eJournals unsere jugend 63/5

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2011.art20d
51
2011
635

Tiergestützte Arbeit in Bildungseinrichtungen des Elementar- und Primarbereichs - eine Möglichkeit der Gewaltprävention?

51
2011
Inge A. Strunz
Tiergestützte Pädagogik eröffnet neue Chancen, um den Abbau von Aggressivität bei Kindern und Jugendlichen und gleichzeitig sozial erwünschtes Verhalten zu fördern. Der folgende Artikel zeigt auf, zu welchen Zielsetzungen sie einen Beitrag leisten kann.
4_063_2011_5_0002
194 unsere jugend, 63. Jg., S. 194 - 202 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art20d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. phil. Inge A. Strunz Dipl.-Pädagogin; aktuell freiberuflich im Bereich der Tiergestützten Pädagogik tätig Tiergestützte Arbeit in Bildungseinrichtungen des Elementar- und Primarbereichs - eine Möglichkeit der Gewaltprävention? Tiergestützte Pädagogik eröffnet neue Chancen, um den Abbau von Aggresivität bei Kindern und Jugendlichen und gleichzeitig sozial erwünschtes Verhaltens zu fördern. Der folgende Artikel zeigt auf, zu welchen Zielsetzungen sie einen Beitrag leisten kann. Aggression und Gewalt bei Kindern und Jugendlichen In der Fachöffentlichkeit gibt es diverse Erklärungsansätze für die Entstehung aggressiven bis gewaltbereiten Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen, die sich gegenseitig ergänzen und überlagern. Gegenwärtig wird insbesondere die These vertreten, dass aggressives Verhalten erlernt und durch das Zusammenspiel von familiären sowie sozialen Faktoren verstärkt oder reduziert wird. Begünstigt wird die Entwicklung aggressiven Verhaltens etwa durch ein restriktives, gewalttätiges Elternhaus, durch negative Sozialkontakte (z. B. Zugehörigkeit zu einer gewaltbereiten Peergroup), durch einen geringen sozioökonomischen Status oder durch gewaltverherrlichenden Medienkonsum, sodass Gewalt durchaus als (vermeintlich adäquates) Konfliktlösungsmittel akzeptiert wird. Aggressives und gewaltbereites Verhalten zeugen insgesamt von einem Mangel an sozialer Kompetenz, was konstruktive Formen der Problem- und Konfliktbewältigung erschwert oder gar unmöglich macht (vgl. Schick 2010). Es entsteht ein Teufelskreis: Kinder und Jugendliche, die häufig ein negatives Sozialverhalten zeigen, werden von Gleichaltrigen eher abgelehnt, sodass sich Freundschaften nur schwer oder gar nicht entwickeln. Willner (1991, zit. n. Petermann 1995, 1017) stellt in einer vergleichenden Studie mit aggressiven und verhaltensunauffälligen Jungen fest: „Aggressive Kinder verbringen weniger Zeit mit interaktiven Spielen, äußern mehr spezifische und feindselige Aggressionen, legen ein egozentrisches Verhalten an den Tag, werden ihrerseits vermehrt aggressiv abgelehnt und zeigen insgesamt weniger positive Verhaltensweisen. Aggressive Kinder gehen seltener auf andere zu, sie kommunizieren mit anderen weniger, hören ihnen weniger zu und gehen auf ihre Fragen nicht ein; dementsprechend werden sie von anderen Jungen eher ignoriert.