eJournals unsere jugend 63/5

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2011.art23d
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Zu Hause im Heim

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2011
Alexander Felsenthal
Die öffentliche Diskussion um Missstände in den Heimen der Bundesrepublik mit dem Schwerpunkt 50er und 60er Jahre wird sehr pauschal geführt. Inzwischen ist deutlich geworden, dass Veränderungen in den Erziehungsvorstellungen erst ab den späten 70er Jahren einsetzten. Dies zeigt auch das Beispiel Godesheim, in dem ich über vier Jahre meiner Kindheit verbracht habe.
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217 unsere jugend, 63. Jg., S. 217 - 224 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art23d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Alexander Felsenthal Jg. 1967; universitäre Ausbildung als Literaturwissenschaftler und Politologe, aktuelle Tätigkeit als Kultur- Journalist und Lehrer in der Erwachsenenbildung Zu Hause im Heim Anmerkungen zum öffentlichen Umgang mit einem persönlichen Thema Die öffentliche Diskussion um Missstände in den Heimen der Bundesrepublik mit dem Schwerpunkt 50er und 60er Jahre wird sehr pauschal geführt. Inzwischen ist deutlich geworden, dass Veränderungen in den Erziehungsvorstellungen erst ab den späten 70er Jahren einsetzten. Dies zeigt auch das Beispiel Godesheim, in dem ich über vier Jahre meiner Kindheit verbracht habe. „Heim“ als mediales Ereignis und Untersuchungsgegenstand Über die Situation in den Heimen der alten Bundesrepublik ist seit ihrer Politisierung (Moser 1970) selten so umfangreich geschrieben und gestritten worden wie in den letzten drei Jahren. In Petitionen, die es bis in die Gremien des Bundestags hinein schafften, und an „Runden Tischen“ befassten sich Betroffene, RechtsanwältInnen und pädagogische Fachleute mit den Spätfolgen. Zentrales Anliegen war die Sichtbarmachung von entwürdigenden Zuständen in christlichen und anderen Heimen für Kinder und Jugendliche, die bis vor Kurzem nicht darauf hoffen konnten, einen Platz in den deutschen Erinnerungsverhandlungen einzunehmen. Inzwischen wird die Diskussion mit einer Rhetorik geführt, die an die späten 1990er Jahre anschließt, in denen das Schicksal von Überlebenden der deutschen Konzentrationslager und von Zwangsarbeit eine sensibilisierte Öffentlichkeit bewegte. Um den Grad der Aufmerksamkeit und die Chancen auf „Sühne“ oder sogar „Entschädigung“ zu erhöhen, nennen sich einschlägige Websites beispielsweise www.heimkinder-ueberlebende.org. Zusätzlich wird durch Aufforderungen wie aus „der Geschichte zu lernen“ und mit Bezug auf Ralph Giordanos Begriff der„Zweiten Schuld“ der Eindruck erweckt, dass beim Thema Heim Rückfälle in die Zeiten der „Schwarzen Pädagogik“ zu befürchten seien. Analogien zum Nationalsozialismus und seiner Aufarbeitung sind nicht nur unhaltbar und unerträglich, sie verstellen auch den Blick auf die personellen und strukturellen Kontinuitäten in den Institutionen nach 1945, die für den Bereich Heim erst einmal genauer erforscht werden müssten und sollten (Freundeskreis 2007; Günther-Greene 2009). Im Zusammenhang mit den Verhandlungen am „Runden Tisch Heimerziehung“ wurde zunächst ein„Abstandsgebot“ zu der Zahlung von 4,4 Milliarden Euro an die NS-ZwangsarbeiterInnen zwischen 2002 und 2007 eingefordert. 