteil ausgesetzt, dass diese Form der Jugendhilfe eine der letzten Möglichkeiten darstelle, nachhaltige Erfolge würden jedoch eher ausbleiben, wenn Erfolge doch einmal einträten, dann seien diese eher marginal. Oftmals wurde und wird sogar die Meinung angetroffen, Heimerziehung würde für einen Großteil der betroffenen jungen Menschen eine Negativkarriere begünstigen. Gleichzeitig ist die Stationäre Erziehungshilfe sehr betreuungsintensiv und damit die teuerste Form der Jugendhilfe. Wenn sich die Negativurteile der Heimerziehung bestätigen sollten, wäre diese Erziehungshilfe kaum zu rechtfertigen. von Prof. Dr. Richard Günder Jg. 1949; Professor für Erziehungswissenschaft im Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund Prof. Dr. Eckart Reidegeld Jg. 1947; Professor für Sozialadministration und Politikwissenschaft im Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund Ausgangsüberlegungen Studien über die Auswirkungen der Stationären Erziehungshilfe zeigen allerdings ganz andere Resultate, die den vorgenannten Vorurteilen weitgehend konträr gegenüberstehen. Hierbei handelt es sich zunächst um kleinere Evaluationsuntersuchungen, die sich zumeist auf die Erfolge oder Misserfolge jeweils einer Institution bezogen: Hansen folgerte aus einer empirischen Studie, dass die Heimerziehung weite Bereiche der kindlichen Entwicklung positiv beeinflusse. Kritische Anmerkungen werden aber beispielsweise zu der Situation junger Menschen gemacht, welche häufig Institutionen wechselten. Sehr viel intensiver müsste nach den Ergebnissen der Studie auch die vorgefundene Elternarbeit sein, die zu wenig umgesetzt werde und teilweise auf Widerstände des pädagogischen Personals stoße (Hansen 1994, 222 - 228). Auch die Ergebnisse einer anderen Befragung zeigten auf, dass der weitaus größte Teil ehemaliger Heimkinder „eine eindeutig positive Bilanz ihres Heimaufenthaltes zieht“ (Adam u. a. 1995, 37 uj 1 | 2011 Wirkungen von Heimerziehungen 27). „Als wichtigster persönlicher Gewinn aus dem Aufenthalt wurde am häufigsten ‚Selbstvertrauen‘ genannt; hervorgehoben wurden aber auch verschiedene andere Aspekte wie ‚Reife‘, ‚Selbstständigkeit‘, ‚Kreativität‘, ‚handwerkliche Fähigkeiten‘ sowie die schulische Förderung“ (Adam u. a. 1995, 24). Jedoch fand auch hier ein großer Teil der Befragten, dass die von der Einrichtung ausgehende Elternarbeit „gerade ausreichend“ war und ein kleinerer Teil, „dass sich das Haus in dieser Hinsicht hätte stärker engagieren können“ (ebd., 25). Die Jugendhilfe-Effekte-Studie verglich in fünf Bundesländern die Auswirkungen unterschiedlicher Hilfen zur Erziehung. Die Stichprobe setzte sich aus 233 jungen Menschen zusammen, davon waren 49 in der Heimerziehung (Schmidt u. a. 2002, 77f ). Die Stationäre Erziehungshilfe erzielt danach sehr hohe positive Effekte bezüglich der Gesamtauffälligkeit der Kinder. Eher gering sind jedoch die Effekte hinsichtlich der psychosozialen Belastung im Umfeld der jungen Menschen, also in den Herkunftsfamilien (Schmidt u. a. 2002, 395). Die EVAS-Studie untersucht seit 1999 bundesweit die Klientel, Ausgangslage und Wirkungen von Hilfen zur Erziehung. Die Fallzahlen steigen ständig. Die Daten werden mit speziellen Dokumentationsbögen bei der Aufnahme, danach in halbjährigen Abständen und bei der Beendigung einer Hilfe erhoben (Macsenaere/ Herrmann 2004, 32ff ). Für den Bereich der teilstationären und Stationären Hilfen zur Erziehung zeigten sich u. a. folgende Ergebnisse: ➤ „Der Abbau von Defiziten gelingt vor allem in Einrichtungen, deren Methodenspektrum einen hohen Spezialisierungsgrad für die verschiedenen individuellen