“ 195 uj 5 | 2011 Tiergestützte Pädagogik Durch einen möglichst frühzeitig einsetzenden Abbau von Risikofaktoren, zu denen beispielsweise der Kontakt zu devianten Gleichaltrigen gezählt wird, können eine beständige Zunahme an weiteren aggressiven Verhaltensweisen sowie damit einhergehende „Etikettierungen“, die das negative Sozialverhalten der verhaltensauffälligen Person zusätzlich verfestigen, reduziert oder sogar vermieden werden (vgl. Petermann 1995, 1023; Schick 2010). Was die Erklärung des Gewalthandelns von Jugendlichen betrifft, verweisen Holtappels und Tillmann (1999) in ihren Studien auf den signifikanten Zusammenhang zwischen Prozessen der sozialen Etikettierung und gewalttätigem Verhalten. „Jugendliche, die in der Schulöffentlichkeit strafenden und stigmatisierenden Behandlungen seitens der Lehrkräfte und der Mitschüler(innen) ausgesetzt sind oder in der Schule eine spürbare Außenseitersituation einnehmen, weisen deutlich höhere Gewaltquoten als andere auf“ (Hotappels/ Tillmann 1999, 1). Diese SchülerInnen nehmen die von ihnen erwarteten Haltungen allmählich in ihr Selbstbild auf. Mit Blick auf die skizzierten Erklärungsansätze für aggressives und gewaltbereites Handeln von Kindern und Jugendlichen nehmen tiergestützte pädagogische Maßnahmen zur Steigerung ihrer sozialen Kompetenz in der gewaltpräventiven Arbeit einen besonderen Stellenwert ein. Training sozialer Kompetenzen durch tiergestützte pädagogische Maßnahmen Kindergärten und Schulen stellen für das Erlernen sozialer Kompetenz ein besonders geeignetes Übungs- und Lernfeld dar. Den Mehrwert von Lernangeboten, die Tiere als Interaktionspartner einbinden, zeigen für den Elementar- und Primarbereich zahlreiche Praxisberichte sowie etliche Studien auf. Sie legen den Schluss nahe, dass durch tiergestützte Intervention auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern förderlich eingewirkt werden kann (unter anderem Ahfeldt 2007; Prothmann 2008; Saskia 2008; Strunz/ Thomas 2010). Ein Beispiel aus der Arbeit einer tiergestützt arbeitenden Frühförderstelle sei nachfolgend angeführt: „Andreas, 5 Jahre alt, fiel im Kindergarten durch unangemessenes, rüpelhaft aggressives Verhalten gegenüber anderen Kindern auf, sodass kein gemeinsames Spiel zustande kam. Gegenüber den Tieren verhielt er sich zunächst recht ängstlich und unsicher. Bereits nach drei Monaten zeigte Andreas aufgrund der tiergestützten Interventionsmaßnahmen in seinem Kindergarten sowie in seinem sozialen Umfeld ein positives Verhalten. Nun gelang nicht nur das gemeinsame Spiel mit anderen Kindern, sondern auftretende Konflikte wurden verbal und nicht mehr einzig und alleine durch Körpereinsatz gelöst.“ (Heymann-Szagun im Interview mit der Autorin) Über ähnlich positive Erfahrungen berichtet die Lehrerin einer jahrgangsgemischten ersten Klasse: „Schwierige pädagogische Situationen konnten durch die Anwesenheit der beiden Meerschweinchen im Klassenzimmer ‚entschärft‘ werden. So beruhigte sich ein Erstklässler, der mit den Klassenkameraden häufig in Konflikt geriet, rasch wieder, wenn er ein Meerschweinchen seiner Wahl auf dem Schoß halten und streicheln durfte.“ (Lindt van Esseling in Strunz 2011, aktuell im Druck) Die Anwesenheit eines Tieres in einer Bildungseinrichtung zieht keine neue erziehungswissenschaftliche Theoriebildung nach sich. Das Tier wird vielmehr als ein interaktives Element in das pädagogische Gesamtkonzept der (vor-)schulischen Bildungseinrichtung integriert (Otterstedt 2007, 356). Tieren wird dabei die Rolle eines „Miterziehers“ zuge- 196 uj 5 | 2011 Tiergestützte Pädagogik schrieben, da sie Kindern und Jugendlichen unter anderem Zuverlässigkeit, Rücksichtnahme, Verzicht, Einfühlungsvermögen, Respekt „abverlangen“ und sie bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben unterstützen. Tiere gehen vorbehaltlos auf Menschen zu, sodass Aussehen, Alter, Kleidung, körperliche Beeinträchtigungen etc. ohne jegliche Bedeutung sind. Tiere wirken durch den verantwortungsvollen