218 uj 5 | 2011 Aufwachsen im Heim Daraus ergäben sich nach Erhebungen des „Vereins ehemaliger Heimkinder“ Ansprüche von insgesamt 25 Milliarden (Bingender 2010). Allerdings waren die Aussichten auf Zahlungen in solcher Höhe nicht nur wegen der diversen Finanzkrisen von Beginn an eher trübe, und der Bezug auf das „Opferentschädigungsgesetz“ (1976) scheint nicht generell möglich (Giordano-Bruno-Stiftung 2010). Als besonders hinderlich für die Durchsetzung sogenannter Entschädigungen erwies sich die juristische Tatsache aus dem Jahr 2009, dass „Runde Tische“ freiwillige Einrichtungen sind, deren Mitglieder keine Ansprüche geltend machen können. Bei aller Verrechtlichung von Opferansprüchen: Ehemaligen Heimkindern war und ist vor allem daran gelegen, über Blogs und diverse, auch von den Trägern der Heime geführte Internet-Foren in einen Austausch über das Erlebte zu treten: Es geht um die Anerkennung und Verarbeitung von Traumata durch„seelische und körperliche“ Qualen in der Heimerziehung bis in die 1980er Jahre der Bundesrepublik (Diakonie Bundesverband). Potenziell betroffen sind nach allgemeinen Schätzungen bis 1975 über 800.000 Kinder und Jugendliche. Ihr Anliegen trat spätestens im März 2010 in den Hintergrund öffentlicher Aufmerksamkeit, als das Superthema sexueller Missbrauch in Eliteschmieden wie der Odenwaldschule und konfessionellen Einrichtungen der katholischen Kirche gleich mehrere Gremien und Beauftragte hervorbrachte. Das gesellschaftliche Interesse für die Opfer von sexueller Gewalt wurde durch Einlassungen des Augsburger Bischofs Mixa und die Ereignisse in einem Ferienlager auf der Insel Ameland im Juli 2010 weiter gestärkt. Gegenüber solch aktualpolitischer Brisanz und der zeitlichen Nähe zu den potenziellen (Straf-)Taten verblasste die mediale Aufmerksamkeit für Rehabilitierungsfragen ehemaliger Heimkinder. Der Abschlussbericht des Gremiums „Runder Tisch Heimerziehung“ vom 13. 12. 2010 bietet reichlich Anschauungsmaterial für die „Situation Heim“, zeigt aber darüber hinaus, dass die Begrenzung des Untersuchungszeitraums - bis 1975 - willkürlich gesetzt ist, da die Vorstellungen und Praktiken von Erziehung sich nur allmählich und lokal unterschiedlich wandelten. So konstatiert etwa die Bochumer Pädagogik- Professorin Carola Kuhlmann in ihrer„Expertise für den ,Runden Tisch Heimerziehung‘ in den 50er und 60er Jahren“, dass sich allein schon in Bezug auf Körperstrafen ein „wirklich bedeutender Wandel in der Gesamtgesellschaft“ erst in den 1980er Jahren vollzogen habe (Kuhlmann 2010, 57). Eine Ausweitung des Untersuchungszeitraums bis Ende der 80er Jahre liegt nahe. Ein Abschluss der Aufarbeitung erscheint auch deshalb unwahrscheinlich, weil wesentliche Beteiligte bewusst aus dem Blickfeld genommen wurden: So grenzte der „Runde Tisch Heimerziehung“ mit Hinweis auf den Auftrag des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages (Runder Tisch Heimerziehung 2010, 4) die Gruppe der Behinderten aus. Vor dem Hintergrund der Diskussionen um die„UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderung“ erscheint diese Form von Exklusion skandalös. Über die Situation in den DDR-Kinderheimen wurde erst gar nicht gesprochen (Müller 2010). Darüber hinaus ist bislang noch nicht die Frage nach den Verantwortlichen für „Züchtigung, sexuellen Missbrauch, Arrest, Demütigung, Essensentzug, religiösen Zwang, Kontaktsperren und Briefzensur“ (Vollmer 2010) gestellt worden. Die Sichtung ihrer Berufsbiografien sowie - angelehnt an das Konzept von Wahrheitskommissionen - die Aufforderung, selbst zur Aufklärung über die Situation Heim beizutragen, könnten nicht nur für die ehemaligen Heimkinder neue Bewältigungsmöglichkeiten schaffen. Offensichtlich aber gehört es zu den Regeln von sogenannten Entschädigungsdebatten, dass nach den TäterInnen erst mit einer zeitlichen Verzögerung von mindestens 10 Jahren gefragt wird - so war es bei der Aufarbeitung von NS-Massenverbrechen und -Zwangsarbeit seit Mitte der 1990er Jahre. Die Entscheidung des„Runden Tisches“, nur auf der Grundlage von