eJournals unsere jugend 63/2

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2011.art06d
21
2011
632

Zicken-Kriegerinnen - Mädchen und Gewalt

21
2011
Uli Streib-Brzic
Ob es bedeutsam sei, das Thema Gewalt unter einem geschlechtsdifferenzierten Blick zu betrachten, ob das Phänomen Mädchengewalt besondere Zugänge und Ansätze in der pädagogischen Arbeit erfordert, wird kontrovers diskutiert. Der folgende Artikel reflektiert verschiedene Positionen und bezieht Selbstbeschreibungen gewalttätig handelnder Mädchen mit ein.
4_063_2011_2_0002
50 unsere jugend, 63. Jg., S. 50 - 55 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art06d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Uli Streib-Brzič Dipl.-Soziologin, M. A., Systemische Therapeutin und Beraterin (SG), arbeitet seit über 10 Jahren im gewaltpräventiven Bereich u. a. mit gewaltauffälligen Mädchen und jungen Frauen Zicken-Kriegerinnen - Mädchen und Gewalt Reflexionen über Gewalt-Erzählungen Ob es bedeutsam sei, das Thema Gewalt unter einem geschlechtsdifferenzierten Blick zu betrachten, ob das Phänomen Mädchengewalt besondere Zugänge und Ansätze in der pädagogischen Arbeit erfordert, wird kontrovers diskutiert. Der folgende Artikel reflektiert verschiedene Positionen und bezieht Selbstbeschreibungen gewalttätig handelnder Mädchen mit ein. Gewalt hat kein Geschlecht … Eigentlich sei es doch egal, wer die Gewalt ausübe, für das Opfer sei es doch wohl gleichgültig, ob der Totschläger von einem Mädchen eingesetzt worden sei oder die Faust eines Jungen zum Schlag ausgeholt habe, entgegnen mir zuweilen Pädagoginnen und Pädagogen, wenn ich darüber spreche, dass das Thema Gewalttätigkeit gendersensible Ansätze erfordert, dass es einen geschlechtsdifferenzierten Blick braucht, dass es gut ist, mehrmals hinzuschauen, um zu erfassen, was da gerade geschieht und wie es verhandelt wird. Aber, so entgegnen sie, die Faust, der Schlag ins Gesicht, der gebrochene Kiefer, der Netzhautriss, die Traumatisierung des Opfers, das sei es doch, worum es gehe und wo man hinschauen müsse. Das sei doch das Entscheidende. Und nicht, ob ein Mädchen oder ein Junge die Verletzung verursacht und zugefügt habe. … oder doch? Sei es nicht eher so, dass Mädchen sogar noch mit größerer Brutalität zuschlügen? Das wäre doch in der Presse zu lesen, dass es einen gewaltigen Anstieg bei Mädchengewalt gegeben habe. 1 Das sei auch bei den Jugendlichen, die sie betreuten, wahrzunehmen. Die Mädchen beleidigten sich nicht nur, sie teilten auch heftige Schläge aus, sie, die PädagogInnen, bemerkten eine zunehmende Verrohung in der Sprache und im Umgang miteinander. Diese Position geht von einem Angleichungsprozess zwischen männlichem und weiblichem Gewalthandeln aus, der als „missliche Folge der Emanzipation“ (Popp 2003) beschrieben wird oder alltagssprachlich verkürzt lautet, Mädchen verhielten sich nun neuerdings eben wie Jungs. Im aggressiven Handeln als solchem seien keine Unterschiede mehr festzustellen. Damit werden aus dieser Haltung heraus gewaltpräventive Ansätze, die die Kategorie Geschlecht berücksichtigen, als schlichtweg überflüssig erklärt. 51 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen Feministische Positionen - dekonstruktiv vs. konservierend Eine andere Argumentation, die infrage stellt, ob genderorientierte Herangehensweisen und spezielle Trainingskonzepte für Jungen und Mädchen notwendig und sinnvoll sind, merkt kritisch an, dass geschlechtsdifferenzierte Ansätze eine vermeintliche Eindeutigkeit der Geschlechterrollen oder sogar der festgelegten geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen zugrunde legten. Damit liefen genderorientierte Angebote Gefahr, stereotype