und zielorientierten Einsatz der PädagogInnen. Doch welche Chancen eröffnet die Tiergestützte Pädagogik, wenn es um den Abbau von Aggressivität und gleichzeitig um die Förderung sozial erwünschten Verhaltens bei (Vor-)Schulkindern geht? Schwarzkopf und Olbrich (2003, 259) geben folgende Antwort: „Lernen mit Tieren wird … bei der Desensibilisierung unerwünschter Verhaltensweisen eingesetzt, bei der Anleitung zu kognitiver Umbewertung, beim Erwerb neuer, erwünschter Verhaltensweisen, beim Training von sozialen Kompetenzen und nicht zuletzt bei Entspannungsverfahren in einem therapeutischen Sinne.“ Tiergestütztes Verhaltenstraining für aggressive Kinder In Anlehnung an Petermann/ Petermann (1995, 1023) sollen die von ihnen benannten Ziele des Verhaltenstrainings für aggressive Kinder mit Maßnahmen der Tiergestützten Pädagogik verbunden werden. Als Zielsetzungen geben sie an: ➤ motorische Ruhe und Entspannung, ➤ differenzierte Fremd- und Selbstwahrnehmung, ➤ angemessene Selbstbehauptung, ➤ Kooperation und Hilfeverhalten, ➤ Handlungssteuerung, ➤ positives Einfühlungsvermögen. Motorische Ruhe und Entspannung Zahlreiche humanmedizinische Studien, die in der Fachwelt große Akzeptanz finden, sprechen für eine positive Wirkung von Heimtieren auf den Menschen. Die meisten dieser Unter- Abb. 1: Tiergestützte Frühförderung auf dem Nebelhof (Foto: Heymann-Szagun 2010) 197 uj 5 | 2011 Tiergestützte Pädagogik suchungen wurden im Rahmen des therapeutischen Einsatzes von Tieren (z. B. Hunde, Kaninchen, Katzen) in Kliniken, Behinderteneinrichtungen, Altenheimen oder psychologischen Praxen durchgeführt. Die Tiere werden dabei als Co-Therapeuten gesehen und u. a. besonders erfolgreich eingesetzt bei Hyperaktiven, bei nicht-kommunikativen Personen sowie auch bei Personen mit neurologischer/ motorischer Dysfunktion. Turner (2008, 6) nennt folgende Wirkeffekte von Hund und Katze auf Erwachsene: Senkung von Blutdruck und Pulsrate, wenn die Tiere gestreichelt werden; weniger Klagen über Gesundheitsprobleme (die Besuchsfrequenz beim Hausarzt nimmt ab); erhöhte Lebensqualität; reduzierte Gefühle von Einsamkeit, Depression und Angst. „Die Kindergartenkinder haben die Kaninchen regelrecht bestürmt, mit denen ich heute zu ihnen kam. Alle wollten ins aufgebaute Gehege zum Streicheln. … Den Erzieherinnen fiel ganz besonders ein Junge auf, der erst seit zwei Wochen den Kindergarten besucht. Er ist oft sehr unruhig und weint viel. Sie sahen erstaunt, wie ruhig er war und ganz entspannt ein Kaninchen streichelte. Besonders die Erzieherin, die selbst Angst vor diesen Tieren hat (und gar nicht unbedingt wollte, dass ich damit komme), fand das sehr erstaunlich.“ (Ahfeldt im Interview mit der Autorin) Die ansprechende Gestaltung des Lernorts, an dem Kinder und Jugendliche tagtäglich viele Stunden verbringen, ist ein bedeutsamer Faktor, der sich auf die „Lust auf Schule“ auswirkt (vgl. Schirp 2006, 117). Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Hirnforschung weisen auf die grundlegende Bedeutung von Emotionen für kognitive Prozesse hin. Spitzer (2006, 28) zieht daher den Schluss: „Wenn wir wollen, dass unsere Kinder und Jugendlichen in der Schule für das Leben lernen, dann muss eines in der Schule stimmen: die emotionale Atmosphäre beim Lernen.