Einzelfallprüfungen Unterstützung zu gewähren, ist - bei allem Verständ- 219 uj 5 | 2011 Aufwachsen im Heim nis für die Kritik des Vereins ehemaliger Heimkinder (VEH) an der beschlossenen Summe von 120.000 Millionen Euro - absolut nachvollziehbar. Insbesondere aus der Sicht ehemaliger Heimkinder stellt sich die frühere Situation als sehr unterschiedlich dar, auch wenn die Organisationsstrukturen anders als heute vergleichbar waren. Dies ist vor allem auf unterschiedliches Personal zurückzuführen, das für die Umgangsformen in den Institutionen entscheidend war und nicht selten innerhalb eines Jahres wechselte. Selbst an kalten Orten wie der „Rheinischen Landesklinik Viersen“ agierten inmitten allgegenwärtiger Gewalt einzelne PädagogInnen fast schon subversiv und gaben uns Eingeschlossenen so das Gefühl der Verbindung zu einer anderen Welt ganz außerhalb dieses Raums. Offenbar waren die späten 70er bis Mitte der 80er Jahre eine Zeit des Übergangs, weil vermehrt neues Personal mit gewandelten Vorstellungen in die Einrichtungen strömte. Doch auch in weniger extremen Institutionen zeigt oft erst der Mikrokosmos einer Heimsituation die verschiedenen Lebenswirklichkeiten von Heimkindern. Für weitergehende Untersuchungen müssten deshalb neben notwendigen „Vergleichspunkten“ auch die personelle Besetzung und Berichte von Ehemaligen mit einbezogen werden, deren Glaubwürdigkeit allerdings selbst von Bundestagsabgeordneten zu Unrecht in Zweifel gezogen wurde (Kappeler 2010). Auch die Frage nach den Alternativen zum Heim sollte nicht ausgespart bleiben: Es kann natürlich nicht darum gehen, die Diskussion mit der Frage „Familie oder Anstalt? “ wiederzubeleben, die seit dem späten 19. Jahrhundert in neuen Gewändern immer wieder auflebt. Bei aller gegenwärtigen Kritik sollte aber nicht außer Acht gelassen werden: „Heim“ - das konnte und kann im Vergleich zu familiären Zumutungen ein Raum für die Entwicklung von Lebensperspektiven sein. Die Formen des Wechsels der Räume von der Herkunftsfamilie ins Heim können Auskunft über die Bereitschaft einer Gesellschaft zur Exklusion geben. Für die Eingewiesenen ist der Weg ins Heim vielfach logisch nicht oder nur schwer nachvollziehbar. Sie hatten keine Gelegenheit, sich von FreundInnen zu verabschieden, und es hat ihnen auch niemand erklärt, ob es sich bei der Einweisung um eine vorübergehende Maßnahme handelt. Eine Folge kann sein, dass Versuche, sich trotz aller biografischen Brüche selbst in einem sinnhaften Kontinuum zu verorten, vom Scheitern bedroht sind. Auch ProtagonistInnen in Romanen und Heimberichten wie die namenlose 13-Jährige in „Heim“ (Günther 2004) entrinnen dieser ständigen Herausforderung nicht. Sie wird durch mehrfache Heim-Wechsel zusätzlich gesteigert. Im Roman sind es allein die zahlreich vertretenen PolizistInnen, die als zuverlässige und freundliche BegleiterInnen letzte und einzige Gewissheit über eine potenziell funktionsfähige Gesellschaft im Umgang mit ihren Kindern zu sichern scheinen. Für viele der Heimkinder scheint die eigene Vergangenheit nicht mehr zu existieren, und es gibt nur noch ein Hier und Jetzt ohne Perspektive auf Wandel der Lebenssituation. Versprechungen des Heimpersonals wie„Du wirst sehen, du wirst dich hier wohlfühlen“ prallen als Worthülsen von den Angesprochenen ab, deren Vertrauen in die Erwachsenenwelt irreparabel beschädigt worden ist. In dem autobiografischen Roman kommen Eltern allenfalls als abwesend, unfähig und nur am Rande Beteiligte vor. Über deren jeweilige Bedeutung entscheiden die Kinder je nach Dauer der Heim-Karriere vielfach selbst. Der Roman blendet elterliche Befindlichkeiten nahezu aus, die irgendwo zwischen Sorge, schlechtem Gewissen und Desinteresse