eJournals unsere jugend 63/2

unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2011.art09d
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Mädchen in Not

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Eva Sowa
Minderjährige Mütter als soziales Problem in der modernen Gesellschaft. Das ExpertInnen-Netzwerk für Teenagermütter in Nordrhein-Westfalen ist ein innovatives Beispiel, wie Netzwerke vor Ort Teenagermütter in ihrer schwierigen Situation besser betreuen und beraten können.
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74 unsere jugend, 63. Jg., S. 74 - 77 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art09d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Eva Sowa Geschäftsführerin des Landesverbandes der Mütterzentren NRW e. V. Mädchen in Not Minderjährige Mütter als soziales Problem in der modernen Gesellschaft. Das ExpertInnen-Netzwerk für Teenagermütter in Nordrhein-Westfalen ist ein innovatives Beispiel, wie Netzwerke vor Ort Teenagermütter in ihrer schwierigen Situation besser betreuen und beraten können. „Wenn vor 50 Jahren Kinder Kinder bekamen, geschah dies oft heimlich. Das passte nicht in die Vorstellungen der Gesellschaft und war den Familien peinlich. Eine jugendliche Schwangerschaft traf die Mädchen und ihr Umfeld als ein böser Ausrutscher, oft verbunden mit sexuellem Missbrauch und Inzest, selten einmal wegen der großen Liebe“ (Golding 2004, 5). Schlagen wir heute die Zeitung auf oder sehen fern, begegnen wir diesem Phänomen als eine in die Öffentlichkeit gedrängte und vermarktete Sensation. So etwa in der WDR-Sendung „Menschen hautnah“ vom 30.9.2010 - hier wurde über Monate über eine mittlerweile 23 Jahre alte Mutter mit 6 Kindern berichtet - oder bei dem bei RTL II am 24. 8. 2010 gestarteten Sex- Talk „Generation Ahnungslos“. Die Informationsflut in den Medien im Umgang mit Sexualität erzeugt bei vielen Mädchen einen starken Gruppendruck. So werden von vielen die abenteuerlichsten Sexualpraktiken ausprobiert, die mit ihrer seelischen Reife nicht im Einklang zu bringen sind und die oft Konsequenzen für ihren gesamten Lebensentwurf haben. Die Verschiebung der körperlichen Reife in immer jüngere Jahrgänge (bis ab dem neunten Lebensjahr) zeigt, dass mit dem Anstieg der Sexualhormone im Blut in noch sehr jungem Alter die geschlechtsspezifischen Triebimpulse früh erwachen. Die anhaltende Anzahl minderjähriger Mütter bzw. die Abtreibungen in der Gruppe der Minderjährigen „sowie die zunehmende Ausbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten bei Jugendlichen lassen die Vermutung zu, dass sich hinter einer coolen Fassade möglicherweise eine brisante Mischung aus Halbwissen, Neugier, Beziehungssehnsucht und biografischer Verunsicherung verbirgt“ (Gille 2005, 904) - die meisten Mädchen wünschen sich eigentlich nur Liebe und Beziehung, die sie so nicht finden können. Die überwiegende Anzahl von Schwangerschaften ist ungewollt entstanden. Hieraus folgt, dass entweder die Empfängnisverhütung fehlgeschlagen ist oder erst gar nicht verhütet wurde. „Besonders prekär ist das Verhütungsverhalten von Mädchen aus sozial benachteiligten Gruppen und bei Musliminnen sowie beim Verkehr mit Partnern, zu denen keine feste Beziehung besteht, und beim ersten Mal mit einem Partner“ (pro familia 2006, 37). Schwangerschaft unter Minderjährigen tritt am häufigsten bei Hauptschülerinnen auf, was den 75 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen Schluss zulässt, dass die Schulbildung erheblichen Einfluss auf Schwangerschaften bzw. Geburten Minderjähriger hat. Teenagermütter sind häufig arbeitslos oder ohne Ausbildungsplatz, sie haben oft arbeitslose Eltern, und der Kindesvater ist ebenfalls gering qualifiziert. Verlässliche Statistiken, die Auskunft über die tatsächliche Anzahl der Geburten und der Schwangerschaftsabbrüche geben können, fehlen. Es werden nur die Geburten des jeweiligen Jahres erfasst, d. h. die in den Vorjahren gebärenden Minderjährigen werden in den Folgejahren nicht mehr erfasst. Dies erschwert die Arbeit und Planung der Einrichtungen, die mit dieser Zielgruppe arbeiten, enorm. „Ob die persönlichen Erfahrungen in der Pubertät zu einer stabilen weiblichen Identität oder