“ Lehrkräfte, die an ihrer Schule ein Tierhaus einrichten, tun dies, um einen Ort mit anheimelnder Atmosphäre zu schaffen, an welchem die Kinder aufgefangen werden und zur Ruhe kommen können (vgl. Strunz 2011). Voraussetzung für dieses Erleben ist der Aufbau einer positiven Beziehung zum Tier, was jedoch nur gelingen kann, wenn Kinder und Jugendliche lernen, sich gegenüber dem Tier/ den Tieren angemessen zu verhalten und mit ihm/ ihnen achtsam umzugehen. Impulsivität sowie ungestümes, lautes Verhalten wird die meisten Tiere eher zur Flucht veranlassen. Das Tier selbst ist damit Korrektiv des problematischen kindlichen Verhaltens. Differenzierte Fremd- und Selbstwahrnehmung „Wir regen die Kinder aber auch zum Beobachten an: ‚Guck mal! Warum kommt dieses Huhn denn nicht? ’ Unsere Erzieherin hat ein Talent, selbst auf Kleinigkeiten hinzuweisen: ‚Sagt mal, die Hühner, haben die eigentlich Ohren? Wo sind denn die Ohren? Die wollen wir mal suchen! ’ “ (Muhs in Strunz 2011, aktuell im Druck) In der intensiven Beschäftigung mit dem Tier/ den Tieren kann die Wahrnehmung auf bestimmte Dinge gelenkt werden, z. B. kann das Kind die Körpersprache des Tieres „lesen“ lernen oder das Sozialverhalten einer Tierfamilie beobachten. In der praktischen Arbeit zeigt es sich, dass aggressive Kinder sich in der Interaktion mit Tieren oft unsicher und ängstlich zeigen. Erst allmählich, durch die behutsame Annäherung an das Tier und das Erlernen des Umgangs mit ihm - wozu auch gehört, dessen Verhaltensrepertoire deuten zu können -, entwickeln diese Kinder mehr Selbstvertrauen. Zunehmend sind sie dann offensichtlich in der Lage, die gemachten Erfahrungen auf den zwischenmenschlichen Bereich zu übertragen, wie Eltern und ErzieherInnen der Kinder rückmelden (vgl. Saskia 2008, 74f; Strunz/ Thomas 2010). 198 uj 5 | 2011 Tiergestützte Pädagogik Selbst Tiere, denen man sich nicht nach Belieben nähern kann, um sie zu streicheln (z. B. Vögel), eignen sich für die Anregung solcher Lernprozesse. Durch gezielte Lenkung der Wahrnehmung (z. B. konzentriertes Hinhören, behutsames Abtasten, aufmerksames Beobachten, bewusstes „Erschnuppern“) entdecken Kinder und Jugendliche häufig bislang nicht Wahrgenommenes. Im pädagogisch gelenkten Kontakt mit Tieren kann die Selbstaufmerksamkeit erhöht werden. Der Vergleich von „Mensch und Tier“ liefert Informationen über den eigenen Körper, über artspezifische Verhaltensweisen und (auch über begrenzte menschliche) Fähigkeiten. So entwickelt sich allmählich ein realistisches Bild von den eigenen Stärken und Schwächen (vgl. Schwarzkopf/ Olbrich 2003, 264). „Formen verzerrter Wahrnehmung von sich selbst, von anderen, von Situationen, zum Beispiel bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten, können im Kontakt mit dem Tier deutlich werden und in einem behutsam unterstützenden Prozess unter Umständen korrigiert werden“ (Vernooij/ Schneider 2008, 113). Angemessene Selbstbehauptung „Annika, 5 Jahre alt, war ein sehr ängstliches Kind und traute sich wenig zu. Zu Beginn der tiergestützten Interventionsmaßnahmen führte sie Tiere (Hund und Pony) nur an der ‚langen Leine‘ spazieren, d. h. sie übernahm die Führung dieser Tiere nicht. Schritt für Schritt lernte sie schließlich, sich den Tieren gegenüber zu positionieren, was für sie zugleich ein Erfolgserlebnis war. Nun kann Annika die Tiere eng neben sich durch den Parcours führen.