Zuweisungen zu reproduzieren anstatt die Vielschichtigkeit, die Zwischentöne, die Verflüssigung von Geschlechterrollen wahrzunehmen (vgl. Gender- Manifest 2006). Auch ältere feministische Positionen tendieren dazu - aus einer patriarchatskritischen Perspektive heraus -, Geschlechterpolaritäten festzuschreiben. Mädchen und junge Frauen werden auf die Rolle als potenzielle Opfer festgelegt, während Jungen und Männer unverrückbar und exklusiv in der Täterrolle gesehen werden, die mit ihrem Gewalthandeln hegemoniale Männlichkeiten (Connell 2006) bestätigen. Es war das Verdienst der feministischen Frauen- und Mädchenarbeit, Gewalt gegen Frauen zum Thema zu machen und Unterstützungs- und Präventionsangebote zu konzipieren, sie zu etablieren und gesellschaftsfähig zu machen. Gewaltprävention für Mädchen und Frauen bedeutete in den 80er Jahren Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungskurse, Workshops, in denen Mädchen und Frauen in geschlechtshomogenen Gruppen Strategien effektiver Selbstverteidigung trainierten. Mädchen und Frauen lernten, selbstbewusster zu agieren, sich durchzusetzen, sich in ihrer Kraft und Stärke zu spüren, und erwarben das Vertrauen, sich selbst in Gefahrensituationen zur Wehr setzen und sich vor Übergriffen körperlicher, verbaler und auch sexualisierter Art auf der Straße, am Arbeitsplatz und in der Partnerschaft schützen zu können. Wenn ich das von uns entwickelte genderorientierte Trainingsprogramm TESYA® (www. tesya.de) vorstelle, das sich an aggressiv auffällige Mädchen und Jungen richtet, kann es sein, dass ich - noch bevor ich beginne - gefragt werde, ob bei uns Mädchen denn lernen würden, „richtig zuzuschlagen“. Offen bleibt, ob es eine Frage ist, die augenzwinkernd gestellt wird, oder eher eine Feststellung, die Zweifel anmeldet, ob es Mädchen überhaupt zuzutrauen sei, dass sie „richtig zuschlagen“, oder ob mitschwingt, ob das, wenn sie es denn täten, angemessen sei. Was ebenfalls in dieser Äußerung zu hören ist, ist ein ungläubiges Staunen oder auch ein Entsetzen darüber, dass das Problem Mädchengewalt offenbar so bedeutsam eingeschätzt wird, dass es notwendig erscheint, eigens ein Angebot für diese Zielgruppe zu entwickeln. Dimensionen aggressiven Handelns Nach wie vor dominieren insbesondere bezogen auf Gewaltkriminalität männliche Täter gegenüber den weiblichen (vgl. PKS 2009; Kreuzer/ Geiger-Battermann 2009). Von Partnergewalt, ganz besonders von sexualisierten Übergriffen, sind weitaus mehr Mädchen und Frauen als Jungen und Männer betroffen (ebd.; s. außerdem Krahé 2003). Mehrere Studien haben bestätigt, dass Frauen und Mädchen zwar ebenso viele aggressive Impulse wie Jungen verspüren - sie möglicherweise sogar noch übertreffen (vgl. Marcus 2009) -; allerdings scheinen Mädchen und Frauen Wut und Ärger anders zu verarbeiten bzw. andere Bewältigungsformen zu wählen. Wenn sie im besten Fall ihre stärker ausgeprägte soziale Kompetenz einsetzen, um das hinter der Wut liegende Bedürfnis konstruktiv, aber klar und deutlich auszudrücken, so halten sich Mädchen und Frauen in einem weitaus größeren Ausmaß jedoch zurück, ordnen sich unter und richten stattdessen ihre Aggressionen gegen 52 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen sich selbst (vgl. Silkenbeumer 2007). Jungen und Männer dagegen agieren aggressive Impulse eher externalisierend aus, indem sie überwiegend nach außen und gegen andere gerichtete, gewalthaltige Strategien einsetzen. Allerdings scheint sich das dichotome Bild des weiblichen Opfers und männlicher Täter allmählich zu verflüssigen. Nicht nur die Tatsache, dass „Opferwiderfahrnisse“ (Reemtsma 1999) von Jungen und Männern zur Sprache gebracht werden, ist in