unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2011.art26d
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Heranwachsen mit dem Social Web
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Jan-Hinrik Schmidt
Das Internet, das 2009 seinen 40. Geburtstag feierte, ist spätestens seit der Jahrtausendwende auch in Deutschland zum fest etablierten Universalmedium geworden. Insbesondere für Jugendliche spielt es im Alltag eine wichtige Rolle.
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242 unsere jugend, 63. Jg., S. 242 - 250 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art26d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Heranwachsen mit dem Social Web Zur Rolle des Internet im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen Das Internet, das 2009 seinen 40. Geburtstag feierte, ist spätestens seit der Jahrtausendwende auch in Deutschland zum fest etablierten Universalmedium geworden. Insbesondere für Jugendliche spielt es im Alltag eine wichtige Rolle. von Dr. Jan-Hinrik Schmidt Jg. 1972; Soziologe, wissenschaftlicher Referent für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation am Hans-Bredow- Institut Einleitung 1 Inzwischen sind mehr als zwei Drittel der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren zumindest gelegentlich online (vgl. die jährlich durchgeführte ARD/ ZDF-Onlinestudie unter www.ardzdf-onlinestudie.de). Nach wie vor gibt es allerdings noch teils deutliche Unterschiede in den Nutzungsweisen und der Vertrautheit zwischen den verschiedenen Altersgruppen. Diese schlagen sich in der populären Diskussion von „digital natives“ und „digital immigrants“ nieder (Palfrey/ Gasser 2008): Erstere, die Generation der nach 1980 Geborenen, bewegen sich wie Eingeborene der digitalen Räume scheinbar mühelos in den komplexen und konvergenten Medienumgebungen, wo den Letzteren nur der staunende Blick der Fremden und neu Hinzugekommenen bleibt, die sich an die fremden Praktiken und Sprachen der Welt des Social Web erst gewöhnen müssen. Ein solcher Kontrast zweier Generationen ist holzschnittartig und wird sowohl den existierenden Unterschieden innerhalb der Unter-30-Jährigen als auch den vielen aktiven NutzerInnen oberhalb dieser Altersschwelle nicht gerecht. Dennoch erscheint er zumindest intuitiv plausibel, da in den vergangenen Jahren eine Reihe von Internet-Anwendungen populär geworden sind, die insbesondere von Jugendlichen und jungen Erwachsenen intensiv genutzt werden, während manche Ältere diese Entwicklung verständnis- oder gar fassungslos beobachten: Wikipedia oder YouTube, Facebook oder Twitter, Flickr oder MySpace machen es ihren NutzerInnen auf je eigene Weise leichter, Informationen zu recherchieren, die eigenen Interessen, Vorlieben, Kompetenzen oder Erlebnisse darzustellen und onlinebasierte Inhalte mit anderen Menschen zu teilen und weiter zu bearbeiten. Bereits 1 Dieser Text ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung des Beitrags „Jugendliche im Social Web. Empirische Befunde zu Nutzungspraktiken“, den der Verfasser mit Claudia Lampert in der Zeitschrift Amos International (Jg. 4, Nr. 3) veröffentlicht hat. 243 uj 6 | 2011 Aufwachsen mit Internet jetzt ist zu beobachten, dass diese noch relativ jungen Entwicklungen einen tiefgreifenden Einfluss auf Identitätsarbeit und Beziehungspflege, aber auch auf die Strukturen gesellschaftlicher Öffentlichkeiten haben. Dieser Beitrag stellt zunächst empirische Befunde