“ (Heymann-Szagun im Interview mit der Autorin) Im Umgang mit Tieren werden nicht nur Rücksichtnahme und Empathie geübt, sondern es können auch sozial angemessene Formen der Selbstbehauptung erlernt werden. Vermutlich lässt sich das in der Interaktion mit dem Tier Gelernte auf andere Situationen übertragen, etwa wenn es darum geht, die eigene Position in einer angemessenen Weise zu vertreten. Anstöße zur Reflexion des eigenen Verhaltens gegenüber Mitlebewesen können diesen Lernprozess positiv unterstützen. Kooperation und Hilfeverhalten „Der 14 Jahre alte Manuel, er ist auf einem Auge erblindet, macht begeistert bei der Tier-AG mit, denn er verfügt über Bärenkräfte und fühlt sich oftmals nicht genügend ausgelastet. Jeden Donnerstag holt er den Leiterwagen aus dem Keller und fährt den ganzen Stallmist zum nahegelegenen Misthaufen. Aus eigener Initiative repariert er zudem den Zaun, schlägt Eis im Abb. 2: Beobachten - um eine Beziehung aufzubauen (Foto: Muhs 2010) 199 uj 5 | 2011 Tiergestützte Pädagogik Winter weg, holt Heu und Stroh aus der Garage und repariert kaputte Lampen im Unterstand. Mit den Tieren geht er sehr sanft um und stopft verschwenderisch viel Stroh in ihre Ställe, damit ja keines friert. Für seinen Arbeitseinsatz erfährt er sehr viel Anerkennung in der Gruppe.“ (Ahfeldt in Strunz 2011, aktuell im Druck) Durch den zielorientierten Einsatz von Tieren im pädagogischen Arbeitsfeld werden Heranwachsende zwar auch in ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit gefördert, vor allem aber ist Raum für soziale und emotionale Lernprozesse gegeben. Hier liegt der Wirkungsbereich der tiergestützten pädagogischen Arbeit, da durch den Umgang mit Tieren der Erwerb von Basiskompetenzen unterstützt und kooperative sowie kommunikative Prozesse in Gruppen gefördert werden können (vgl. Vernooij/ Schneider 2008, 109ff ). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Betreuung und Versorgung der Tiere gemeinschaftlich in kleinen Teams geleistet wird. Ideen, Kreativität, Teamarbeit und Durchhaltevermögen sind gefragt, um (möglichst erfolgreiche) Bewältigungsstrategien für die sich stellenden Aufgaben gemeinsam zu entwickeln. Dabei ergeben sich unzählige Möglichkeiten der positiven Verstärkung erwünschter Verhaltensweisen, und die Gemeinschaft unterstützt in hohem Maße das Lernen am Modell. Die Um- und Ausgestaltung einer Schule zu einem Lebensraum für Menschen und Tiere (z. B. wenn ein Tierhaus oder -gehege eingerichtet wird) ist eine Aufgabe, an der sich Jugendliche, aber auch schon kleine Kinder rege beteiligen können. Wahl- und Neigungsangebote sowie die Durchführung von Projekten, „die praktisches Handeln und soziale Erfahrungen, authentische Begegnungen und Ernstsituationen ermöglichen“ (Holtappels/ Tillmann 1999), sind wesentliche Ansatzpunkte, um schulische Risikofaktoren für aggressives und gewalttätiges Verhalten zu minimieren. Partizipation vermittelt Kindern und Jugendlichen die Erfahrung, gebraucht zu werden („Du gehörst zu uns! Wir brauchen dich! “), und fördert die Identifikation mit der Schule (vgl. Otterstedt 2007, 359). Das gemeinsame, generationenübergreifende Bemühen von Erwachsenen (Lehrkräften, Eltern, externen Fachkräften etc.) und Kindern bei solchen Projekten bietet die Chance, Wissen und praktisches Können einzubringen, aktiv mitzuarbeiten und für die Schulgemeinschaft nützlich zu sein. Handlungssteuerung Durch den pädagogischen Einsatz von Tieren stehen Kinder und Jugendliche vor neuen Herausforderungen. Es wird die Möglichkeit geboten, schwierige Situationen oder bislang unbekannte Aufgaben, deren Bewältigung eine gewisse Planung und (Selbst-)Kontrolle erforderlich macht, zu meistern. „Es geht nicht nur um die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen, sondern vor allen Dingen darum, sich ein Ziel zu setzen und dieses schließlich zu erreichen. Die tiergestützten Outdoor-Aktivitäten, wie Wanderungen in Begleitung der Ponys oder das Führen eines Esels durch einen eigens von den Kindern erstellten Parcours, entsprechen nicht den Alltagserfahrungen unserer Schüler, weshalb den meisten von ihnen die zu bewältigenden Aufgaben zunächst als körperlich viel zu anstrengend und damit nicht bewältigbar erscheinen.