diesem Zusammenhang bedeutsam, zunehmend gerät auch die Täterschaft von Mädchen in den Blick. Ein Mädchen wird nicht mehr ausschließlich als diejenige gesehen, die mehr oder weniger unbehelligt im Hintergrund agiert, Intrigen inszeniert, Gerüchte und Verleumdungen streut und eher verdeckt gewalttätig handelt (vgl. Ittel/ v. Salisch 2005), indem sie ihren Freund bittet, ob er „das mal für sie klarmachen“ könnte, ihn nutzt, indem sie seine Ehre anspricht und seine körperliche Überlegenheit, damit er zuschlägt. Und er es natürlich gern für sie tut, weil er ihre Bewunderung genießt und mit diesem Akt sein Bild als Retter, als Held und sein Verständnis von Männlichkeit bestätigen kann, weil er sie und ihre Ehre gerettet hat. Und die seine im Übrigen auch. Weibliche Gewalttätigkeit, eher als ein Agieren im Hintergrund - auch als „Waffenträgerin“ in der delinquenten Jungenclique (vgl. Campbell 1995) - bzw. als verdecktes Gewalthandeln beschrieben, wird durch die Perspektive auf andere externalisierende, offen-aggressive Handlungsmuster ergänzt. Mädchen selbst formulieren deutlicher und selbstverständlicher, auch physische Gewalt als Macht- und Ausdrucksmittel einzusetzen - und zwar ohne für sich, wie Silkenbeumer und Bruhns beschreiben, ein „offen maskulines Selbstkonzept“ (Bruhns 2003; Silkenbeumer 2007) oder eine „Imitation der Jungen“ (ebd.) zu reklamieren. Einordnungen und Verordnungen Ulrike Popp zufolge werden gewalttätige Aktionen von Mädchen von LehrerInnen, PädagogInnen, Eltern oder Peers eher ignoriert, tendenziell übersehen oder in ihrer Bedeutung heruntergespielt. Dies unterstützt, so Popp, das Bild, das Gewalt als männliches Monopol konstruiert (vgl. Popp 2003). In meiner Praxis begegne ich allerdings eher dem, was u. a. Campbell (1995) und Moffitt (2001) formulieren, nämlich dass aggressives Verhalten bei Mädchen früher und schärfer als bei Jungen sanktioniert wird. Die jugendlichen Mädchen, die an unseren Trainings teilnehmen, werden nicht nur oft bereits wegen ausschließlich - zugegebenerweise heftiger - verbaler Ausfälligkeiten mit einem Training beauflagt, was bei Jungen äußerst selten vorkommt. Die Mädchen berichten überdies häufig, dass ihr - meist älterer - Bruder oder auch ihr Freund der Meinung sei, dass es sich für sie als Mädchen nicht gehöre, sich zu prügeln. Wobei sich im weiteren Gespräch durchaus herausstellen kann, dass er selbst sehr wohl zu einer delinquenten Jugendlichengruppe gehört und auch schon bereits ein paar Anzeigen wegen Körperverletzungen hat. Und nicht selten berichtet sie, dass sie von genau diesem Bruder oder Freund geschlagen wird. Die Forschung zum Thema Mädchengewalt stützt sich bisher auf nur wenige Studien, die Aussagen zu Selbstbildern und Geschlechtsrollenkonstruktionsprozessen formulieren. Es bedarf einer Forschung, die aus einer intersektionalen Perspektive heraus die individuellen und sozialen Bedingungen, die für Mädchen die Verläufe ihrer Gewaltkarrieren (vgl. Sutterlüty 2002) bestimmen, in den Blick nimmt. Vielleicht, so fragt Jody Miller, ist dieses Forschungsthema bisher unterrepräsentiert, weil andernfalls sichtbar würde, dass das Hauptproblem nach wie vor das gewalttätige Verhalten von Männern gegenüber Frauen ist (vgl. Natland 2009). 