hin zu psychischen Schädigungen führen, hängt nicht zuletzt von der Unterstützung ab, die jungen Mädchen zuteil wird“ (Gille 2005). Dabei geht es darum, mögliche Risiken frühzeitig zu erkennen, um dem betroffenen Mädchen bzw. der Familie, in der es lebt, Hilfe anbieten zu können. Damit dies besser als in der Vergangenheit funktioniert, wurden auf Initiative des Landesverbandes der Mütterzentren NRW e. V. und mit finanzieller Unterstützung des Familienministeriums Nordrhein-Westfalen seit 2004 in mehreren Städten Vereine, Verbände, Beratungseinrichtungen, Ämter und Arztpraxen zu örtlichen ExpertInnen-Netzwerken für Teenagermütter zusammengeschlossen. Sie präsentieren sich unter der Internetadresse www.teenagermuetter.de. So wird zum einen erreicht, dass die vorhandenen Angebote unter den in diesem Bereich tätigen Organisationen bekannt werden, um über diesen Weg den jungen Müttern die für sie passende Betreuung anbieten zu können. Zum anderen bietet das Internetportal den jungen Frauen die Möglichkeit, sich selbst zu informieren. Zusätzlich erhalten die engagierten ExpertInnen die Möglichkeit, Angebotsüberschneidungen zu vermeiden und etwaige Angebotslücken zu füllen. Der größte Vorteil dieser Netzwerke besteht aber darin, dass sich die jeweils handelnden ExpertInnen der einzelnen Organisationen und Verbände persönlich kennen und sie ihre Erfahrungen regelmäßig austauschen. Eine weitere Leistung aus der Sicht der minderjährigen Mütter besteht darin, dass sie „institutionsübergreifende“ Unterstützung erfahren, weil die NetzwerkteilnehmerInnen unbürokratisch und effizient zusammenarbeiten und die Hilfesuchende entsprechend ihrer Bedürfnislage „zielgerichtet“ weitervermitteln. Die Pflege der Internetseiten wird vom Landesverband der Mütterzentren NRW geleistet; dieser ist Ansprechpartner für die Netzwerke und deren Sprachrohr. Die Bekanntheit der Netzwerke, die der Internetauftritt mit sich bringt, sowie dessen innovativer Ansatz führen mittlerweile zu einer bundesweiten Nachfrage. Berufsverbände der ÄrztInnen, GynäkologInnen, Entbindungsstationen von Krankenhäusern, Hebammen, Beratungsstellen, Mutter-Kind- Einrichtungen, Jugendämter u. a. wünschen Informationen. Der Landesverband der Mütterzentren NRW wird zu Rate gezogen und zu Kongressen und Fachveranstaltungen eingeladen. Aktuell bieten 15 örtliche Netzwerke für die Teenagermütter vor Ort Information, Beratung und konkrete Hilfen in folgenden Bereichen: ➤ Schwangerschaft, Geburt und die Zeit danach, ➤ Verhütung, ➤ Finanzen, ➤ Schule und Ausbildung, ➤ Partnerschaft und Wohnen, ➤ Selbsthilfegruppen, Mutter-Kind-Gruppen, ➤ Betreutes Wohnen, ➤ Jugend- und sozialpädagogische Familienhilfe. Auf der Internetseite werden zuerst die Angebote genannt, dann die jeweilige Einrichtung mit Adresse, Telefonnummer, Fax, E-Mail- und Internetadresse. 76 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen Warum sind verbesserte und vernetzte Angebote für junge Schwangere und Teenagermütter notwendig? Im Folgenden einige Erfahrungen und Verbesserungsvorschläge zur Unterstützung der Zielgruppe, wie sie sich aus der Netzwerkarbeit entwickelt haben: ➤ Deutlich ist, dass heutzutage die früher eintretende Geschlechtsreife und die damit verbundenen früheren sexuellen Erfahrungen zu einer immer größeren Lücke zwischen körperlicher Reife und sozialer Reife führen. ➤ In fast jedem Fall ist frühe Schwanger- und Mutterschaft ein belastendes und das Leben veränderndes Ereignis. ➤ Trotz aller Anstrengungen durch Sexualaufklärung, die einen unverzichtbaren Beitrag zur Prävention von Schwangerschaften leistet, zeigt sich, dass diese in der angebotenen Form nur geringen Erfolg hat. Verbesserung ist dringend erforderlich. ➤ Bei einer leichten Abnahme der Geburten bei Minderjährigen ist eine ansteigende Zahl der Abbrüche bei Mädchen unter 15 Jahren zu beobachten. Beratung, Prävention muss hier helfen, die ungewollten Schwangerschaften zu verhindern. ➤ Entscheidung für das Kind nur wegen mangelnder Perspektiven? Hier muss die Gesellschaft Alternativen anbieten, damit die erlebte Belastung gemildert und die Minderjährige befähigt wird, eine eigenständige Entscheidung fallen zu können. Warum ist eine vermehrte Beachtung