“ (Geiselhart/ Krause in Strunz 2011, aktuell im Druck) Nach Petermann/ Petermann (1995, 1023) unterstützen Selbstinstruktionsverfahren (z. B. „Ruhig Blut, dann geht alles gut! “) die Handlungs- und Impulskontrolle und damit die Selbstregulation des Kindes. Es handelt sich dabei um die Fähigkeit, das eigene Verhalten gegenüber der Umwelt willentlich steuern zu können und damit die Basis für ein gelingendes Sozialleben zu legen. Lernangebote mit Tieren ermöglichen es, dass die dafür notwendigen personellen Kompetenzen„ganz beiläufig“ trainiert und erprobt werden. 200 uj 5 | 2011 Tiergestützte Pädagogik Positives Einfühlungsvermögen „Im Bauernhof-Kindergarten leiten erfahrene Erzieherinnen die Kinder zu einem friedvollen Miteinander sowie zu einem rücksichtsvollen Umgang von Mensch und Tier an. Das Kind entwickelt so allmählich für das Mitgeschöpf Tier ein ‚Gespür‘. Es lernt mit der Zeit, behutsamer mit anderen Lebewesen umzugehen. Was darf ich? Was darf ich nicht? Und ich denke, dass die Kinder nicht nur empathiefähig werden, sondern zugleich eine enorme Sozialkompetenz entwickeln.“ (Muhs in Strunz 2011, aktuell im Druck) Für die Entwicklung einer emotionalen Bindung zu einem Tier sollte über einen längeren Zeitraum hinweg die Möglichkeit gegeben sein, einen persönlichen Bezug aufbauen zu können. Im Kontakt mit dem Tier werden sozial-emotionale Lernprozesse angeregt und die Entwicklung der emotionalen Intelligenz wird gefördert, was wiederum die Bereitschaft zu weiterem Handeln (z. B. Übernahme von Verantwortung bei der Versorgung und Pflege von Tieren, Mitarbeit bei Tierschutzprojekten) weckt. „Erfahrungen von Bindung und Vertrauen, von Zuverlässigkeit und Zuneigung im Umgang mit Tieren können wertvolle Hilfen auch für zwischenmenschliche Beziehungen sein“ (Vernooij/ Schneider 2008, 25). Voraussetzungen für die Arbeit mit Tieren Es ist nicht einfach, an dieser Stelle allgemein gültige Ratschläge für die tiergestützte Arbeit in Bildungsinstitutionen zu geben, da bereits die Auswahl des Tieres/ der Tiere von Faktoren wie räumliche Lage der Bildungsinstitution, Zielgruppe (jüngere Kinder/ Jugendliche mit oder ohne Behinderung), artgerechte Haltungsmöglichkeit, finanzielle Situation‚ Vorhandensein von Personen mit einer Zusatzausbildung in der tiergestützten Pädagogik/ Therapie abhängt. Was den Einsatz eines Tieres für pädagogische/ therapeutische Zwecke betrifft, so wird in der einschlägigen Literatur (u. a. John 2007; Otterstedt 2007) darauf hingewiesen, dass ➤ das Tierschutzgesetz zu beachten ist, ➤ die Tiere artgerecht zu halten sind, ➤ Versicherungsfragen geklärt sein müssen, ➤ eventuell vom Tierhalter ein Sachkundenachweis zu erbringen ist, ➤ Hygienebestimmungen einzuhalten sind, ➤ gesunde Tiere eingesetzt werden (Bescheinigung des zuständigen Veterinäramtes/ Tierarztes), ➤ nur Tiere, die für diesen Einsatz trainiert wurden und sich von ihrem Wesen her dafür eignen, eingesetzt werden. Möglichkeiten und Grenzen tiergestützter gewaltpräventiver Arbeit Tiergestützte pädagogische Arbeit kann in der vorschulischen und schulischen Erziehung zum Abbau aggressiven oder gewaltbereiten Verhaltens bzw. zur Förderung