zu verorten sind. Ähnlich die öffentliche Auseinandersetzung in den letzten zwei Jahren: Elternverhalten wird schlichtweg nicht thematisiert. Allein das Heim steht in der medialen Öffentlichkeit am Pranger, nicht aber die Familie. Es ist anzunehmen, dass eine vergleichende Untersuchung zwi- 220 uj 5 | 2011 Aufwachsen im Heim schen den Bedrohungen durch psychische und physische Gewalt in Familien und Heimen zu einem ernüchternden Ergebnis käme. Dazu können die empirischen Befunde über Einstellungen zur Gewalt in der Bevölkerung allenfalls erste Anhaltspunkte liefern. Der „Runde Tisch“ forderte im Januar 2010, dass bei der Bewertung der Heimsituationen „zeithistorische Umstände“ bedacht werden müssten, da die Haltungen der Familien zu Arbeit und körperlicher Züchtigung andere als heute gewesen seien (Zwischenbericht 2010). Hier wird weniger der Wunsch nach einer differenzierten Betrachtung erkennbar als vielmehr die Selbstverständlichkeit, Gewalt gegen Kinder für einen bestimmten Zeitraum als normal zu kennzeichnen. Das verantwortliche pädagogische Personal kann sich, falls es je zu den Umständen befragt wird, auf gesellschaftliche Konventionen berufen. Gegenwärtig erscheint die Situation Heim in der öffentlichen Meinung eher als Katastrophe denn als Chance, die trotz oder gerade wegen der Heimunterbringung bestand. Insbesondere in der Übergangszeit (70er, 80er Jahre) traf neues Personal ein, das nicht von vornherein auf den Umgang mit Verhaltensstörung, Anomie oder Dissozialität seiner Klientel fixiert war, sondern das Bild eines Heimkindes mit spezifischen und förderungsfähigen Ressourcen und individuellen Aussichten zu einem anderen Leben jenseits des Heims vor sich hatte. Für Heimkinder kann eine solchermaßen verschobene Wahrnehmung enorm hilfreich sein, um einen Ausweg aus der oft empfundenen Perspektivlosigkeit zu sehen. „Ich war zum ersten Mal in meinem Leben ohne Ausweg“, erinnert sich der Mensch gewordene Affe Rotpeter in Frank Kafkas „Bericht für eine Akademie“. Doch selbst in seiner schier aussichtslosen Situation hat er eine Vorahnung auf Veränderung: „Von heute aus gesehen scheint es mir, als hätte ich zumindest geahnt, dass ich einen Ausweg finden müsse, wenn ich leben wolle, daß dieser Ausweg aber nicht durch Flucht zu erreichen sei.“ Heim als Ausweg und Chance Die Umbruchsituation war im Bonn-Bad-Godesberger Kinderdorf Godesheim fast abgeschlossen, in das ich Ende der 70er Jahre im Alter von 10 Jahren aus einer Art Zwischenstation für Kinder und Jugendliche ohne klaren Bestimmungsort in Brühl gebracht wurde. Diese war allein auf die existenzielle Mindestversorgung - ohne Schulbildung und mit minderwertigen Nahrungsmitteln - ausgerichtet. Anders das Godesheim: Es stand unter der Aufsicht der evangelischen Kirche im Rheinland, deren Kinder- und Jugendeinrichtungen 1976 vom„Evangelischen Fürsorgeverein“ zum „Evangelischen Fachverband für Heimerziehung“ umbenannt wurden (www.godesheim. de). Dort praktizierte man das Konzept einer Unterbringung der Kinder und Jugendlichen nach Altersgruppen in einzelnen, freistehenden Häusern sowie Außenwohngruppen. Es gibt jedoch keinen Anlass, allein über diese - für damalige Verhältnisse besondere - Organisationsstruktur auf eine Verbesserung der Heimsituation gegenüber rückständigeren Formen zu schließen. Der Wandel vollzog sich eher mit den Erziehungsvorstellungen des Personals, und die später formulierte Kritik an den Schichtdienstgruppen erscheint aus meiner Erfahrung absolut nachvollziehbar (Wolf 2003, 20). Vor dem Heimgelände war der Kalte Krieg durch die Nachbarschaft zur Russischen Botschaft und Residenz allgegenwärtig, doch mit dem Leben außerhalb kamen nur wenige Kinder regelmäßig in