53 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen Erzählungen Im Folgenden werde ich zwei Mädchen aus meiner Praxis zu Wort kommen lassen. Die Selbstbeschreibungen, die sie formulieren, die Erklärungen, mit denen sie ihr gewalttätiges Handeln unterlegen, zeigen, wie sehr das Thema aggressives Handeln auch für die jugendlichen Gewalttäterinnen selbst mit einer Auseinandersetzung mit Geschlechtsrollenkonstruktionen verbunden ist und wie sie sich in diesem Prozess einer Neudefinition bewegen. Yasemin (Name anonymisiert), 16, sitzt mir beim ersten Vorgespräch gegenüber, sie hat von ihrer Jugendgerichtshelferin empfohlen bekommen, bei uns ein Training zu machen, und hat sich um einen Trainingsplatz beworben. Sie hat eine Anzeige wegen schwerer Körperverletzung. Zusammen mit zwei anderen Freundinnen hat sie ein Mädchen mehrere Stunden lang geschlagen und misshandelt. Wann ihre Gerichtsverhandlung sein wird, weiß sie nicht, aber sie will jedenfalls zeigen, dass sie keine Gewalttäterin ist, dass sie „eigentlich ganz anders“ ist. Ihre großen silbernen Ohrringe klimpern, ihre Augen sind dunkel geschminkt, ihr Lippen leuchten pink. Sie trägt eine weiße Daunenjacke, ihr schwarzes Haar toupiert. Sie kaut auf ihrem Kaugummi herum. Eigentlich sei sie nämlich nicht aggressiv, sagt sie. Sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und zuckt die Schultern. „Wie ich mich selbst sehe? “, fragt sie. „Ich bin auf jeden Fall der Mann unter den Mädels“, antwortet sie, bläst ihren Kaugummi zu einem Ballon auf und lässt ihn platzen. Yasemin gilt in ihrem Kiez als „die Queen“ und war die Anführerin der Dreiergruppe, die den Überfall geplant und durchgeführt hat. Sowohl Kirsten Bruhns wie auch Sidsel Natland haben in ihren Studien festgestellt, dass die Mehrzahl gewalttätiger Mädchen ihr Verhalten nicht als Imitation von„männlichem Verhalten“ gewertet haben möchte oder gar ein maskulines Selbstbild hat (vgl. Bruhns 2003; Silkenbeumer 2007; Natland 2009). Auch Yasemin betont mit ihrem äußeren femininen Erscheinungsbild, dass sie zweifelsohne als Mädchen gesehen und angesprochen werden möchte, gleichwohl sich das Recht herausnimmt, zu entscheiden, welche weiblichen Zuschreibungen sie annimmt und welche sie zurückweist. Auch wenn sie in ihrer Beschreibung auf die Figur männlich konnotierter Dominanz zurückgreift. Anders Carlotta (Name anonymisiert), 15, die sich eher nachlässig kleidet mit ihren weiten Hosen und einem Pullover, der wahrscheinlich im Laufe seines Lebens doppelt so groß geworden ist. Ihre Haare raspelkurz und der Blick düster. Sie spricht während der zehn Trainingstermine, die sie regelmäßig und pünktlich wahrnimmt, keinesfalls mehr als tausend Wörter. Ihr ist es gleichgültig, ob sie für einen Jungen gehalten wird oder nicht. Auch sie ist eine unangefochtene Autorität in ihrem Kiez. Mit ihr war eines der wichtigsten Themen während des Trainings zu entwickeln, wie sie ihre Passion, zu „bestimmen, wo’s langgeht“, ausleben kann, ohne andere in ihren Bedürfnissen zu beschneiden; herauszufinden, wie es gehen könnte, anderen die Entscheidungsmacht zu überlassen, ohne sich als „Loser“ zu fühlen; aber vor allem Raum dafür zu lassen, Ideen zu entwickeln, in welchen Bereichen sie ihre Fähigkeit, den Ton anzugeben und andere zu begeistern, positiv nutzen könnte. Carlotta macht heute, 20, eine Ausbildung zur Automechanikerin. „Mit den Jungs, das geht klar“, erklärt sie und macht deutlich, dass sie sich dort gut behaupten kann, obwohl der Meister zunächst Zweifel angemeldet hatte, ob Carlotta der Arbeitsbelastung gewachsen sei. Yasemin kämpft in der Familie für Geschlechtergerechtigkeit. „Ich bin doch als Mädchen kein Mensch zweiter Klasse“, sagt sie und hält eine - durchaus feministische - Rede darüber, weshalb sie sich vehement dagegen wehrt, zu Hause mehr Hausarbeiten zu erledigen als ihr Bruder. Sie sagt aber auch noch etwas anderes, 54 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen etwas, das zeigt, dass sie weiß, dass es mehr gibt als die Geschlechterdualität männlich - weiblich: „Es ist doch egal, wer ich bin, ob ich ein Mädchen, ein Junge oder ob ich“, sie