aus dem Projekt„Heranwachsen mit dem Social Web“ vor, das das Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg gemeinsam mit der Universität Salzburg 2008/ 2009 im Auftrag der Landesanstalt für Medien Nordrhein- Westfalen (LfM) durchgeführt hat. Neben einer Reihe von Gruppendiskussionen und vertiefenden Einzelinterviews wurde im Rahmen der Studie auch eine bevölkerungsrepräsentative Befragung von 12bis 24-Jährigen in Deutschland durchgeführt (Feldzeit: Oktober/ November 2008), aus der sich die folgenden Tabellen und Abbildungen speisen (die ausführlichen Ergebnisse sind in Schmidt/ Paus-Hasebrink/ Hasebrink 2009 dokumentiert). Dabei werden für die Zwecke dieses Beitrags jeweils weibliche und männliche Befragte sowie Personen mit unterschiedlichem schulischen Ausbildungsniveau 2 miteinander kontrastiert, um mögliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten identifizieren zu können. Anschließend wird aus einer kommunikationssoziologischen Perspektive die Bedeutung des Social Webs für Heranwachsende erläutert und beispielhaft diskutiert, wie sich die verschwimmenden Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit auswirken. Das Internet wird für Information und Kommunikation genutzt Ähnlich wie andere repräsentative Studien zur Mediennutzung Jugendlicher (z. B. die regelmäßig durchgeführten JIM-Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest) bestätigt auch die hier vorgestellte Befragung, dass das Internet einen zentralen Platz im Medienrepertoire der jungen Menschen einnimmt. Nahezu alle Deutschen zwischen 12 und 24 Jahren (95 Prozent) nutzen das Internet zumindest einmal die Woche. Es erreicht also in etwa die Durchdringung des Fernsehens und ist auch ähnlich weit verbreitet wie das „sich mit Freunden treffen“. Andere etablierte Massenmedien wie das Radio (80 Prozent), die Tageszeitung (69 Prozent; wobei auch das Lesen von Online-Tageszeitungen eingeschlossen ist) sowie Zeitschriften und Magazine (50 Prozent) hat das Internet in dieser Altersgruppe bereits hinter sich gelassen. Erste Diskrepanzen lassen sich allerdings erkennen, wenn man die Internetnutzung weiter differenziert und nach einzelnen Aktivitäten fragt, denn diese sind unterschiedlich weit verbreitet (vgl. Tabelle 1). Suchmaschinen (90 Prozent) und die interpersonale Kommunikation über E-Mail (83 Prozent) bzw. Instant-Messaging-Dienste wie ICQ oder MSN (75 Prozent) sind sehr weit verbreitet. Auch die allgemeine sowie themenspezifische Recherche nach Informationen und das Musikhören über das Internet gehören zu den weit verbreiteten Nutzungsweisen, die zwei Drittel und mehr der Befragten zumindest einmal die Woche zeigen. Deutlich wird zudem, dass nicht jede/ r NutzerIn automatisch auch die Potenziale zum aktivproduzierenden Medienschaffen in Anspruch nimmt, sondern dass die passiv-rezipierende Nutzung dominiert. Ob es um das Lesen vs. Schreiben in Wikis wie der Wikipedia (56 vs. 2 Prozent), das Anhören vs. selbst Einstellen von Musik (67 vs. 7 Prozent) oder das Anschauen vs. Einstellen von Filmen und Videos (48 vs. 3 Prozent) geht: Jeweils nur ein sehr kleiner Anteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen nutzt die erleichterten technischen Möglichkeiten für die Teilhabe an den Medien- und Informationsräumen auch im weitgehenden Sinn aus und wird selbst produzierend aktiv. 