Problemlagen der Kinder und Jugendlichen aufweist. Hier gilt also nicht, ‚je mehr Methoden, desto besser‘, sondern ‚je spezifischer die Methoden, desto besser‘“ (37). ➤ „Bleibt der Erfolg im Verlauf des ersten Hilfejahres aus, ist mit einer hohen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass auch in der Folge keine Effekte mehr erzielt werden können. Es kann in diesem Fall dem Wohl des Kindes eher zuträglich sein, die Hilfe zu beenden und eine geeignetere Form der Betreuung zu finden“ (40). Weitere Ergebnisse der Evaluation Erzieherischer Hilfen (EVAS) sind: ➤ Heimerziehung setzt in 90 % aller Fälle erst ein, nachdem schon zuvor andere Hilfen in Anspruch genommen wurden. Je mehr Hilfen vor dem Heimaufenthalt vorhanden waren und je intensiver diese waren, desto wahrscheinlicher ist ein Misserfolg der Stationären Unterbringung. ➤ „Trotz der äußerst ungünstigen Ausgangssituation der Heimklientel weisen ca. 60 % der evaluierten Hilfen einen positiven Effektindex und somit positive Entwicklungen auf“ (Macsenare/ Schemenau 2008, 27). Kuhlmann (2009, 96) analysiert ca. 80 Studien zu Lebensläufen ehemaliger Heimkinder und sie resümiert, „dass ungefähr zwei Drittel der früheren Kinder und Jugendlichen aus Heimen eine positive oder vorwiegend positive Entwicklung nahmen. Während ein Drittel nach Ansicht der Forscher dies nicht tat“. Paries (2007, 411) kommt beim Vergleich unterschiedlicher Evaluationsstudien zur Heimerziehung zu der Schlussfolgerung, „dass der Erfolg einer Hilfe wesentlich von der Kooperationsfähigkeit der jungen Menschen und ihrer Eltern abhängt“. Es könne auch „der direkte Zusammenhang von Kooperationsfähigkeit, Zufriedenheit und Erfolg der Hilfe nachgewiesen werden“. Macsenaere betont unter Berücksichtigung verschiedener Studien die Notwendigkeit, sehr frühzeitig auf einen Hilfebedarf zu reagieren. Die Erfolgsaussichten seien dann positiv. „Mit zunehmendem Alter und einer ausgeprägten verfestigenden Symptomatik wird die Wahr- 38 uj 1 | 2011 Wirkungen von Heimerziehungen scheinlichkeit eines positiven Abschneidens hingegen reduziert“ (2009, 7). Eine große Bedeutung für den Erfolg oder Misserfolg einer Stationären Erziehungshilfe nehme die Mitarbeiterqualifikation ein: „Wird hier ein Minimalstandard unterschritten, steigt die Wahrscheinlichkeit für z. T. drastische Misserfolge an“ (ebd., 8). Die Praxis in der Beurteilung der Fachkräfte Doch wie beurteilen die pädagogischen Fachkräfte in den Institutionen der Stationären Erziehungshilfe selbst die Auswirkungen ihres beruflichen Handelns? Um dies herauszufinden, wurde ein entsprechender Interviewleitfaden entwickelt; es konnten 44 Interviews mit pädagogischen MitarbeiterInnen dieses Arbeitsfeldes in Nordrhein-Westfalen durchgeführt werden. Die Interviews wurden qualitativ ausgewertet. Der Anteil der weiblichen InterviewpartnerInnen lag bei 64 %. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten hatte eine Ausbildung als ErzieherIn absolviert, gefolgt von der Berufsgruppe der SozialarbeiterInnen oder SozialpädagogInnen. Sechs der interviewten Fachkräfte waren DiplompädagogInnen, außerdem waren drei HeilpädagogInnen an der Befragung beteiligt. Problemlagen der Kinder und Jugendlichen Danach befragt, aus welchen Problemlagen heraus die Kinder und Jugendlichen in die Stationäre Erziehungshilfe gekommen wären, entfalteten die befragten Fachkräfte ein ganzes Panorama „kindeswohlgefährdender“ Lebensumstände. Dabei waren Mehrfachnennungen möglich. Dreißigmal wurde eine Überforderung der Eltern angemerkt. Zwanzigmal war von Drogen-/ Alkoholmissbrauch der Eltern die Rede. Annähernd