sozialer Kompetenzen gewinnbringend eingesetzt werden. Kinder nehmen bereits ab dem 4. Lebensjahr von sich aus spielerisch Kontakt zu Tieren auf und versuchen, eine Beziehung zum Tier aufzubauen (Zemanek 1992, 4). Doch nicht alle Kinder entwickeln positive emotionale Bindungen zu Tieren beziehungsweise können die damit verbundenen Gefühle angemessen zum Ausdruck bringen (vgl. Meves/ Illies 1981, 72; Gebhard 1994, 100). Teutsch (1980, 435ff ) weist auf das Problem der vorsätzlichen (bewussten) Aggressivität von Kindern gegenüber Tieren hin. Diese Verhaltensweisen begrenzen den Einsatz von Tieren oder sie erfordern besondere Aufmerksamkeit, Begleitung und Anleitung durch PädagogInnen oder TherapeutInnen. „Also, gerade auch Integrationskinder sind schwierig. Die drehen mit ihren Gefühlen zum Teil völlig durch, und dann ist es wirklich wichtig, dass ein Erwachsener mit dabei ist. Wir lassen die Kinder nicht alleine in den Stall rein, sondern wir schauen, dass wenigstens ein Praktikant mit dabei ist oder eine Mutter, ein Vater, je nachdem … 201 uj 5 | 2011 Tiergestützte Pädagogik Es gibt wirklich viele Kinder, die denken: ‚Das kleine Meerschweinchen, das kann ich ja mal hochnehmen.’ Und dann lassen sie es runterfallen. Also das ist auch schon vorgekommen und da bedarf es eben wirklich immer einer ganz konsequenten Begleitung und immer wieder dem Beibringen der Regeln: ‚Was brauchen Tiere? Tiere sind Lebewesen! Euch tut das auch weh, wenn man mit euch so umgeht.’ Und das ist für manche Kinder zum Teil nicht ganz einfach nachzuvollziehen.“ (Leiterin eines Bauernhof-Kindergartens im Interview mit der Autorin) Der Aufbau einer dauerhaften Beziehung zu einem Tier und der achtsame Umgang mit ihm ist für viele Heranwachsende heute keine Selbstverständlichkeit, denn viele Familien entscheiden sich gegen ein Tier. Ein entsprechendes Vorwissen kann nicht vorausgesetzt werden. Kinder müssen daher erst zu einem angemessenen Umgang mit einem Tier angeleitet werden (vgl. Meves/ Illies 1981, 72). Im Einzelfall verhindern Allergien oder eine unüberwindbare Abneigung gegenüber bestimmten Tieren deren pädagogischen Einbezug. Nicht jede Form von destruktiver Aggression kann aus Kindergarten und Schule - auch nicht durch tiergestützte Interventionsmaßnahmen - verbannt werden. Ein solches Lernangebot erweitert jedoch die präventive Arbeit an Bildungseinrichtungen sinnvoll, da es die positive Persönlichkeitsentwicklung der Heranwachsenden wirkungsvoll unterstützt. Die positiven Effekte der Mensch-Tier-Interaktion sollen zusammenfassend in Abbildung 3 dargestellt werden. Wegen der begrenzten Handlungsmöglichkeiten der in (vor-)schulischen Bildungseinrichtungen tätigen PädagogInnen (vgl. Holtappels/ Tillmann 1999) benötigen Kindergärten und Schulen die Unterstützung außerschulischer Partner. Im Fall der tiergestützten Arbeit bieten sich perspektivisch Kooperationsprojekte mit dem örtlichenTierheim oder mitTierschutzorganisationen an, die sich in der Praxis bereits bewährt haben. Dr. Inge A. Strunz Ludisreute 4 88263 Horgenzell pae-ti@web.de www.pae-ti.de Abb. 3: Effekte der Mensch-Tier-Interaktion (Strunz 2010) Entwicklung von Selbstwertgefühl Entwicklung von Selbstbewusstsein Steigerung der Fertigkeit zum „Lesen-Können“ des Gegenübers Entwicklung von Einfühlungsvermögen Entwicklung von Verantwortungsbewusstsein für sich/ Mitlebewesen Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstregulation Entwicklung von Selbstsicherheit Verbesserung der Selbstwahrnehmung Effekte der Mensch-Tier- Interaktion 202 uj 5 | 2011 Tiergestützte Pädagogik Literatur Ahfeldt, U., 2007: Tiergestützte Pädagogik im Hör- Sprachzentrum Wilhelmsdorf. In: Tiergestützte Therapie, Pädagogik & Fördermaßnahmen, 2. Jg., H. 1, S. 24 - 26 Gebhard, U., 1994: Kind und Natur. Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung. Opladen Heymann-Szagun, E., 2010: Unveröffentlichte Fallbeispiele aus der Tiergestützten Therapie und Frühförderung mit Tieren auf dem Nebel-Hof in Riedetsweiler. www.nebel-hof.de, 23. 12. 2010, ohne Seitenangabe Holtappels, G./ Tillmann, K.-J., 1999: Was tun mit dem „harten Kern“ von Schülern, der zuschlägt? Gewalt in der Schule: Über Ursachen und vorbeugende Möglichkeiten. In: Frankfurter Rundschau, 1. 2. 1999. www.hasi.s.bw.schule.de/ lehr25a.htm, 23. 12. 2010, 1 Seite Hurrelmann, K./ Andresen, S., 2007: Kinder in Deutschland 2007: 1. World Vision Kinderstudie. Frankfurt am Main John, J., 2001: Tierrecht. Dresden Meves, C./ Illies, J., 1981: Geliebte Gefährten. Tiere als Hausgenossen und Miterzieher. Freiburg Oerter, R./ Montada, L., 3 1995: Entwicklungspsychologie. Weinheim Otterstedt, C., 2007: Mensch und Tier im Dialog. Kommunikation und artgerechter Umgang mit Haus- und Nutztieren. Methoden der tiergestützten Arbeit und Therapie. Stuttgart Petermann, F., 3 1995: Aggressives Verhalten. In: Oerter, R./ Montada, L.: Entwicklungspsychologie. Weinheim Pollack, U., 2009: Tiere in der Stadt. Die städtische Mensch-Tier-Beziehung. Ambivalenzen, Chancen und Risiken. Berlin Prothmann, A., 2 2008: Tiergestützte Kinderpsychotherapie. Theorie und Praxis der tiergestützten Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen. Frankfurt am Main Saskia, H., 2008: Tiergestützte Pädagogik und ADHS. Nutzenanalyse eines sozialpädagogischen Projekts mit Kleintieren, Schafen und Ponys. Saarbrücken Schick, A., 2004: Faustlos durch den Kindergarten. In: Textor, M. R.: Kindergartenpädagogik. Online-Handbuch. www.kindergartenpaedagogik.de/ 1137.html, 20. 12. 2010, ohne Seitenangabe Schirp, H., 4 2006: Neurowissenschaften und Lernen. Was können neurobiologische Forschungsergebnisse zur Weiterentwicklung von Lehr- und Lernprozessen beitragen? In: Caspary, R. u. a.: Lernen und Gehirn. Der Weg zu einer neuen Pädagogik. Freiburg im Breisgau Schwarzkopf, A./ Olbrich, E., 2003: Lernen mit Tieren. In: Olbrich, E./ Otterstedt, C. (Hrsg.): Menschen brauchen Tiere. Grundlagen und Praxis der tiergestützten Pädagogik und Therapie. Stuttgart Spitzer, M., 4 2006: Medizin für die Schule. Plädoyer für eine evidenzbasierte Pädagogik. In: Caspary, R. u. a.: Lernen und Gehirn. Der Weg zu einer neuen Pädagogik. Freiburg im Breisgau Strunz, I. (Hrsg.), 2011: Praxisfelder Tiergestützter Pädagogik. Baltmannsweiler (im Druck) Strunz, I./ Thomas, S., 2010: Animal-Supported Environmental Education in a German-English Zoo Preschool. In: Kersten, K./ Rohde, A./ Schelletter, C./ Steinlen, A. K (Hrsg.): Bilingual Preschools, Volume I: Learning and Development. Trier Teutsch, G. M., 1980: Kinder und Tiere. Von der Erziehung zum mitgeschöpflichen Verhalten. In: Unsere Jugend, 32. Jg., H. 10, S. 435 - 442 Turner, D. C., 2008: Tiergestützte Therapie/ Pädagogik. In: Lukashaus Grabs (Hrsg.): Tiergestützte Pädagogik und Therapie. Dokumentation der Fachtagung vom 19. 9. 2008. Grabs Vernooij, M. A./ Schneider, S., 2008: Handbuch der tiergestützten Intervention. Grundlage, Konzepte, Praxisfelder. Wiebelsheim Zemanek, M., 1992: Psychologische Perspektiven der Mensch-Tier-Beziehung. Wien