unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2011.art29d
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Die Funken aus dem grauen Stein des Lebens schlagen Stationäre Familienhilfe - ein Raum für gemeinsame Lern- und Entwicklungsprozesse
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Rüdiger Pieper
Familiäre Entwicklung unter die Lupe nehmen, den Zoom auf das System Familie richten und die entdeckten Potenziale stärken: Stationäre Familienhilfe als Impulsgeber für das (Wieder)Erlangen positiver Lebensbedingungen in krisenbelasteten Familiensystemen.
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265 unsere jugend, 63. Jg., S. 265 - 276 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art29d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die Funken aus dem grauen Stein des Lebens schlagen Stationäre Familienhilfe - ein Raum für gemeinsame Lern- und Entwicklungsprozesse Familiäre Entwicklung unter die Lupe nehmen, den Zoom auf das System Familie richten und die entdeckten Potenziale stärken: Stationäre Familienhilfe als Impulsgeber für das (Wieder)Erlangen positiver Lebensbedingungen in krisenbelasteten Familiensystemen. von Rüdiger Pieper Jg. 1958; Dipl.-Sozialpädagoge/ Sozialarbeiter, Familientherapeut, Mitarbeiter einer Jugendhilfeeinrichtung im Bereich Familienhilfe Im Waisenstift Varel als traditioneller Jugendhilfeeinrichtung sind seit 1996 im Bereich „Hilfe für Familien“ ergänzende Angebote insbesondere unter dem Aspekt familienaktivierender Beteiligung etabliert. In diesem Rahmen haben wir u. a. mit der Stationären Familienhilfe eine Hilfeform geschaffen, die Familien, bei denen sich die bisherige ambulante Unterstützung als nicht ausreichend gezeigt hat und bei denen die Trennung von einzelnen Familienangehörigen unmittelbar bevorzustehen droht, die Möglichkeit eröffnet, als ganzes System die Verantwortung für Veränderung und Weiterentwicklung zu übernehmen. Nicht mehr die einzelne Person als vermeintlicher Symptomträger steht im Mittelpunkt, sondern die gesamte Familie bzw. Lebensgemeinschaft. In dem von uns entwickelten Setting haben wir bis März 2010 insgesamt 28 (Teil)Familien mit über 70 Kindern betreut. Ausgangspunkt der Stationären Familienhilfe war die seinerzeit angedachte Unterbringung einer fünfköpfigen Geschwisterreihe in unserer Einrichtung. Nach Auswertung dieser Maßnahme haben wir die Rahmenbedingungen konsequent verändert und weiterentwickelt (vgl. Pieper 2000 und 2003). Begegnung mit Unfreiwilligkeit Die Familien, die vor der Frage stehen, ob sie sich auf die Stationäre Familienhilfe einlassen können, sind in der Regel eingeschränkt in ihren Entscheidungsmöglichkeiten. Sie erklären ihre Bereitschaft zur Maßnahme in der Regel nicht aus Freiwilligkeit oder Problemeinsicht. Sie finden sich häufig zunächst offenbar nicht aus eigenem Antrieb für die Durchführung einer solchen Maßnahme bereit. Zwar gibt es durchaus Aufnahmeanfragen, die sich aus gemeinsam mit der jeweiligen Familie kommunizierten Vorüberlegungen von ASD-MitarbeiterInnen als Unterstützungsmöglichkeit herleiten lassen. Bei den allermeisten Anfragen steht hingegen eine familiengerichtliche Anhörung 266 uj 6 | 2011 Stationäre Familienhilfe unmittelbar bevor oder ist angedacht. In einzelnen Fällen kam die Zuweisung zu einer Maßnahme direkt vom Familiengericht. Die Durchführung einer Maßnahme im Rahmen der Stationären Familienhilfe kann für die Beteiligten entsprechend eine Chance bedeuten, als Familie miteinander leben zu