genauso häufig wurde auf den sexuellen Missbrauch der Kinder und Jugendlichen verwiesen. Sechzehnmal wurde Verwahrlosung und Vernachlässigung als Grund für die Aufnahme in die Stationäre Erziehungshilfe angesprochen. Es folgte die Misshandlung der Kinder und Jugendlichen (elf Nennungen). Weniger häufig (achtbis sechsmal) benannten die befragten Fachkräfte die Trennung der Eltern, psychische Schwierigkeiten der Kinder und Jugendlichen, Tod der Eltern oder eines Elternteiles, Schulbzw. Lernschwierigkeiten und Aggressivität des Kindes oder des Jugendlichen. Berücksichtigt man diesen Hintergrund, so ist eine erste wichtige Wirkung der Heimerziehung die Herausnahme des Kindes aus einer unmittelbaren physischen und/ oder psychischen Gefahrensituation. Zahlreiche Kinder und Jugendliche werden also aus einer Problemlage befreit. Diese Zusammenhänge tragen auch dazu bei zu verstehen, dass die Entlassung aus der Heimerziehung in das Elternhaus zwar durchaus im nennenswerten Umfang realisiert wird, dass aber andere Lebensperspektiven (Entlassung in eine eigene Wohnung, in eine andere Einrichtung, in eine Pflegefamilie) sehr häufig angestrebt werden bzw. werden müssen. Fast alle Befragten gehen davon aus, dass die Heimerziehung insgesamt einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der jungen Menschen habe. Primär werde das Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen günstig beeinflusst, außerdem ihr Sozialverhalten. Überwiegend gingen die Befragten auch davon aus, dass die Heimerziehung auf die schulische und berufliche Ausbildung eine positive Auswirkung habe. Ein Siebtel der Befragten vertrat eine gegenteilige Auffassung und meinte, dass der Heimaufenthalt sich negativ auf die schulische Entwicklung auswirke, bei der beruflichen Ausbildung war ein Fünftel dieser Auffassung. 39 uj 1 | 2011 Wirkungen von Heimerziehungen Wie entwickelt sich durch den Heimaufenthalt im Allgemeinen die Beziehung zur Herkunftsfamilie? Danach befragt, wie sich durch den Heimaufenthalt im Allgemeinen die Beziehung zur Herkunftsfamilie verändert, äußerten einige der befragten Fachkräfte, dass eine Trennung von der Herkunftsfamilie wohltuende Wirkung haben kann. Manchmal helfe es, die Eltern gar nicht zu sehen. Die „Beteiligten“ vergäßen mit der Zeit, was das gemeinsame Leben so schwierig gestaltet habe. Es könne nun ein entspanntes Verhältnis zu den Eltern entstehen. Die Kontakte zu den Eltern verbesserten sich durch die räumliche Trennung und Heimunterbringung. Die Eltern seien nicht mehr täglich durch die Probleme mit dem Kind belastet. Die Konflikte in der Familie seien nicht mehr so drastisch und der Umgang mit dem Kind gestalte sich angenehmer. Die Kinder würden gern zu den Eltern gehen, kämen aber auch gerne wieder zurück. Die Kinder bekämen durch den Heimaufenthalt und gelegentliche Elternbesuche eine objektive Meinung zu dem Ärger im Elternhaus. Die Trennung könne zu einer Abnabelung und Verselbstständigung der Jugendlichen beitragen. Alle „Parteien“ kämen durch den Heimaufenthalt zur Ruhe. Besonders in der ersten Zeit seien alle Seiten froh, Abstand zueinander zu haben. Diese positive Wirkung des Heimaufenthaltes wird von den Befragten häufig als gesunde Basis für die gesetzlich vorgeschriebene und als notwendig angesehene Elternarbeit betrachtet, insbesondere dann, wenn auch die Kinder und die Eltern den Kontakt haben wollten, der Kontaktwunsch also nicht einseitig sei. Die Elternarbeit müsse intensiv, wertschätzend, sensibel und doch klar und deutlich gestaltet werden. Ein Hemmschuh der Elternarbeit sei die durch die bloße Heimaufnahme ausgelöste Auffassung