2 Dabei wird zwischen „Hauptschule“ (HS), „Realschule“ (RS) sowie „Gymnasium“ (GYM) unterschieden. Grundlage für die Einteilung sind die Fragen nach der derzeit besuchten Schule bzw. nach dem höchsten schulischen Abschluss. 244 uj 6 | 2011 Aufwachsen mit Internet Bei in fast allen Bereichen betrachteten Aktivitäten finden sich etwas höhere Anteile von Jungen und jungen Männern, mit Ausnahme der E-Mail-Nutzung sowie des Gebrauchs von Online-Communities wie schülerVZ oder Facebook. Unter den Personen mit formal höherer Bildung finden sich etwas größere Anteile, die sich an Wikis beteiligen oder selbst Filme online stellen (wenngleich auf ebenfalls sehr niedrigem Niveau), während unter HauptschülerInnen bzw. HauptschulabsolventInnen die Nutzung der Wikipedia und von Online-Communities stärker verbreitet ist als unter RealschülerInnen und GymnasiastInnen. Netzwerkplattformen als Prototypen des „Social Web“ Online-Communities bzw. Netzwerkplattformen gehören unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu den meist genutzten Internet- Angeboten. Plattformen wie schülerVZ oder Facebook 3 stehen aufgrund ihrer Möglichkeiten der Selbstpräsentation, Vernetzung und des Austauschs mit anderen prototypisch für das Social Web. Trotz aller Unterschiede in Design, Zielgruppe und Funktionalitäten lässt sich ihr gemeinsames Grundprinzip im Anschluss an Boyd/ Ellison (2007) mit drei Merkmalen beschreiben: NutzerInnen legen auf Netzwerkplattformen (a) ein Profil an, in dem sie Informationen über die eigene Person, ihre Vorlieben, Kompetenzen o. Ä. veröffentlichen. Ausgehend 3 Die Umfrage wurde Ende 2008 durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt waren schülerVZ und studiVZ noch die beliebtesten Netzwerkplattformen in der betrachteten Altersgruppe. Im Lauf des Jahres 2009 hat sich die amerikanische Plattform Facebook auch in Deutschland durchgesetzt und in Bezug auf die registrierten Mitglieder alle anderen Netzwerkplattformen hinter sich gelassen. N = 650 M W HS RS GYM Gesamt Suchmaschinen nutzen 92,4 88,9 88,6 92,1 90,5 90,7 E-Mails empfangen und senden 79,5 86,3 77,2 84,7 83,5 82,8 Instant-Messenger wie z. B. ICQ/ MSN nutzen 78,1 72,6 84,2 75,3 72,8 75,4 Online Communities nutzen, wie SchülerVZ, StudiVZ, facebook, Xing usw. 71,6 76,3 76,3 75,8 72,3 73,9 Nachrichten bzw. aktuelle Informationen abrufen 76,1 66,7 69,6 71,7 72,0 71,5 Nach Informationen zu einem bestimmten Thema für sich selbst (nicht für Schule, Ausbildung, Studium oder Beruf ) suchen 72,6 64,6 69,6 68,8 68,5 68,7 Musik/ Sounddateien anhören 71,2 62,0 66,7 67,9 66,2 66,7 In Wikis lesen, wie z. B. in Wikipedia 60,7 52,0 64,0 60,0 52,0 56,4 Filme/ Videos anschauen 62,5 32,8 46,5 52,6 46,0 48,0 Musik/ Sounddateien einstellen 9,2 4,9 7,0 7,4 6,7 7,1 Filme/ Videos einstellen 4,8 1,1 1,8 3,7 3,2 3,0 In Wikis schreiben, wie z. B. in Wikipedia 2,1 2,8 1,8 1,6 3,2 2,4 Tab: 1: Ausgewählte Internetaktivitäten nach Geschlecht und Schultyp (in %) Erläuterung: Die Antwortvorgaben reichten von„täglich“ über„mehrmals in der Woche“,„einmal in der Woche“, „einmal in 14 Tagen“, „einmal im Monat“ und „seltener“ bis „nie“. Angegeben sind die Werte für „einmal in der Woche“ und häufiger. 