Kontakt, weil ihr gesamter Alltag einschließlich Sonderschulbesuch auf dem Gelände stattfand. Diese räumliche Abgeschlossenheit ohne nennenswerten Kontakt zur Außenwelt wurde von Außengängern wie mir kaum anders erlebt. Es gab allerdings vielfache und intensivere Gelegenheiten, den sozialen Statuswechsel zu spüren, der mit der Trennung von der Herkunftsfamilie und beim Eintritt ins Heim erfolgt war. Meine Versuche, die Außenwelt für die spezifischen Belange 221 uj 5 | 2011 Aufwachsen im Heim und Situationen im Heim zu interessieren, waren selten erfolgreich oder scheiterten schon im Ansatz: Einmal forderte der damalige Direktor eines Godesberger Gymnasiums mich dazu auf, ihm die Bedingungen des Heimlebens zu schildern. Wie ich später erfuhr, war er über meine Darstellung so erschrocken, dass er sich selbst ein Bild machen wollte und dabei gesagt bekommen habe, ich hätte alles frei erfunden. Danach hat er sich nie mehr mit mir unterhalten. Das prekäre Verhältnis vom Heim zur Öffentlichkeit veränderte sich während meiner vier Jahre im Godesheim kaum. Auch dort gab es hinter den Fassaden der einzelnen Gruppenhäuser einige der Missstände, wie sie in jüngster Zeit durch ehemalige Heimkinder beschrieben worden sind. Einem Teil des Personals waren offensichtlich jeder Idealismus und die Empathie für die Erfordernisse von Heimkindern abhanden gekommen. Nicht sicher ist, ob sie überhaupt Kinder um sich haben konnten. Den Typus des Cholerikers repräsentierte wie kein anderer Klaus 1 , der eine große Erscheinung war und in schweren Clogs über die Flure schlurfte. Normalerweise war man vor Klaus sicher, da er es vorzog, von früh bis spät im Erzieher-Zimmer Schachtel um Schachtel„Ernte 23“ zu rauchen, bis ihn etwas wirklich nervte. Seine Spezialität war es, einen von uns hinterrücks zu überraschen und mehrmals ins Gesicht zu schlagen. Irgendwie hat er selbst nie so recht an die Nachhaltigkeit seines Konfliktmanagements geglaubt und gab den Job auf. Ihm und einigen seiner KollegInnen war anzusehen, dass es über die Jahre des Berufslebens zu einer Wandlung ehemals guter Absichten in böse Konsequenzen gekommen war. Sie hatten resigniert und waren offensichtlich desinteressiert an uns Kindern. Ihr pädagogisches Handeln war nicht auf Dialog eingestellt, sondern schloss auch die Akzeptanz physischer und psychischer Formen von Gewalt ein - sowohl der Heimkinder untereinander wie auch gegen sie. Gleichzeitig war zu erkennen, dass solche destruktiven Umgangsformen von anderen Teilen des Personals als unbefriedigend wahrgenommen wurden. Diese Gleichzeitigkeit verschiedener und sich teilweise und offenkundig widersprechender Vorstellungen der Alltagsgestaltung im Heim führte dazu, das Potenzial von uns Heimkindern zu vernachlässigen. Im Rückblick verfestigt sich der Eindruck, dass im Heim - anders als in der Psychiatrie (Brink 2010) - weniger die Strukturen als vielmehr das Verhalten des Personals dafür entscheidend war, welche Möglichkeiten wir Heimkinder für unser Leben entwickeln konnten. „Interessanter als die äußerlichen Organisationsveränderungen sind veränderte pädagogische Programme“ (Wolf 2004, 5) und viel mehr noch eine daran orientierte Erziehungspraxis. Sie änderte sich im Godesheim einschneidend mit dem allmählichen Ausscheiden des frustrierten Zirkels, dem auch jener Klaus angehört hatte. Zu Beginn der 1980er Jahre traf Personal mit anderen pädagogischen Vorstellungen ein, und ungefähr zeitgleich wurden in meine Gruppe erstmals Mädchen aufgenommen. Ihre Anwesenheit änderte vieles im immer schon gegenwärtigen Gender-trouble: Selbst grobschlächtigere Jungen erprobten charmantes Verhalten im Zeichen von Unsicherheit und Irritation; die Erzieherinnen