der Eltern, in der Erziehung ihres Kindes grob versagt zu haben. Es gebe Eltern, die die Einrichtung und Fachkräfte als Feinde oder arge Konkurrenten ansähen. Das erschwere die Elternarbeit enorm und führe dazu, dass die Kinder überfordert werden, dass sie zwischen den Stühlen säßen. Von einer langsamen Annäherung an und mühsam vorangehenden Arbeit mit dem „Herkunftssystem“ ist die Rede und von einer Aufarbeitung der Lebensgeschichten. Eine Rückführung ins Elternhaus setze beiderseitiges Interesse voraus. Auch wenn keine Eltern vorhanden seien, finde Elternarbeit im Sinne einer „Wurzelfindung“ statt, denn irgendwann komme die Frage des eigenen Ursprungs, der eigenen Herkunft auf. Die „Beurlaubung“ in die Herkunftsfamilie sei notwendig, damit die Kinder bzw. Jugendlichen eine realistische Einschätzung ihrer Eltern entwickeln können. Daneben wird aber auch von großer Traurigkeit aufseiten der Kinder als Folge der Trennung von ihren Familien berichtet. Dies sei insbesondere zu Beginn der Heimerziehung zu beobachten. Manche Kinder würden am Elternhaus hängen und könnten sich deshalb nicht auf die pädagogische Arbeit in der Einrichtung einlassen. Von feststehender Bindung und häufig auch einem Restverständnis für die Eltern, Großeltern, Geschwister ist die Rede. Eltern blieben Eltern. Dem stehen Kinder gegenüber, die einen Hass auf die Eltern entwickeln und keinen Kontakt wollen. Es käme mitunter zu einem kompletten Kontaktabbruch. Erfahrungen haben die befragten Fachkräfte aber offensichtlich auch mit Kindern gemacht, die von ihren Eltern in den Einrichtungen geradezu vergessen werden. Sogar von gänzlich verschwundenen Eltern ist die Rede. Die Kontaktwünsche liefen dann naturgemäß ins Leere. Insgesamt lassen die Äußerungen in ihrer Tendenz eine gewisse Distanz zu den Eltern und damit zur Elternarbeit erahnen. Die Kooperationsmöglichkeiten der Eltern und die Förderung ihrer Partizipation scheinen jedoch ein besonders wichtiges Qualitätsmerkmal der Stationären Erziehungshilfe zu sein. 40 uj 1 | 2011 Wirkungen von Heimerziehungen Welche Voraussetzungen in den Herkunftsfamilien und welche Verhaltensstörungen bei den Kindern und Jugendlichen sind gut oder weniger gut zu beeinflussen? Hierzu waren die Fachkräfte mehrheitlich der Auffassung, dass die Verhaltensstörungen der Kinder und Jugendlichen sehr unterschiedlich seien und daher die Prognose für jeden Einzelfall individuell betrachtet werden müsse. Über diese generelle Meinung hinaus gab es aber auch differenzierte Stellungnahmen: Besonders gut zu beeinflussen seien allgemeine Verhaltensstörungen dann, wenn sowohl die jungen Menschen als auch ihre Eltern aktiv zu Veränderungen bereit wären. Die Einhaltung von Regeln und Grenzen, eine geregelte Tagesstruktur, der Abbau von Aggressionen und„Verwahrlosungszuständen“, das seien Ziele, die man durch pädagogische Einflussnahme gut erreichen könne. Sehr wichtig sei es auch, dass die Eltern der Unterbringung zustimmten, damit ihre Kinder sich auf die Einrichtung einlassen könnten. Diese Meinung korrespondiert mit den Ergebnissen zahlreicher Evaluationsstudien zur Heimerziehung. „Als zentraler Wirkfaktor pädagogischer Arbeit zeigt sich die Kooperation mit Eltern und/ oder jungem Menschen. Gelingt diese aktive Mitarbeit im Rahmen der Hilfe, verbessert sich die Aussicht auf Erfolg erheblich - unterbleibt sie, ist ein Misserfolg der Hilfe hochwahrscheinlich. Eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung ist die Partizipation von Eltern und jungem Menschen, die jedoch ergänzt werden muss um das stetige Bemühen, eine gelingende Hilfe zur Selbsthilfe zu