können. Sofern die Maßnahme vor dem Hintergrund möglicher familiengerichtlicher Relevanz angefragt wird, steht für uns zunächst die Frage im Raum, wie wir mit einem System umgehen, das sich (vorgeblich) nicht freiwillig zu ändern bereit ist und wie dieser Zwangskontext strukturiert werden muss, dass daraus funktionale Beziehungen entstehen können. Was können wir tun, um Menschen dazu zu bewegen, etwas zu tun, was sie sonst nicht tun würden; oder sie dazu zu bringen, etwas zu lassen, was sie sonst nicht lassen würden? Entscheidungsprozesse und Kontraktgestaltung Die Würdigung der Entscheidung der Familie, sich auf die Stationäre Familienhilfe einzulassen, stellt einen wesentlichen Aspekt des Prozesses dar. Ihre Bereitschaft werten wir als Signal für deren Veränderungsbereitschaft, und sie stellt den Ausgangspunkt aller weiterführenden Interventionen dar. Weitergehende Motivation von Eltern wird nicht vorausgesetzt oder erwartet, sondern therapeutisch erzeugt. Nach vollzogenem Einzug in die Einrichtung müssen wir die Familie deshalb innerhalb kürzester Zeit dafür gewinnen, die als notwendig beschriebenen Veränderungsprozesse aktiv zu gestalten. Dazu ist es nötig, dass wir schon im Vorfeld zur möglichen Kontraktgestaltung klar und präzise arbeiten. Dies gilt sowohl in Bezug auf Überlegungen des zu akquirierenden Fachpersonals als auch dahingehend, wie sich die Bedingungen für die angestrebte Zielerreichung und die zeitliche Perspektive miteinander verknüpfen lassen. Hier ist es wichtig und notwendig, eine größtmögliche Klarheit hinsichtlich der Auftragslagen, Zielstellungen und Überprüfungskriterien zu erarbeiten. In einem gemeinsamen Prozess werden die unterschiedlichen Rollen geklärt und vereinbart. Es werden eindeutige Ziele, Prüfkriterien und Zeiträume vereinbart und festgehalten, welche Schritte bis wann von wem mit welchem Ergebnis und welchen Methoden angestrebt werden und welche Konsequenzen das Erreichen oder Nichterreichen dieser Ziele hat. Die Familienmitglieder werden hierbei aktiv mit einbezogen. Mitwirkung und Nichtmitwirkung hat vorher vereinbarte Konsequenzen. In der Positionierung der unterschiedlichen Rollen wird verdeutlicht, dass sie, die Eltern, die Konsequenzen bestimmen. Wir als Maßnahmeträger stellen ihnen hingegen das fachliche Know-how zur Verfügung, das den Familienmitgliedern ermöglichen soll, die angestrebten Ziele erreichen zu können. Seitens des Jugendamtes muss deutlich benannt werden, inwiefern das Wohl der Kinder nicht gesichert ist und welche Voraussetzungen mindestens gegeben sein müssen, damit es zu einer anderen Einschätzung gelangen kann. Damit steckt das Jugendamt im Sinne des staatlichen Wächteramtes den Rahmen, innerhalb dessen eine individuelle, maßgeschneiderte Hilfe entwickelt werden kann, die auf Aktivierung der Eltern und Reduzierung elementarer Problemstellungen zielt. Die Verteilung der Verantwortung wird entsprechend immer vorab geklärt. In der Gestaltung unserer Maßnahmen hat sich in Bezug auf den Kontext der Unfreiwilligkeit in der Kooperation von öffentlichem Träger und Maßnahmeträger diese klare Rollendifferenzierung bewährt. Danach übernimmt das Jugendamt eindeutig die hoheitlichen Aufgaben. Die Einrichtung als Maßnahmeträger erarbeitet innerhalb dieses Rahmens mit der Familie die individuelle Ausgestaltung des Hilfekontrakts. Darin sind die wesentlichen Ziele enthalten, die auch von der Familie mitgetragen werden. Für die Entwicklung eines solchen Kontraktes kann 267 uj 6 | 2011 Stationäre Familienhilfe