profitierten, denn sie konnten endlich die Bandbreite vorgeblich weiblicher Tätigkeiten wie Stricken, Häkeln und Basteln einsetzen, mit dem Effekt, dass auch die Jungen sich wie selbstverständlich beteiligten. Über gemeinsamen Tätigkeiten entwickelten sich Erotik der Alltagsbeziehungen und erste Liebeserfahrungen zwischen uns Heimkindern, was der Gruppenharmonie spürbar gut tat: Reine Jungen-Gruppen sollten verboten werden! Die neu eingestellten ErzieherInnen zeigten verschiedene Interessenschwerpunkte: Da war der Ökofreak und Radikalpazifist Dieter mit eigenem Hühnerstall - unsere Teilnahme an der Demonstration gegen den Nato-Doppelbeschluss auf der Bonner Hofgar- 1 Alle Mitarbeiternamen geändert. 222 uj 5 | 2011 Aufwachsen im Heim tenwiese 1982 war eine Pflichtveranstaltung; die scheinnaive Anna, deren pädagogisches Konzept„Wir sitzen im gleichen Boot“ oder„Mit Liebe geht alles“ lautete; zwei eher nordischkühle Frauen mit viel Organisationstalent, Ute und Bärbel. Und dann war da noch Heino, der alles über Angeln, Tiere und Pflanzen und Skandinavien wusste. Das Besondere an dieser Konstellation war, dass diese Fünf der unbedingte Wille vereinigte, uns einen abwechslungsreichen Alltag jenseits des vielfach empfundenen Gefühls der bloßen Verwahrung zu bieten. Die Meinungsverschiedenheiten dieses Personals untereinander spielten für uns auch deshalb kaum eine Rolle, weil es zu engeren Bindungen zwischen einzelnen Kindern und ErzieherInnen kam. Eine ihrer Großtaten war, das Geheimnis der Macht zu entzaubern, das durch das Berichtswesen für alle gegenwärtig war. Jene Berichte, so wurde uns suggeriert, entschieden über Perspektiven und Qualität unseres weiteren Lebens; über Verlegung, Kontakt zu den Eltern, zur Pflegefamilie und anderes. Erstmals wurde auch mit uns und nicht nur im Closed Shop der ErzieherInnen und ihrer Berichte über unsere jeweiligen Lebensperspektiven gesprochen. Die Bedeutung der Berichte als Machtinstrument kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Als ich den Verwaltungsleiter Jahre später um Akteneinsicht bat, musste er mir diese natürlich verweigern, doch die Art, wie er dies tat, nämlich über verachtungsvolle Gesten der Ablehnung, bestärkte mich in meiner Einschätzung der Funktion von Berichten. Die neue Transparenz zwischen ErzieherInnen und uns Heimkindern stärkte das Vertrauensverhältnis. Rund um das Gruppenhaus initiierte das Personal eine Vielzahl von Aktivitäten. Daneben mussten alle ein sogenanntes Amt übernehmen, zumeist körperliche Arbeit, die täglich oder wöchentlich zu erledigen war. Diese Tätigkeiten waren nicht immer beliebt, können nachträglich aber durchaus als nützlich für die spätere eigenständige Lebensführung betrachtet werden. Gestaltung einer Sonderzone Dafür sorgten neue Betätigungsfelder, die aus den Interessen des Personals entstanden, das uns für verschiedenste Bereiche zu motivieren verstand: Dazu gehörten die Anlage eines Gartens einschließlich eines Teichs, der Kontakt mit Gesang und Musik, Malen sowie die Verschönerung des Innenraums. So konnte man den Eindruck gewinnen, als sei es diesem neuen Personal wichtig, in einer selbst und mit uns gestalteten Umgebung zu arbeiten: Der Ort der Verwahrung auf Zeit mit seinen Ungewissheiten entwickelte sich allmählich zu einem Zuhause im Heim. Je mehr sich eine positive Identität als Heimkind entwickeln konnte, desto paradoxer stellten sich in vielen Fällen allerdings die Beziehungen zu den Herkunftsfamilien dar. Paradox, weil die Kontakte trotz offensichtlicher und auch wechselseitiger Ablehnung und der Kenntnis von häuslicher Gewalt - einschließlich sexueller - aufrechterhalten wurden. Wie bei mir, so war es bei vielen: Es gab kein erkennbares