schaffen“ (Macsenaere 2009, 8).Weiterhin wurde in den Interviews erwähnt, durch positives Vorleben in Verbindung mit Alltagsstrukturen und sozialem Umgang untereinander lasse sich Verhalten positiv beeinflussen. Auch Schulprobleme könnten häufig verringert werden. Demgegenüber sei es sehr schwierig, Suchtproblematiken in der Familie oder bei den Kindern und Jugendlichen selbst positiv zu beeinflussen. Bei traumatisierten Kindern und Jugendlichen und auch bei sexuellem Missbrauch könne keine pauschale Antwort gegeben werden. Hier komme es immer auf den Einzelfall an. Traumatisierungen, die Folgen von Missbrauch und Gewalterfahrungen, lang eingeschliffene, verfestigte Verhaltensdefizite, psychische Erkrankungen, tief und fest verwurzelte „ungesunde“ Bindungsverhältnisse zu den Eltern gehören insgesamt zu den schwer zu beeinflussenden Faktoren. Dies gelte insbesondere dann, wenn auf Grund gravierender „Vorkommnisse“ der Kontakt zur Familie fortfalle und nicht mit beiden Parteien gearbeitet werden könne. Wie lange sollte ein Heimaufenthalt mindestens sein, um zu langfristigen Erfolgen zu gelangen? Erwartungsgemäß sind die unterschiedlichen Institutionen zunächst generell der Meinung, dass die Mindestdauer für positive Entwicklungen nicht pauschal eingeschätzt werden könne. Die optimale Aufenthaltsdauer sei an die individuellen Voraussetzungen bei den Kindern und Jugendlichen gekoppelt. Dies würde z. B. sehr von den früheren Erlebnissen der jungen Menschen abhängen und davon, ob sie in der Lage seien, positive Entwicklungen zu machen und diese auch zu verfestigen. Der in die Erziehungsarbeit investierten Zeit wird eine positive Bedeutung zugeschrieben, es komme aber auch hier auf den Einzelfall an. Die für einen langfristigen Erfolg erforderliche Mindestaufenthaltsdauer in der Heimerziehung streut dementsprechend im Bereich von sechs Monaten bis hin zu fünf bis sechs Jahren. Die meisten Nennungen bewegten sich im Bereich von zwei Jahren. Diese Zeit werde benötigt, damit sich die Kinder und Jugendlichen 41 uj 1 | 2011 Wirkungen von Heimerziehungen gut auf Rahmenbedingungen, Interventionen und Entwicklungsangebote einlassen können, um dann mit Erfolg entlassen zu werden. Nur einmal wurde„so kurz wie möglich“ angemerkt. Müsse der Aufenthalt sich aber voraussichtlich über mehrere Jahre erstrecken, so sollten besondere Formen der Unterbringung gefunden werden, wie z. B. Klein(st)heime, Wohngruppen oder auch Pflegefamilien. Dies sei natürlich stark vom Alter der Betroffenen sowie von ihren Problemlagen abhängig. Jedem jungen Menschen sollte die Zeit gegeben werden, die notwendig sei, damit diese ihre Störungen reduzierten und Fähigkeiten weiter entwickelten. Die oftmals vorgefundene Ansicht der Fachkräfte, wonach Heimerziehung mindestens zwei Jahre lang andauern solle, damit positive Effekte erzielt würden, stimmt mit den Ergebnissen aus entsprechenden Evaluationsstudien überein: Hilfen zur Erziehung weisen im Durchschnitt erst ab dem zweiten Jahr der Hilfe nachweisbare Erfolge auf, die im dritten Jahr noch weiter ansteigen. Dem widerspricht allerdings die oftmals vorgefundene Praxis, aus Kostengründen von Beginn an festzulegen, Erziehungshilfen schon nach kürzerer Zeit zu beenden (Macsenaere/ Herrmann 2004, 39). Die Realität der Aufenthaltsdauer in der Heimerziehung bietet gegenwärtig folgendes Bild: Im Jahre 2008 wurden 27.473 junge Menschen aus der Stationären Erziehungshilfe entlassen. Ihre durchschnittliche Aufenthaltsdauer lag bei 21 Monaten, also noch etwas kürzer als die für erforderlich gehaltene Mindestdauer von zwei Jahren. Rechnet man die 27 % Kinder