z. B. das gemeinsame „Beweisen“, dass das Kindeswohl wieder gesichert und damit der Zwangskontext nicht mehr notwendig ist, ein übergeordnetes Ziel sein, das sowohl von den Eltern als auch den Fachkräften der Einrichtung getragen wird. Bedeutsam ist, bereits an dieser Stelle etwaige Prüfkriterien zu benennen. Der Maßnahmeträger ist entsprechend hinsichtlich etwaiger kindeswohlrelevanter Einschätzungen kein Entscheidungsträger, sondern befindet lediglich darüber, ob im Rahmen der Auftragsgestaltung zielführend gearbeitet wird. Sofern sich aus der Problembeschreibung Kontrollaufträge herleiten, werden diese explizit als solche benannt (z. B. Form und Umfang). Dies bezieht sich beispielsweise auf die Überprüfung von körperlicher Unversehrtheit oder einer angemessenen und ausreichenden Versorgung der Kinder etc. Um im Prozessverlauf konstant aktivierende Wirkung erreichen zu können und die Familien zu den von außenstehenden Dritten als notwendig erachteten Veränderungen bewegen zu können, bedarf es der Erfüllung wesentlicher Voraussetzungen. Die Beobachtungen, mit welcher Sensibilität die Familienmitglieder auf für sie nicht nachvollziehbare Entscheidungen reagieren, fordert uns insbesondere unter den Voraussetzungen des Zwangskontextes dazu auf, während des gesamten Prozessverlaufs eine umfassende Transparenz mit zeitnahen Rückkopplungsprozessen sicherzustellen. So ist gerade die Beteiligung an der Erstellung von Berichten und die Durchsichtigkeit und Klarheit darüber, welche familienbezogenen Informationen an wen weitergegeben werden, für die Eltern ein wichtiges Thema und von besonderer Brisanz, wenn überdies Entscheidungen vor dem Familiengericht anstehen. In der Praxis hat es sich zudem als sinnvoll erwiesen, die Bedingungen des Zwangskontextes über die Anfangsphase hinaus auch im weiteren Hilfeverlauf präsent zu halten, um Veränderungen in der Lebensgestaltung und Erziehungstätigkeit der Eltern gemeinsam feststellen zu können. Das bedeutet nicht zwangsläufig, beispielsweise Kontrollaufträgen durchgängig nachzukommen. Vielmehr geht es darum, die Eltern in ihrer Rolle der Verantwortung für den Prozess und dem vermeintlichen Ergebnis ernst zu nehmen und zu bestätigen. Es hat sich nicht nur bewährt, sondern ebenso als notwendig erwiesen, auf der Teamebene einen stetigen Informationsfluss zu gewährleisten, um Unsicherheiten und Misstrauen gegenüber den Fachkräften entgegenzuwirken. Zuverlässigkeit, Transparenz und Kooperation innerhalb des Fachteams vermitteln den einzelnen Familienmitgliedern Sicherheit und können verhindern, dass die Beteiligten inkonsistente Reaktionen erfahren, die ggf. ungünstige Lernmuster verstärken können. In den bisherigen Maßnahmen zeigte sich, dass die Familienmitglieder außerordentlich sensibel auf vermeintliche Missstimmung oder Uneinigkeit im Team reagierten und sich gleichsam die Einladungen an Fachkräfte zu Verstrickungen potenzierten. Hier gilt es für die Fachkräfte darauf zu achten, diese Einladungen als solche wahrzunehmen, ihnen adäquat zu begegnen und darüber nicht in etwaige Loyalitätskonflikte zu geraten. Die beteiligten Fachkräfte müssen sich aber darüber bewusst sein, dass sie mit Beginn der Maßnahme eine hohe Verantwortung für die Lebensführung der Familienmitglieder übernehmen. Dies gilt es insbesondere hinsichtlich einer etwaigen Einschätzung der Autonomiebedürfnisse der Familienmitglieder als auch in Bezug auf deren Veränderungsmotivation zu berücksichtigen. Der von den Familienmitgliedern anfangs