lacht kurz auf, „ein Zwitter bin“. Was Yasemin und Carlotta gemeinsam haben, ist, dass sie sich vom Klischee des „gewöhnlichen Mädchens“ abgrenzen, indem sie die typisch weiblichen Vorlieben wie „shoppen gehen“ oder Verhaltensweisen wie „vor Spinnen Schiss haben“ (s. auch Valtin 2010) und „über alles reden wollen“ ablehnen. Ob sie damit den Diskurs der Abwertung weiblicher Lebensstile übernehmen, sei dahin gestellt; womit sie jedenfalls beschäftigt sind, ist, eine weibliche Identität für sich zu entwerfen, ein Lebensmodell, das sich für sie stimmig anfühlt und attraktiv ist - unabhängig davon, ob es sich innerhalb und außerhalb vorgefertigter Bilder und Stereotypen befindet. Sie zu einem „Denken ohne Geländer“ (vgl. Arendt) zu ermutigen, sie dabei ein Stück zu begleiten, ist meine Passion. Was Mädchen zu ihrem gewalttätigen Handeln führt, müsste - um gute Präventionsarbeit leisten zu können - dringend präziser erforscht werden. Jane Brown (2005) und Meda Chesney- Lind/ Joane Belknap (2004) fragen, ob weibliches Gewalthandeln nicht auch eine politische Dimension hat, ob Mädchen in ihrem Gewalthandeln - auch wenn es sich vorwiegend bekanntermaßen gegen andere Mädchen richtet - Ärger und Wut auf die patriarchale Kolonialisierung ihrer Körper, ihres Denkens und ihrer Seelen ausdrücken. Ein berechtigter Ärger auf eine Welt, die Mädchen und Frauen abwertet (vgl. Kreuzer 2009, 91). Dass jugendliche Gewalttäterinnen zuweilen selbst ihr eigenes Handeln abwerten und es nicht nur ihrer Umwelt überlassen, Konflikte und Streits von Mädchen lächerlich zu machen, weibliche Ausdrucksformen von Wut und Aggression dem Bereich der Verwahrlosung zuzuordnen oder ihnen psychiatrische Diagnosen zuzuweisen, ist ebenfalls augenfällig. Es sei eigentlich nur ein Zickenkrieg gewesen, sagt Yasemin, als wir die Tat, wegen derer sie ins Training vermittelt wurde, näher beleuchten. Auf meine Nachfrage, was ich mir unter„Zickenkrieg“ vorzustellen habe, erklärt sie, der Streit sei eigentlich „Kinderkram“ gewesen, gar nicht wert, dass man sich dafür schlage. Als ich dann weiterforsche, kommt zutage, dass es sich um einen schmerzhaften Konflikt zwischen Freundinnen handelte, dass es um Loyalität, um Zugehörigkeit und enttäuschtes Vertrauen ging. Ich halte das Wort „Zickenkrieg“ oder auch „Zickenalarm“ für eine im höchsten Maße abwertende Beschreibung von gewalttätigem Handeln von Mädchen, weil sich die SprecherInnen damit anmaßen, entscheiden zu können, ob ein Konflikt es wert war, geführt zu werden oder nicht. Dass die Mittel, mit denen der Konflikt ausgetragen wurde, in den meisten Fällen nicht angemessen gewählt waren, ist keine Frage - ansonsten wären sie ja schließlich nicht im Antigewalttraining -, aber der Anlass und die dahinter liegenden Gefühle müssen, so denke ich, auf jeden Fall respektiert und thematisiert werden, bevor dazu übergegangen werden kann, zusammen mit den Jugendlichen alternative, konstruktive Handlungsoptionen zu erarbeiten. Diese Selbstbeschreibungen der Mädchen können als Hinweise gelesen werden, wie deutlich das Thema Gewalt mit Zuschreibungen von Weiblichkeit und Männlichkeit aufgeladen ist. Sie verweisen darauf, dass es nicht ein bestimmter Typ von Mädchen ist, der gewalttätig agiert, sondern dass unter gewalttätig handelnden Mädchen eine Vielzahl von Identitätsentwürfen zu finden ist. Sie sollen außerdem zeigen, dass in gewalttätigem Handeln der Prozess der Identitätsfindung und der Versuch einer Neudefinition der Geschlechterrollen eine bedeutsame Rolle spielt. Darin, so denke ich, besteht die Herausforderung für PädagogInnen, die mit dieser Zielgruppe der Zicken-Kriegerinnen arbeiten: sie auf diesem Weg, dieser Suche zu begleiten. Und sie anzustacheln, ihre Kraft und Energie dafür einzusetzen, ihr Leben „eigen-mächtig“ und „selbst-verantwortlich“ zu gestalten. 