und Jugendlichen heraus, welche nur bis zu drei Monaten im Heim verblieben (vermutlich zur Klärung ihrer Lebenssituation und/ oder zur Überbrückung einer akuten Notlage), so wurden weitere 31 % bereits nach einer Aufenthaltsdauer von drei bis zwölf Monaten und insgesamt 42 % nach einer Dauer von bis zu eineinhalb Jahren entlassen. Als Gründe lassen sich jedoch keineswegs nur fiskalische Überlegungen der Kostenträger anführen. Denn in 38 % aller Fälle wurde die Hilfe abweichend vom Hilfeplan bzw. den Beratungszielen vorzeitig abgebrochen, davon zu 60 % auf Veranlassung der Sorgeberechtigten und/ oder den jungen Volljährigen und zu 22 % durch Minderjährige (die Zahlen wurden den Angaben des Statistischen Bundesamts 2010 entnommen bzw. danach berechnet). Rumpf (2009, 28) beklagt daher, „dass die betroffenen Personensorgeberechtigten nur halbherzig die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Hilfemaßnahme mittragen und sie wie auch das der Hilfe bedürftige Kind das Prinzip der Freiwilligkeit überbewerten. Es ist wohl nicht immer gelungen, ihnen zu vermitteln, dass die gleichberechtigte Beteiligung am Kommunikationsprozess über geeignete Hilfen nicht bedeutet, gemeinsam geplante Ziele kurzfristig eigenmächtig zu verändern“. Welche effektiven pädagogischen odertherapeutischen Interventionen kommen in der Praxis zur Anwendung? Ein sehr großer Teil der befragten Personen gab an, externe Kinder- und JugendtherapeutInnen für die anvertrauten jungen Menschen zu beanspruchen. Elemente der Erlebnispädagogik und heilpädagogische Interventionen werden von vielen Einrichtungen eingesetzt. Die tiergestützte Pädagogik, insbesondere die externe Reittherapie, wird von überraschend vielen Einrichtungen genutzt, und besonders bei dieser Therapieform wird auf gute Erfolge hingewiesen. Spiel-/ Musik- und Kunsttherapie wird in einigen wenigen Einrichtungen eingesetzt, ebenso die Ergotherapie. Zum Einsatz kommen in einzelnen Fällen auch die Motopädagogik, die Logopädie, Traumatherapie, Gesprächstherapie, Familienarbeit bzw. -therapie, Methoden der Gewalt- und Suchttherapie bzw. -prävention. Sogar die Psychotherapie wird erwähnt. In diesen Fällen wird auch auf entsprechende Ausbzw. Zusatzausbildungen der Mitarbeite- 42 uj 1 | 2011 Wirkungen von Heimerziehungen rInnen geachtet. Überwiegend wurde uns die Inanspruchnahme von externen ExpertInnen genannt. Gruppenintern wird häufig mit positiver Verstärkung und klaren Tagesstrukturen gearbeitet. Auch Hausaufgabenbetreuung und regelmäßige Ferienfahrten wurden im Zusammenhang der Fragestellung genannt. Tagesstrukturen bzw. Struktur- und Verstärkerpläne, Hausaufgabenbetreuung, Ernährungsberatung, Gespräche, das Zusammensein vor dem Schlafengehen („Zimmerzeit“), die Zusammenarbeit mit Schulen und Vereinen, die Einübung lebensspraktischer Fähigkeiten, Freizeitangebote im Werkraum oder Kinderkeller, Sport, Ausflüge, Angebote zur Entspannung usw. stellen sicherlich keine pädagogischen Methoden im eigentlichen Sinne dar, sondern sind selbstverständliche Bestandteile einer notwendigen Basis. Viele konnten die Fragestellung nach methodischen Interventionen nicht bzw. nicht eindeutig beantworten. Wenn jedoch Methoden nicht klar benannt werden können, dann ist auch deren Praktizierung eher unwahrscheinlich. Die „Theoriefeindlichkeit“ und „Methodenabstinenz“ ist in der Stationären Erziehungshilfe nicht selten anzutreffen. Dies belegen die Ergebnisse einer kürzlich durchgeführten Studie (Günder/ Reidegeld 2010). Was müsste in der Stationären Erziehungshilfe insgesamt verändert werden, damit mehr günstige Entwicklungsverläufe erreicht