Zeichen für die Möglichkeit einer Rückkehr in die Herkunftsfamilie. Warum sollte man das Zuhause im Heim regelmäßig gegen den Ort eintauschen wollen, der einen nicht wollte und den man schließlich selbst ablehnte, gerade weil es dieses neue Zuhause gab? Dieses Paradox wurde durch die Attraktivität der Sommerurlaube der Heimgruppe weiter gesteigert. Sie führten nach Norwegen und Schweden und können im Rückblick vielleicht als Pionierarbeit für die moderne Erlebnispädagogik bezeichnet werden. Dabei waren die äußeren Bedingungen zunächst alles andere als günstig: Wir erlebten drei Wochen Dauerregen in undichten Zelten bei minderwertigem Essen und mäßigem Angelerfolg an einem menschenleeren Teilabschnitt des Femundsees in der norwegischen Femundsmarka. Am Ende hatte jeder mindestens einen Barsch gefangen, und wieder zu Hause im Heim sprachen wir ein Jahr über den nächsten Sommer in Norwegen. Bei beiden Fahrten wurden unsere Konflikte und manche unserer Konfliktlösungsmöglichkeiten auf eine harte Probe gestellt: Die Situa- 223 uj 5 | 2011 Aufwachsen im Heim tionen in der Natur Norwegens erforderten unbedingte Kooperation und die Übernahme von Aufgaben, die für alle von Bedeutung waren. Dazu gehörte es, mit dem Kajak Proviant zu holen, Pilze zu sammeln, einen Donnerbalken zu bauen oder das Essen für alle zuzubereiten. Wir lernten die Gefahren von Flüssen einzuschätzen, einander besser zu vertrauen und Einzelne bei stark abweichendem Verhalten besser zu integrieren. Die Stärkung der Gruppenidentität verpuffte auch deshalb nicht in der Alltagssituation des Heims, weil sich auch dort die Bedingungen für Gemeinsames erheblich verbessert hatten. So waren die Nachbereitung der Fahrten (z. B. über Fahrtenbücher, Fotos, Informationen über Angeln) und die Vorbereitung auf die nächste Fahrt das ganze Jahr über immer wieder ein Thema. Diese Reisen und die veränderte Heimsituation haben viele von uns stärker gemacht gegenüber den Anforderungen der Wirklichkeit außerhalb und sicher auch manchem den Übergang in andere Institutionen erleichtert. Normale Heimkinder? Es mag bis hierher der Eindruck entstanden sein, als sei allein ein verändertes Selbst- und Berufsverständnis des pädagogischen Personals die Ursache für den Wandel in den Erziehungspraktiken gewesen. So wesentlich sein Anteil daran ist: Der zeitweise vollzogene Wandel im Godesheim als einer „Abweichungsheteropie“ (Michel Foucault) mit spezifischen Normen und Regeln wurde durch die spezifische Organisationsstruktur sicher nicht begünstigt und wäre ohne die Neubesetzung auch von Leitungsstellen nicht möglich gewesen. Deren pädagogische Konzepte kamen ohne physische Gewalt aus und waren eher auf Dialog und Verhandlung ausgerichtet. Auch wurden wir weniger als defizitäre Wesen mit angeklebtem Reparaturauftrag betrachtet, sondern vielmehr wie Kinder und Jugendliche mit der Möglichkeit zu eigenverantwortlichem Handeln und der Perspektive auf ein normales Leben. Diesen Blick hatte auch ein neu eingestellter Psychologe, der die Praxis regelmäßiger, einstündiger Sitzungen sofort modifizierte, als er bemerkte, dass mir die gesamte Bandbreite therapeutischer Verfahren und Spiele von seinen diversen Vorgängern bereits bekannt war. Das Godesheim war Anfang der 1980er Jahre auf dem Weg, das Konzept pädagogischer Krankenhäuser zugunsten einer eher lebensweltlich orientierten Institution zu verändern. Dies vollzog sich zunächst innerhalb des in sich geschlossenen Systems durch die Anpassung des Erziehungsverhaltens an Standards, die nicht spezifisch für diesen Ort entwickelt worden waren. Diese Zuspitzung würden pädagogisch geschulte LeserInnen mit Hinweis auf die offenere Organisationsform des damaligen Godesheims