55 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen Anmerkungen 1 Die Medien greifen das Phänomen Mädchengewalt seit einigen Jahren auf mit der Tendenz der Dramatisierung und Überspitzung. Mit Titeln wie „Jung, weiblich, brutal“ (Stern 10/ 2003) oder auch „Von der Rolle“ (Spiegel 25/ 2003) wird einerseits angesprochen, dass weibliche Gewalttätigkeit als Rollenüberschreitung gilt, gleichzeitig wird der Eindruck vermittelt, als habe sich ein Angleichungsprozess bezüglich der von Jungen bzw. der von Mädchen ausgeübten Gewalt vollzogen und weibliche Jugendliche hätten ihren „Aufholungsprozess“, den Heitmeyer bereits 1995 konstatierte, nahezu abgeschlossen. 2 Die im Rahmen der historischen Frauenforschung geführten Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus führten zu einer differenzierten Betrachtung des Opfer-Täter-Schemas. Uli Streib-Brzič Institut für genderorientierte Gewaltprävention Mainzer Straße 45 12053 Berlin streibbrzic@ifgg-berlin.de www.ifgg-berlin.de Literatur Arendt, H., 2008: Denken ohne Geländer: Texte und Briefe. München Baier, D./ Pfeiffer, C./ Simonson, J./ Rabold, S., 2009: Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN. Hannover Bourdieu, P., 2002: Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main Bruhns, K./ Wittmann, S., 2002: „Ich meine, mit Gewalt kannst du dir Respekt verschaffen.“ Mädchen und junge Frauen in gewaltbereiten Jugendgruppen. Opladen Bruhns, K., 2003: Mädchen in gewaltbereiten Jugendgruppen. In: Lamnek, S./ Boatca, M. (Hrsg.): Geschlecht, Gewalt, Gesellschaft. Opladen Campbell, A., 1995: Zornige Frauen, wütende Männer. Geschlecht und Aggression. Frankfurt am Main Connell, R., 2006: Der gemachte Mann: Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Wiesbaden Flaake, K./ King, V., 2003: Weibliche Adoleszenz. Zur Sozialisation junger Frauen. Weinheim Gender-Manifest. Plädoyer für eine kritisch reflektierende Praxis in der genderorientierten Bildung und Beratung. www.gender.de/ mainstreaming/ Gender- Manifest01_2006.pdf Ittel, A./ von Salisch, M., 2005 (Hrsg.): Lügen, lästern, leiden lassen. Stuttgart Krahé, B., 2003: Aggressionen von Männern und Frauen in Partnerschaften. In: Lamnek, S./ Boatca, M. (Hrsg.): Geschlecht, Gewalt, Gesellschaft. Opladen Kreuzer, M./ Geiger-Battermann, B., 2009: Gewalt ist auch weiblich. Bd 2: Analysen, Hintergründe, Interventionen. Schriftenreihe des FB Sozialwesen der Hochschule Niederrhein. Mönchengladbach Lösel, F./ Bliesener, T., 2003: Aggression und Delinquenz unter Jugendlichen. München/ Neuwied Mansel, J./ Hurrelmann, K., 1991: Alltagsstreß bei Jugendlichen. Eine Untersuchung über Lebenschancen, Lebensrisiken und psychosoziale Befindlichkeiten im Statusübergang. Weinheim/ München Natland, S.: Violent girls on friendship, violence and gender - negotiations on feminity as a normative order. In: Kreuzer, M./ Geiger-Battermann, B., 2009: Gewalt ist auch weiblich. Mönchengladbach Popp, U., 2002: Geschlechtersozialisation und schulische Gewalt. Geschlechts-typische Ausdrucksformen und konflikthafte Interaktionen von Schülerinnen und Schülern. Weinheim Popp, U., 2003: Das Ignorieren „weiblicher“ Gewalt als „Strategie“ zur Aufrechterhaltung der sozialen Konstruktion von männlichen Tätern. In: Lamnek, S./ Boatca, M. (Hrsg.): Geschlecht, Gewalt, Gesellschaft. Opladen Silkenbeumer, M., 2007: Biografische Selbstentwürfe und Weiblichkeitskonzepte aggressiver Mädchen und junger Frauen. Münster Sutterlüty, F., 2002: Gewaltkarrieren: Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung. Frankfurt a. M.