vermeintlich befürchtete und ggf. als ungerechtfertigt erlebte Eingriff in ihre Privatsphäre kann mitunter bei ihnen zu dem Gefühl führen, nicht verstanden und angenommen zu werden. Vor dem Hintergrund eines solchen Grundgefühls lassen sich ggf. auch Distanz schaffende Abgrenzungsversuche der Familienmitglieder herleiten. Das erste Ziel - und nicht die Voraussetzung - zu Beginn einer Maßnahme ist es also, den Familienmitgliedern derlei Angebote 268 uj 6 | 2011 Stationäre Familienhilfe zu unterbreiten, die Hemmnisse im Sinne von Wissensdefiziten, irrigen Maßnahmeerwartungen oder Ängsten, etwaigen Anforderungen nicht gerecht werden zu können, aus dem Weg räumen helfen. In diesem Zusammenhang werden beispielsweise die Arbeitseinheiten und Besuchskontakte im Vorhinein und damit planbar terminiert, es finden keine unangemeldeten Besuche statt etc. Der Familie verbleiben zwischen den Arbeitssequenzen genügend Freiräume. Die Verantwortung für die Alltagsgestaltung inklusive der eigenen Versorgung obliegt während des gesamten Prozesses der Familie. Darüber ist zudem gewährleistet, dass ein realistischer Lebensweltbezug aufrechterhalten bleibt. Ressourcenorientierung Das im Rahmen der Stationären Familienhilfe praktizierte ressourcenorientierte Arbeiten basiert auf einer konsequenten Kompetenz- und Zielorientierung, ohne dass dabei wichtige Aspekte des Problemerlebens ausgeblendet werden. Es gründet sich auf dem Prinzip ressourcenorientierter Selbstbefähigung (Empowerment). Wir gehen zunächst davon aus, dass grundsätzlich jeder Mensch über ausreichend Ressourcen verfügt, seinen Alltag selbst zu bewältigen. Diese Ressourcen sind in unterschiedlichem Maße für die einzelnen Familienmitglieder zugänglich und nutzbar. Im Kontext der Stationären Familienhilfe gewinnt Ressourcenorientierung in mehrfacher Hinsicht an Bedeutung. So richtet sich unsere Diagnostik darauf aus, zu ermitteln, über welche Ressourcen die einzelnen Teile des Familiensystems aktuell verfügen. Ressourcendiagnostik praktizieren wir mittels unterschiedlicher methodischer Zugänge wie dem Einsatz von Fragebogeninventaren und gestalterischen Elementen, Aufstellungen, dem authentischem Interesse an den Wirklichkeitskonstruktionen, unserer Neugier an den Beschreibungen der Lebenswelten der Familienmitglieder usw. Erweiternd prüfen wir, inwieweit sich die als notwendig beschriebenen Anforderungen in angemessener Weise von den einzelnen Familienmitgliedern mit den vorgefundenen bzw. zugänglichen Ressourcen bewältigen lassen. Darüber wird deutlich, in welchen Bereichen der aktuellen Problembeschreibungen eine Erweiterung des vorhandenen Repertoires an Bewältigungskompetenzen und die Entwicklung neuer Lösungsstrategien erforderlich ist. Die Aktivierung von Ressourcen als das Sichtbarmachen verborgener Stärken, Fähigkeiten und Gewohnheiten wird unterstützt durch zeitnahe Feedbacksequenzen, durch unmittelbare, situative Rückmeldungen sowie durch das Hervorheben erfahrbarer Kompetenzen. Die Eigenkompetenz stärken wir auch dadurch, dass die Fachkräfte die Familienmitglieder für erfolgreich bewältigte Anforderungen und Aufgaben sensibilisieren. Gleichsam nutzen wir wöchentliche, ritualisierte Familiengespräche und die Hilfeplanung als ressourcenaktivierende Elemente. Eine ressourcenorientierte und die Familienmitglieder aktiv beteiligende Hilfegestaltung schließt entsprechend an die (gemeinsam) entdeckten, bereits verfügbaren und nutzbaren Ressourcen und erfolgreich erlebte Bewältigungskonzepte wie z. B. situativ angemessene Kommunikationsfähigkeit im Umgang mit anderen Menschen oder erfolgreich praktizierte Momente der Alltagsgestaltung an. Beteiligung und Mitwirkung als Kernpunkte und maßgebliche fachliche Standards der Stationären Familienhilfe stellen einen wichtigen Gelingensfaktor der Prozessgestaltung dar. Gestaltung der Hilfeplanung Die Gestaltung der Hilfeplanung gründet sich zu allererst auf der Achtung jeweiliger Lebenskonzepte, sofern sie das Kindeswohl nicht beeinträchtigen. Daneben erfährt die Anerkennung und Wertschätzung der eigenen Bemü- 269 uj 6 | 2011 Stationäre Familienhilfe hungen der Familienmitglieder und ihrer Lösungskonzepte eine entsprechende Bedeutung. Mit Blick auf die Beschreibung der Hilfe- und Entwicklungsbedarfe spielen die Erschließung von Ressourcen und die Entwicklung von Kompetenzen zu deren Nutzung eine zentrale Rolle. Des Weiteren lenkt die ressourcenorientierte Haltung im gesamten Hilfeprozess den Blick auf die gelingende Alltagspraxis der Familienmitglieder, darauf wird immer wieder beispielhaft Bezug genommen. Exemplarische Sequenzen relevanter Muster und erfolgreich gestalteter Abläufe werden so beispielsweise über bildhafte Beschreibungen im Rahmen der Hilfeplanfortschreibung dargestellt. Diese Beschreibungen bieten sich einerseits an, die beobachteten und wahrgenommenen Kompetenzen über den besonderen Darstellungsrahmen gesondert zu würdigen. Andererseits lädt die beschreibende Form Familienmitglieder und Fachkräfte dazu ein, diese Bilder durch eigene Ergänzungen bzw. Hinzufügen individueller Sichtweisen auszuschmücken, facettenreicher zu gestalten etc. In der Auswertung bisheriger Maßnahmen lässt sich feststellen, dass es den Familienmitgliedern über diese Vorgehensweise häufig gelungen ist, den Zugang zu den eigenen Ressourcen zu erweitern und diese im Laufe des lösungs- und ressourcenorientierten Prozesses zielbezogener einzusetzen. Davon ausgehend, dass angestrebte Veränderungen auf der Handlungsebene, ebenso wie die Entwicklung von neuen Kompetenzen und Sichtweisen, sich in ihrer Anschlussfähigkeit immer an dem Gegebenen orientieren, bedeutet die Fokussierung auf die Ressourcen für die Aushandlung von Hilfezielen, dass die Wahrnehmung der bereits verfügbaren und nutzbaren Kompetenzen immer auch die Ausgangsposition für ihre mögliche Erweiterung darstellt. Lernprozesse und Veränderung vollziehen sich somit in der sukzessiven Erweiterung vertrauter Handlungsmuster. Für die vorab als notwendig beschriebenen Veränderungsbedarfe gilt es, sich entsprechend auf die diesbezüglich beobachteten Kompetenzen zu beziehen und die Familienmitglieder für deren Nutzbarkeit im Hinblick auf die Zielstellungen zu sensibilisieren. Dabei geht es zunächst um die Fragestellungen, wie sich das, was ich bereits kann, wahrnehmen lässt. In den anfänglichen, noch eher offen gehaltenen Ressourcenabfragen können wir feststellen, dass es Familienangehörigen häufig schwer fällt, eigene Fertigkeiten zu erkennen („ich weiß nicht, was ich gut kann“) bzw. diese zu benennen („das kann doch jeder, das ist doch nichts Besonderes“). Im Prozessverlauf müssen wir entsprechend zunächst erwirken, dass die Familienmitglieder die eigenen Fähigkeiten als solche anerkennen. Dann gilt es, als Basis weiteren Kompetenzerwerbes diese Wahrnehmung zu nutzen, um darauf aufbauend überschaubare und erreichbare Entwicklungsschritte zu formulieren. Im Hinblick auf eine etwaige Neuaushandlung oder Nachjustierung der zu bearbeitenden Zielstellungen und Auftragslagen