245 uj 6 | 2011 Aufwachsen mit Internet von diesem Profil können NutzerInnen (b) soziale Beziehungen zu anderen registrierten Mitgliedern explizit machen, indem sie diese als „Freunde“ oder „Kontakte“ hinzufügen (was in der Regel von der anderen Person bestätigt werden muss, sodass reziproke Beziehungen entstehen), und dann (c) mit Hilfe dieses explizit gemachten sozialen Netzwerks innerhalb der Plattform navigieren, zum Beispiel indem man sich zu Freunden von Freunden „durchklickt“ oder eigene Fotos, Videos etc. nur den eigenen bestätigten Kontakten zugänglich macht. Hinzu kommen meist noch weitere Optionen wie plattforminterne Mailprogramme oder themenspezifische Foren. Die gezielte Abfrage einzelner Aktivitäten zeigt auch, dass gerade diese kommunikativen Plattformfunktionen häufig genutzt werden: Zwei Drittel der NutzerInnen entsprechender Angebote schreiben zumindest einmal pro Woche plattforminterne Nachrichten an andere Mitglieder, und mehr als die Hälfte nutzt regelmäßig die Möglichkeit, auf dem Profil anderer Personen einen Pinnwandbzw. Gästebucheintrag zu hinterlassen. Das eher zufällige Stöbern in den Profilen anderer Mitglieder tritt häufiger auf als die gezielte Suche nach Kontakten bzw. Bekannten. Unter den Nutzerinnen finden sich etwas höhere Anteile bei den kommunikativen Funktionen, während bei den männlichen Befragten die gezielte Suche nach Kontakten oder Informationen etwas häufiger vorkommt. Unter den Personen mit gymnasialem Hintergrund sind die Nutzungshäufigkeiten der meisten Funktionen etwas niedriger, sieht man von der Ausnahme des Schreibens auf Profil-Pinnwände ab. Im Durchschnitt hatten die NutzerInnen von Netzwerkplattformen Ende 2008 131 bestätigte Kontakte auf derjenigen Netzwerkplattform, die sie am Häufigsten nutzen (vgl. Tabelle 3). Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind dabei nur gering, während Personen mit höherer formaler Bildung deutlich höhere absolute Anzahlen von Kontakten berichten als solche mit Hauptschulhintergrund. Man erkennt zudem, dass der Großteil der explizit gemachten sozialen Beziehungen eher entfernte Bekannte umfasst, zu denen aber auch außerhalb des Internets eine Beziehung besteht: Mehr als 80 Prozent der Befragten sagen, sie hätten die meisten ihrer Kontakte bereits persönlich getroffen, doch gleichzeitig meinen nur etwa 15 Prozent, die meisten ihrer Kontakte seien auch tatsächlich enge FreundInnen. Auch in dieser Hinsicht sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und den verschiedenen Gruppen nicht sonderlich stark ausgeprägt: Ein etwas höherer Anteil der Nutzerinnen gibt an, bereits die meisten ihrer Kontakte auch offline getroffen zu haben. Unter RealschülerInnen M W HS RS GYM Gesamt Anderen Nutzern private Nachricht schreiben 61,1 69,2 66,7 65,3 64,3 65,1 Stöbern in Profilen anderer Mitglieder 54,5 58,5 59,1 59,7 53,8 56,5 Schreiben von Einträgen auf die Pinnwand oder in das Gästebuch von anderen Profilen 49,1 58,2 48,2 54,7 54,5 53,5 Suche nach Kontakten, Bekannten 43,1 39,1 44,7 46,3 37,1 41,1 Suche nach Informationen 27,4 23,0 27,2 25,7 24,6 25,2 Aktualisierung des eigenen Profils 23,8 21,7 27,2 20,9 22,3 22,8 Eigene Fotos hochladen 12,3 15,7 16,7 16,3 11,8 14,0 Tab. 2: Aktivitäten auf Netzwerkplattformen nach Geschlecht und Schultyp (in %) Erläuterung: Die Antwortvorgaben reichten von„täglich“ über„mehrmals in der Woche“,„einmal in der Woche“, „einmal in 14 Tagen“, „einmal im Monat“ und „seltener“ bis „nie“. Angegeben sind die Werte für „einmal in der Woche“ und häufiger. 