werden? Die befragten Fachkräfte sehen die Erfolge der Stationären Erziehungshilfe vor allem durch Faktoren begrenzt, die mehr oder weniger direkt mit fehlenden Finanzierungsmöglichkeiten in Zusammenhang stehen. Dies ist der Fall, wenn kleinere Einrichtungen, kleinere, familienähnliche und möglicherweise spezialisierte Gruppen, ein bedeutend besserer Personalschlüssel bzw. mehr und besser qualifiziertes Personal, regelmäßige Supervision, bessere Fortbildungsmöglichkeiten, mehr therapeutische oder methodische Angebote gefordert werden. Aber auch die Forderung nach einem „entspannteren Umgang mit der 18.-Lebensjahr-Grenze“ und nach einer Fortführung der Maßnahmen bis über den Ausbildungsabschluss hinaus gehört in diesen Zusammenhang. Man dürfe Jugendliche wegen Erreichung dieser Altersgrenze nicht einfach auf die Straße setzen und sich selbst überlassen. Der gesetzliche Anspruch auf Jugendhilfeleistungen bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres müsste ernst genommen werden. Sinnvolle Maßnahmen sollten nicht „am wirtschaftlichen Aspekt“ scheitern. Es dürfe in den Einrichtungen auch nicht so viel kaputt und unordentlich sein. Weniger direkt mit der „Ressourcenfrage“ verknüpft und seltener vorgebracht wurden Wünsche nach einer besseren Zusammenarbeit der beteiligten Personen bzw. Institutionen untereinander, um so zu besseren Ergebnissen der Stationären Erziehungshilfe zu kommen. Als relevante Institutionen bzw. Personen wurden Kindergärten, Schulen, ÄrztInnen, TherapeutInnen, Träger der Psychiatrie, das Sozialamt, die Bundesagentur für Arbeit, die Krankenkassen, die Jugendgerichtshilfe genannt. Das Jugendamt sollte früher eingreifen und frühere Entscheidungen treffen, es sollte gegenüber der Stationären Erziehungshilfe weniger Druck ausüben, mehr vor Ort sein und enger und besser kooperieren. Um günstigere Entwicklungsverläufe in der Stationären Erziehungshilfe zu erzielen, sei mehr Zeit und Personal für eine ausreichende Diagnostik und Sorgfalt bei der Heimaufnahme erforderlich. Das deckt sich mit der Forderung, Verlegungen zu vermeiden. Man solle gründlich abklären, welche Einrichtung wirklich helfen könne, statt das Kind hin und her zu schieben. Ein solches Vorgehen könne leicht den Erfolg der Heimerziehung gefährden, weil dem Kind jegliches Vertrauen genommen werde. Kinder könnten auch nicht in El- 43 uj 1 | 2011 Wirkungen von Heimerziehungen ternhäuser zurück, wo sie bedroht worden sind. Als weitere Erfolgsbedingung der Erziehungshilfe galt den Befragten auch der Abbau von Stigmatisierungen. Die Einstellung der LehrerInnen gegenüber den Heimkindern müsse drastisch zum Positiven hin verändert werden. Das Jugendamt müsse sich anders positionieren, weg vom Feindbild hin zu einer Institution der unterstützenden Arbeit für Familien. Die Stationäre Erziehungshilfe als solche solle nicht stigmatisiert werden, sondern als ganz normales „Werkzeug“ der Erziehungshilfe angesehen werden. Resümee ➤ Die große Mehrheit der Interviewten ist der Auffassung, dass die Heimerziehung insgesamt die Entwicklung der anvertrauten jungen Menschen günstig beeinflusse. Vor allem das Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen sowie ihr Sozialverhalten würden davon profitieren. ➤ Die Beziehung zum Elternhaus würde schon durch die räumliche Trennung entspannter und begünstige z. B. den Verselbstständigungsprozess. In den Antworten der Fachkräfte wird eine gewisse Distanz zu den Eltern/ der Elternarbeit sichtbar. ➤ Andererseits wird darauf hingewiesen, dass Verhaltensstörungen der Kinder und Jugendlichen dann gut zu beeinflussen seien, wenn nicht nur