wahrscheinlich zurückweisen. Selbstverständlich konnten die Nachteile des pädagogischen Krankenhauses nur teilweise abgeschwächt werden und „Probleme wie die Scheidung von Normalem und Anormalem“ (Ewald 1991, 21) allenfalls abmildern, Stigmatisierung oder die soziale Kontrolle reduzieren. Die medienpolitische Diskussion um das Schicksal der ehemaligen Heimkinder hat gezeigt, dass diese wesentlicher Teil der Erfahrung von Exklusion und der damit einhergehenden Verwahrung und Erziehung in Sonderzonen ist. Dies hat die Bildungsjournalistin Brigitte Schumann in ihrer Dissertation 2007 für den Bereich des differenzierten Sonderschulwesens in Nordrhein-Westfalen beschrieben, und es galt für die verschiedenen Typen von Heimen mit unterschiedlicher Ausprägung bis Mitte der 1980er Jahre und darüber hinaus. Nur allzu langsam machten sie sich auf den Weg, ihre Klientel außerhalb spezieller und stattdessen innerhalb an normalen Lebensverhältnissen orientierter Strukturen für eine selbstständige Lebensführung stark zu machen. Alexander Felsenthal felsenthal@hotmail.de 224 uj 5 | 2011 Aufwachsen im Heim Literatur Bingender, R., 2010: Von der Schuld bis zur Sühne. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 3. 2010 Brink, C., 2010: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860 - 1980. Göttingen Diakonie Bundesverband: Heimkinder Forum. www. diakonie-forum.de, 8. 1. 2011 Ewald, F., 1991: Eine Macht ohne Draußen. In: Ewald, F./ Waldenfels, B. (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Frankfurt am Main, S. 163 - 170 Freundeskreis Paul Wulf (Hrsg.), 2007: Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand. Nettersheim Giordano-Bruno-Stiftung, 2010: Präzedenzfall enthüllt: Runder Tisch Heimerziehung fällt hinter geltendes Recht zurück. Eine angemessene Entschädigung vieler Heimopfer ist bereits möglich. www.giordanobruno-stiftung.de/ pm_221210.pdf, 14.2. 2011, 2 Seiten Günther, M., 2004: Heim. München Günther-Greene, R., 2009: Die Unwertigen. Dokumentarfilm. www.die-unwertigen.de/ der-film, 14. 2. 2011, 1 Seite Kappeler, M, 2010: Zur zeitgeschichtlichen Einordnung der Heimerziehung. In: Soziale Arbeit, 59. Jg., H. 4/ 5, S. 132 - 144 Kuhlmann, C., 2010: Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre - Maßstäbe für angemessenes Erziehungsverhalten und für Grenzen ausgeübter Erziehungs- und Anstaltsgewalt. Expertise für den Runden Tisch„Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“. Bochum. www.runder tisch-heimerziehung.de/ downloads.htm, 14. 2. 2011, 66 Seiten Müller, C. P., 2010: Im Jugendamt der Peiniger von einst. Wer in der DDR im Kinderheim lebte, leidet oft noch bis heute. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 11. 2010 Moser, T., 1970: Kritische Aspekte der Heimerziehung. In: Unsere Jugend, 18. Jg., H. 4, S. 153 - 164 Runder Tisch Heimerziehung, 2010: Abschlussbericht. www.rundertisch-heimerziehung.de/ documents/ RTH_Abschlussbericht.pdf, 14. 2. 2011, 67 Seiten Runder Tisch Heimerziehung, 2010: Zwischenbericht. www.rundertisch-heimerziehung.de/ documents/ RTH_Zwischenbericht_000.pdf, 14. 2. 2011, 47 Seiten Schumann, B., 2007: „Ich schäme mich ja so! “. Die Sonderschule für Lernbehinderte als „Schonraumfalle“. Bad Heilbrunn Vollmer, A., 2010: Runder Tisch Heimerziehung. Vorstellung des Abschlussberichts. Zit. n. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 12. 2010 Wolf, K., 2003: Und sie verändert sich doch: Entwicklungsprozesse in der Heimerziehung. In: Struck, N./ Galuske, M./ Thole, W. (Hrsg.): Reform der Heimerziehung. Eine Bilanz. Opladen, S. 19 - 36 Wolf, K., 2004: Das Leben im Heim - aus der Perspektive von Kindern betrachtet? In: Siegen: Sozial, 9. Jg., H. 2, S. 2 - 9