246 uj 6 | 2011 Aufwachsen mit Internet bzw. Personen mit Realschulabschluss ist der Anteil etwas niedriger; gleichzeitig gibt auch ein kleinerer Anteil von ihnen an, dass die meisten der Kontakte auch enge FreundInnen seien. Erfahrungen mit dem Internet In der öffentlichen Diskussion werden Netzwerkplattformen meist im Zusammenhang mit Fragen des Datenschutzes bzw. möglicher Verletzungen der Privatsphäre ihrer NutzerInnen thematisiert. Hierfür ist einerseits der Umstand verantwortlich, dass online vorgehaltene Informationen persistent, durchsuchbar und kopierbar sind und so auf bislang unbekannte Art und Weise gespeichert und kombiniert werden können. Andererseits beruhen die Geschäftsmodelle der Betreiber meist darauf, möglichst viele persönliche Informationen über ihre NutzerInnen und ihr Verhalten zu sammeln, um diese für personalisierte Werbung o. Ä. vermarkten zu können. In den Einstellungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen spiegeln sich diese Umstände teilweise wider (vgl. Tabelle 4): Etwa zwei Drittel (68 Prozent) geben an, darauf zu achten, dass im Internet keine schädlichen Informationen über sie zu finden sind, und mehr als die Hälfte (56 Prozent) gibt an, zumindest bestimmte Informationen nur den bestätigten Freunden bzw. Kontakten zugänglich zu machen. Gleichzeitig wird deutlich, dass es den Befragten mehrheitlich um eine authentische Selbstdarstellung geht - 65 Prozent wollen sich so zeigen wie sie wirklich sind, und nur drei Prozent führen auch Profile mit unauthentischen Selbstdarstellungen. Nutzerinnen zeigen sich zumindest ihren Selbsteinschätzungen nach vorsichtiger als männliche Befragte, was die Preisgabe von Informationen im Internet angeht, und sie bemühen sich auch zu einem größeren Anteil um eine authentische Selbstdarstellung. Die Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen sind demgegenüber sehr gering; Befragte mit Hauptschulhintergrund geben häufiger an, bestimmte Informationen nur einem eingeschränkten Kreis zugänglich zu machen, und haben deutlich seltener „Fake-Profile“ als Personen mit Realschul- oder Gymnasialbildung. Explizit nach problematischen Erfahrungen bei der Internetnutzung gefragt, sagen 28 Prozent der 12bis 24-Jährigen, dass sie im Internet schon einmal belästigt worden seien (wobei in der Frage keine Vorgaben formuliert waren, was als Belästigung aufzufassen sei). Der Anteil ist unter weiblichen Befragten sowie unter Personen mit Hauptschulhintergrund etwas höher. 13 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben schon einmal erlebt, dass andere Personen problematische Informationen über sie selbst ins Internet gestellt haben; N = 495 M W HS RS GYM Gesamt Durchschnittliche Kontaktanzahl in meistgenutzter Community 129 134 117 137 133 131 Von den Kontakten habe ich schon mal persönlich getroffen … (a) Die meisten 82,3 87,2 85,6 81,2 86,8 84,9 Etwa die Hälfte und weniger 17,7 12,8 14,4 18,8 13,2 15,1 Von den Kontakten zählen zu meinen engen Freunden … (a) Die meisten 14,8 14,7 16,9 11,4 15,5 14,7 Etwa die Hälfte und weniger 85,2 85,3 83,1 88,6 84,5 85,3 Tab. 3: Anzahl und Zusammensetzung der Netzwerkplattform-Kontakte nach Geschlecht und Schultyp (in %) (a) Die Antwortoptionen waren „Die meisten“, „etwa die Hälfte“, „weniger als die Hälfte“ sowie „praktisch niemand“. 