und Unterstützung von Teenagermüttern notwendig, obwohl die Geburtenzahlen von Minderjährigen in den letzten Jahren in der Summe nicht zunehmen? Die Einbindung in die eigene Familie, in die das neugeborene Kind mit aufgenommen wird, möglichst mit „ehrenvoller Verheiratung“, ist wie vielleicht noch vor einigen Jahrzehnten heute mehrheitlich nicht mehr die übliche Lösung. Tatsächlich sind viele junge Frauen ohne Unterstützung der Ursprungsfamilie auf sich alleine gestellt; 90 % der Kindsväter entziehen sich der - auch für sie - kaum zu bewältigenden Verantwortung. Manchmal können die jungen Frauen die Lebenssituation nicht meistern. In solchen Fällen kann es auch zu extremen Lösungen wie Aussetzen oder Töten des Kindes oder zu einem Selbstmord kommen. Eine hohe Anzahl der minderjährigen Schwangeren kommt bereits aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Sie leben am Rand des Existenzminimums, haben häufig keinen oder nur einen niedrigen Schulabschluss und leiden unter familiären Problemen. Junge Mütter sind stärker als andere Gruppen von Arbeitslosigkeit betroffen oder stehen ohne Ausbildung dar. In dieser Situation ist Unterstützung in Form von Beratung, Problemlösung und Entwicklung von Hilfen zur Selbsthilfe notwendig. Institutionen, die sich diesen Aufgaben widmen, müssen in der Zukunft sowohl politisch als auch finanziell stärker unterstützt werden. Wie positiv sich die Netzwerkarbeit auswirken kann, zeigt ein Beispiel aus Dortmund. Die 15jährige Schwangere N. ist über die „Mädchensprechstunde“ ihrer Gynäkologin in Kontakt mit dem Netzwerk gekommen. Von ihr wurde sie über die weiteren Angebote für schwangere Minderjährige in Dortmund informiert bzw. sofort bei einer angebundenen Schwangerschaftsberatungsstelle angemeldet. N. hat dieses Angebot ernsthaft angenommen, genauso wie die regelmäßige gynäkologische Betreuung bis zur Geburt ihres Kindes. Nach der Geburt besuchte sie bereits mit ihrem vier Wochen alten Baby den Kurs für Teenagermütter in einer Familienbildungsstätte. In dem einmal wöchentlich stattfindenden Kurs, der acht Monate dauerte, wurde über die Mutterrolle und die Bedeutung des Mutter-Kind-Kontakts gesprochen und es wurden Verhaltensregeln eingeübt. Die Gespräche unter den Kursteilnehmerinnen waren für N. sehr wichtig und hilfreich. Zusätzlich besuchte sie das Mütterzentrum, wo sie mit ihrem Kind an dem dort 77 uj 2 | 2011 Mädchen in schwierigen Lebenslagen angebotenen „Offenen Treff“ teilnahm. Nach einjähriger Pause geht N. zur Zeit erneut in ihre Schule. Ihre Mutter unterstützt sie während dieser Zeit, indem sie auf das Kind aufpasst. N. kümmert sich liebevoll um ihr Kind. Außerdem erklärte sich N. bereit, an Veranstaltungen des Netzwerks vor Schulklassen über ihre Erfahrungen zu berichten. Hierzu kam sie mit ihrem Baby und meisterte die bohrenden Fragen mit Bravour. Dieses Beispiel zeigt, dass die Situation von Teenagermüttern verbessert werden kann, wenn die vielerorts vorhandenen Angebote so an die minderjährigen Schwangeren herangetragen werden, dass sie diese auch annehmen können. Sie lernen über diesen Weg unter anderem, einen sicheren Umgang mit ihrer Schwangerschaft aufzubauen bzw. eine positive Haltung ihrem Kind gegenüber zu entwickeln. Die persönliche Leistung dieser Mädchen ist hoch anzurechnen, sie sollte aber auch durch das soziale Umfeld sowie die Gesellschaft - die sich hoffentlich bald zu einer kinderfreundlichen Gesellschaft entwickeln wird - mitgetragen werden. Dr. Eva Sowa Landesverband der Mütterzentren NRW Mütterbüro Hospitalstraße 6 44149 Dortmund info@muetterbuero-nrw.de Literatur BZgA (Hrsg.), o. Jg.: Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen. Forschungsbericht. Köln Golding, C., 2004: Leitfaden „Teenagermütter“. Beratung und Unterstützung in Mütterzentren mit der Intention, Teenagermütter von der Hilfe zur Selbsthilfe zu führen. Hrsg. Vom Landesverband der Mütterzentren NRW e. V. Dortmund Gille, G., 2005: Die psychosexuelle Entwicklung junger Mädchen. In: Frauenarzt, 46. Jg., H. 10, S. 904ff pro familia - Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e. V. (Hrsg.), 2006: Dokumentation der Fachtagung „Jugendliche in der pro familia gefragt? ! “. Frankfurt am Main