diese, sondern auch die Eltern sich aktiv am positiven Veränderungsprozess beteiligten. Gravierende Problemlagen im Elternhaus wie beispielsweise Suchtproblematiken könnten dagegen vom Heim aus kaum positiv angegangen werden. ➤ Die meisten Interviewten halten eine Aufenthaltsdauer von etwa zwei Jahren im Heim für angemessen. Die Praxis zeigt gegenwärtig jedoch ein anderes Bild. Die Aufenthaltsdauer ist teilweise deutlich kürzer, es kommt auch zu Abbrüchen, weil die betroffenen jungen Menschen und ihre Sorgeberechtigten sich nicht mehr an die Vereinbarungen und Ziele der Hilfeplanung halten. ➤ Bis auf die Inanspruchnahme externer ExpertInnen bezüglich pädagogischer oder therapeutischer Interventionen wird in den Antworten relativ wenig über die Anwendung einer methodisch fundierten Praxis in der Gruppe ausgesagt. ➤ Nach Verbesserungsmöglichkeiten in der Stationären Jugendhilfe befragt, äußerten die Interviewten zahlreiche Wünsche, die erkennbar nur durch eine bessere Finanzausstattung zu realisieren wären, wie z. B. erheblich kleinere Gruppen, ein besserer Personalschlüssel, mehr therapeutische Angebote, eine längere Fortführung der Heimerziehung. Andere Vorschläge (wie z. B. eine Verbesserung der Vernetzung der Institutionen, der Abbau von Stigmatisierungen, eine sorgfältige Diagnostik) sind auch unter den gegebenen Bedingungen lohnende Ziele. Prof. Dr. Richard Günder Prof. Dr. Eckart Reidegeld Fachhochschule Dortmund Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften Postfach 105018 44047 Dortmund guender@fh-dortmund.de eckart.reidegeld@fh-dortmund.de 44 uj 1 | 2011 Wirkungen von Heimerziehungen Literatur Adam, M. u. a., 1995: Heimaufenthalt im Rückblick - „Lohnt“ sich Erziehungshilfe im Heim? In: Jugendwohl, 76. Jg., H. 1, S. 19 - 29 Günder, R./ Reidegeld, E., 2010: Professionelles Handeln in der Stationären Erziehungshilfe. In: Unsere Jugend, 62. Jg., H. 1, S. 2 - 11 Hansen, G., 1994: Schaden Erziehungsheime der Persönlichkeitsentwicklung dort lebender Kinder? Eine empirische Untersuchung zur Sozialisation durch Institutionen der öffentlichen Erziehungshilfe. In: Unsere Jugend, 46. Jg., H. 5, S. 221 - 228 Kuhlmann, C., 2009: Wirksamkeit in der Jugendhilfe - Forschungsergebnisse in Bezug auf den Resilienzfaktor „Beziehung“. In: Balz, H.-J. u. a. (Hrsg.): Zukunft der Familienhilfe. Veränderungen und integrative Lösungsansätze. Neukirchen-Vluyn, S. 93 - 101 Macsenaere, M., 2009: (Wirkungs-)Forschung in der Heimerziehung. In: Unsere Jugend, 61. Jg., H. 1, S. 2 - 13 Macsenaere, M./ Herrmann, T., 2004: Klientel, Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung. In: Unsere Jugend, 56. Jg., H. 1, S. 32 - 42 Mascenare, M./ Schemenau, G., 2008: Erfolg und Misserfolg in der Heimerziehung. Ergebnisse und Erfahrungen aus der Evaluation Erzieherischer Hilfen (EVAS). In: Unsere Jugend, 60. Jg., H. 1, S. 26 - 33 Paries, G., 2007: Ohne die Mitwirkung der jungen Menschen geht nichts. In: Knab, E./ Fehrenbacher, R. (Hrsg.): Perspektiven für die Kinder- und Jugendhilfe - von der Heimerziehung zur Vielfalt der erzieherischen Hilfen. Freiburg, S. 400 - 414 Rumpf, J., 2009: Über die sinkende Verweildauer von Kindern in einem Heim - Ursachen, Wirkungen, Konsequenzen. In: Unsere Jugend, 61. Jg., H. 1, S. 26 - 33 Schmidt, M. u. a., 2002: Effekte erzieherischer Hilfen und ihre Hintergründe. Schriften des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Band 219. Stuttgart Statistisches Bundesamt, 2010: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Menschen, Hilfe für junge Volljährige, Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform. Wiesbaden