247 uj 6 | 2011 Aufwachsen mit Internet hier ist der Anteil unter den männlichen Befragten sowie erneut unter denen mit Hauptschulhintergrund etwas höher. Worin liegt der Reiz des neuen Netzes? Die bis hierher vorgestellten empirischen Befunde geben Aufschluss über die Verbreitung spezifischer Aspekte der Internet- und Social- Web-Nutzung unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Sie können aber für sich alleine genommen noch nicht verdeutlichen, wie es dazu kommt, dass das Social Web, insbesondere die Netzwerkplattformen, einen solchen Reiz ausüben. Aus einer kommunikationssoziologischen Sicht, die individuelles (Medien-)Handeln immer in soziale Bezüge eingebettet versteht, lautet die Antwort: Das Social Web stellt Werkzeuge bereit, um spezifische biografische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen (vgl. die Übersicht in Tabelle 6). Hinter dieser Erklärung steht die Einsicht der Sozialisationsforschung, dass Menschen im Prozess des Heranwachsens Antworten auf drei zentrale Fragen finden müssen: ➤ „Wer bin ich? “, also die Frage der Auseinandersetzung mit dem Selbst, den eigenen Wünschen, Hoffnungen und Vorstellungen für Gegenwart und Zukunft, ➤ „Wo stehe ich in meinem sozialen Umfeld? “, also die Frage nach der eigenen sozialen Einbettung und Position in Netzwerken von Bekannten und FreundInnen inklusive der Pflege von partnerschaftlichen Beziehungen, sowie N = 650 M W HS RS GYM Gesamt Ich achte darauf, dass keine Inhalte von mir im Internet stehen, die mir schaden könnten. 61,4 73,9 66,7 71,1 65,9 67,5 Es ist mir wichtig, mich im Internet so zu zeigen, wie ich wirklich bin. 59,6 70,1 66,7 66,3 63,3 64,8 Bestimmte Informationen über mich sind nur für meine Freunde bzw. Kontakte zugänglich. 48,2 64,2 64,9 56,8 52,6 56,0 Ich habe auch Profile, in denen ich mich ganz anders darstelle, als ich wirklich bin. 3,0 3,5 0,9 4,2 3,8 3,2 Tab. 4: Zustimmung zu Aussagen über Internetnutzung nach Geschlecht und Alter (in %) Erläuterung: Die Antwortvorgaben reichten von „stimme voll und ganz zu“ über “stimme weitgehend zu“ und „stimme weniger zu“ bis „stimme gar nicht zu“. Angegeben sind die Anteile, die „voll und ganz“ oder „weitgehend“ zustimmen. N = 650 M W HS RS GYM Gesamt Befragte/ r ist schon mal von jemandem im Internet belästigt worden 27 30 32 29 27 28 Jemand hat schon mal Fotos oder Informationen über Befragte/ n ins Internet gestellt, mit denen er/ sie nicht einverstanden war 14 11 15 13 12 13 Befragte/ r hat selbst schon einmal Dinge ins Internet gestellt, über die sich dann jemand beschwert hat 12 5 9 9 9 9 Tab. 5: Negative Erfahrungen mit dem Internet nach Geschlecht und Alter (in %) 248 uj 6 | 2011 Aufwachsen mit Internet ➤ „Wie orientiere ich mich in der Welt? “, also die Frage nach der Orientierung und Verarbeitung von Informationen und Wissen um die Welt und von eigenen Erfahrungen mit ihr. Diese drei zentralen Entwicklungsaufgaben sind zwar nicht per se auf die Jugendphase beschränkt, sondern können sich mehr oder weniger drängend auch in älteren Lebensphasen stellen. Doch gerade im Übergang von der Kindheit über das Jugendalter in das Erwachsen-Sein stellen sich diese Herausforderungen in besonderem Maße. Anwendungen des Social Web stellen medial vermittelte Kommunikations- und Interaktionsräume zur Verfügung, in denen NutzerInnen für ganz unterschiedliche Zwecke Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement betreiben können und somit - meist implizit - an Entwicklungsaufgaben „arbeiten“ können. Aus dieser Perspektive ist beispielsweise das Ausfüllen einer Profilseite auf einer Netzwerkplattform hochgradig relevant für das eigene Selbstbild: Was ist mir wichtig? Was macht mich aus? Was möchte ich anderen zeigen? Solche Praktiken des Identitätsmanagements sind meist nicht zu trennen vom Beziehungsmanagement, weil die Selbstdarstellung im Social Web in aller Regel für ein (zumindest vorgestelltes) Publikum geschieht, genauso wie Menschen ganz allgemein ihr Selbstbild immer nur in Auseinandersetzung mit wahrgenommenen Fremdbildern konzipieren können. Hinzu kommen Aspekte des Explizit-Machens von Kontakten und sozialen Beziehungen, inklusive der neu zu entwickelnden Konventionen für den Umgang mit möglicherweise unerwünschten Anfragen, die Social- Web-NutzerInnen ein Gefühl dafür geben, welche Position sie innerhalb ihrer sozialen Netzwerke haben. Schließlich liefert das Internet zahlreiche Werkzeuge, um sich in den ausufernden Informationswelten der Gegenwart zu orientieren und unter Umständen auch selbst Orientierungs- und Filterfunktionen zu übernehmen. Das kann bis zur aktiven Mitarbeit an onlinebasierten Wissensbeständen wie der Wikipedia reichen, doch bereits das Bewerten eines Videos auf YouTube liefert nachfolgenden NutzerInnen eine Orientierung, ob es sich nun um einen sehenswerten Clip handelt oder nicht. Entwicklungsaufgabe Kernfrage Handlungskomponente Beispielhafte Praktiken Selbstauseinandersetzung Wer bin ich? Identitätsmanagement Ausfüllen einer Profilseite auf Facebook Führen eines Weblogs über sein Au-Pair-Jahr im Ausland Sozialauseinandersetzung Wo stehe ich in meinem sozialen Umfeld? Beziehungsmanagement Bestätigen oder Ablehnen einer Kontaktanfrage Kommentieren der Fotos einer Klassenfahrt Sachauseinandersetzung Wie orientiere ich mich in der Welt? Informationsmanagement Bewerten eines Videos auf YouTube Recherchieren eines schulischen Themas in der Wikipedia Tab. 6: Korrespondenz von biografischen Entwicklungsaufgaben und Social-Web-Praktiken Quelle: Paus-Hasebrink/ Schmidt/ Hasebrink 2009 249 uj 6 | 2011 Aufwachsen mit Internet Die technischen Innovationen des gegenwärtigen Internets vereinfachen gewisse Praktiken des Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagements, erfordern aber auch spezifische Kompetenzen, um die Entwicklungsaufgaben erfolgreich bewältigen und potenzielle Risiken so weit als möglich minimieren zu können. Dies sei beispielhaft am sich wandelnden Verhältnis von Privatsphäre und Öffentlichkeit verdeutlicht: Netzwerkplattformen (und andere Räume des Social Webs) versetzen NutzerInnen in die Lage, sich ihre eigene persönliche Öffentlichkeit zu schaffen: Informationen werden nach dem Kriterium der persönlichen Relevanz ausgewählt und aufbereitet, unterliegen also nicht notwendigerweise journalistischen Selektions- und Präsentationskriterien. Der kommunikativen Absicht nach richten sich NutzerInnen damit an ein relativ kleines Publikum aus FreundInnen und Bekannten, die ihm als „bestätigte Kontakte“ auch bekannt sind. Während journalistische Öffentlichkeiten für ein disperses und unbekanntes Publikum publiziert werden, geht es in den persönlichen Öffentlichkeiten eher um das „Konversation treiben“. Neuigkeiten werden mitgeteilt, um das eigene erweiterte soziale Netzwerk auf dem Laufenden zu halten, Feedback zu bekommen und in Dialog zu treten. Aufgrund der bereits genannten Merkmale der onlinebasierten Kommunikation - Informationen sind dauerhaft gespeichert, kopierbar und durchsuchbar - lässt sich die wahre Reichweite der eigenen Äußerungen oder Daten jedoch oft nicht abschätzen: Das tatsächliche oder potenzielle Publikum bleibt unsichtbar und kann sich vom intendierten Publikum unterscheiden. Dies kann nicht nur dazu führen, dass unter Umständen solche Personen Zugriff auf Informationen haben, die gerade von den Heranwachsenden nicht erwünscht sind (z. B. die eigenen Eltern oder LehrerInnen), sondern auch zu Problemen führen, die erst nach einer gewissen Zeit sichtbar werden. Nach Monaten oder Jahren mit Äußerungen und Verhaltensweisen aus der Vergangenheit konfroniert zu werden, ob nun Einblicke in den Seelenzustand oder Eindrücke von der wilden Party, kann durchaus peinlich, im schlimmsten Fall aber auch problematisch bei Bewerbungsgesprächen sein. Ausblick Bereits jetzt sind einige Entwicklungen erkennbar, die die Gestalt des Internets und damit den Medienalltag der Jugendlichen von morgen prägen werden. Im Bereich der Kommunikation und der Beziehungspflege haben Netzwerkplattformen eine dominierende Position, die sich in den kommenden Jahren voraussichtlich noch ausbauen wird. Insbesondere der Marktführer Facebook verfolgt die Strategie, sich als zentrale Anlaufstelle von kommunikativen Aktivitäten innerhalb des sozialen Netzwerks seiner Nutzer zu etablieren. Dazu bietet die Plattform einerseits Schnittstellen, sodass beispielsweise andere Anbieter Spiele oder Werkzeuge für die projektbezogene Zusammenarbeit und Koordination in Facebook einbetten können. Andererseits stellt Facebook auch Funktionen zur Verfügung, um Inhalte direkt auf anderen Webseiten bewerten zu lassen; diese „Gefällt mir“-Information wird dann wiederum innerhalb von Facebook weiter verarbeitet. Kombiniert man diese Entwicklungen mit der immer stärkeren Einbindung von Ortsinformationen, weil mobile Endgeräte den Standort ihrer NutzerInnen kennen und sich dadurch dem Ort angepasste Inhalte ausgeben lassen, wird ein Szenario absehbar, in dem Menschen jederzeit wissen können, was ihre FreundInnen und Bekannten gerade wo tun, gut finden oder erleben. Für viele NutzerInnen wird es durchaus einen Reiz haben, Informationsbedürfnisse a là „Welche Filme kann ich heute in den Kinos im Umkreis von 30 Minuten Fahrzeit 250 uj 6 | 2011 Aufwachsen mit Internet Literatur Boyd, D./ Ellison, N., 2007: Social network sites: Definition, history, and scholarship. In: Journal of Computer-Mediated Communication, Jg. 13, Nr. 1, Artikel 11. http: / / jcmc.indiana.edu/ vol13/ issue1/ boyd.ellison.html Palfrey, J./ Gasser, U., 2008: Generation Internet. Die Digital Natives. Wie sie leben, was sie denken, wie sie arbeiten. München Paus-Hasebrink, I./ Schmidt, J.-H./ Hasebrink, U., 2009: Zur Erforschung der Rolle des Social Web im Alltag von Heranwachsenden. In: Schmidt, J./ Paus-Hasebrink, I./ Hasebrink, U. (Hrsg.): Heranwachsen mit dem Social Web. Zur Rolle von Web 2.0-Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Berlin, S. 13 - 40 Schmidt, J./ Paus-Hasebrink, I./ Hasebrink, U. (Hrsg.), 2009: Zur Rolle von Web 2.0-Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Berlin sehen, und welche davon haben meine FreundInnen empfohlen? “ befriedigen zu können. Gleichzeitig entstehen in solchen vernetzten Öffentlichkeiten auch bislang unvorstellbare Datenbanken mit teilweise sehr detaillierten Informationen über den Einzelnen. Es wird daher in Zukunft eher noch dringlicher, die Reflexionsfähigkeit der Jugendlichen (aber nicht nur der) in Hinblick auf den Umgang mit den Werkzeugen des Social Web zu stärken, also Medienkompetenz über die bloße technische Bedienkompetenz hinaus zu vermitteln. Dr. Jan-Hinrik Schmidt Hans-Bredow-Institut für Medienforschung Warburgstraße 8 - 10 20354 Hamburg j.schmidt@hans-bredow-institut.de