gilt es dann für uns herauszuarbeiten, auf welche diesbezüglichen Veränderungen sich die Kindeseltern einlassen, wie sie auf eine ihnen zugängliche Art diesem Ziel näherkommen können und auf welche Ressourcen sie dabei zurückgreifen können. Dabei darf die Gewährleistung von förderlichen Entwicklungsbedingungen für die Kinder nicht aus dem Blick geraten. Die intensive Hilfeplanung nutzen wir unsererseits dabei ebenso als Instrument stetiger Rückkopplung wie wir den diesbezüglichen Entwicklungsstand und die im Bezug zu den Zielstellungen getätigten Beobachtungen kommunizieren. Aktive Überprüfung der Entwicklung Als weiteres aktivierendes Element nutzen wir die wöchentlichen Familiengespräche. Sie erzielen einerseits durch ihre regelmäßige und 270 uj 6 | 2011 Stationäre Familienhilfe wiederkehrende, ritualisierte Rahmung und Strukturgebung eine beziehungsstabilisierende Wirkung („egal, was passiert ist, sie sind immer wieder zu uns gekommen“). Andererseits bieten sie den Familienmitgliedern eine verlässliche Ebene mit der Möglichkeit des gegenseitigen Austausches. Sie werden dahingehend gestaltet, als dass darin gegenseitige Rückmeldungen und eine jeweilige Prozessreflexion unter dem Aspekt einer Einschätzung des Ist-Standes fest etabliert sind. Die einzelnen Familienmitglieder äußern sich darüber, was sie im Verlauf des zu beschreibenden Zeitraums als positiv erlebt haben, worauf die Familienmitglieder stolz waren, was sie für sich erreicht haben etc. Demgegenüber gestellt wird das Erleben der Fachkräfte. Erweiternd gibt es einen Austausch über noch zu tätigende Veränderungen und über das, was nicht dem Einverständnis des jeweiligen Gegenübers entsprach. Im Verlauf einer Maßnahme lässt sich häufig beobachten, wie sich hier die Gewichtungen verändern. Während es den Familienmitgliedern oftmals anfänglich schwer fällt, die Ressourcenseite zu füllen, scheint es ihnen zunächst leichter zu fallen, sich zu beklagen. Für uns bieten diese „Meckerrunden“ die Möglichkeit, sich negativ und problemfokussiert äußern zu können. Dies scheint bei den Familienmitgliedern zunächst eher zu einer Ausgeglichenheit und Balance zu führen und kann z. B. der Verzweiflung und dem Ärger über schlimme Vergangenheiten Raum geben. Für die Fachkräfte spielt in diesem Zusammenhang der Perspektivwechsel vom Ärger(Problem)zustand auf einen möglichen Lösungszustand eine wichtige Rolle, eine Fokussierung auf das Zukünftige im Sinne einer Zielorientierung geht damit einher. Etwaige Korrekturen des Hilfeplans Uns geht es gerade hinsichtlich der Klärung des etwaigen Veränderungsbedarfs auch darum herauszuarbeiten, was „stattdessen“ sein soll, also um eine Beschreibung des anderen, das angestrebt wird bzw. erreicht werden soll. Hier bieten sich im Rahmen der Familiengespräche exemplarische Sequenzen auch für maßnahmerelevante Zielstellungen. Die Familienmitglieder werden entsprechend darin unterstützt, das Formulieren des „stattdessen“ entsprechend positiv vorzunehmen. Da über diese Zielformulierungen mögliche Lösungen vorweggenommen und denkbar werden sollen, geht die Unterstützung auch dahin, möglichst konkrete Formulierungen zu finden. Sie sollen sich nicht aus der Negation des für sie aktuell Schwierigen oder Problematischen ableiten. Ebenso wird ein Bezug auf die bereits festgestellten Fähigkeiten und Fertigkeiten hergestellt. Die Fragen, woran zu erkennen ist, dass „das andere“ - das Ziel - erreicht ist bzw. welche Ressourcen dafür genutzt werden können, unterstützen bei der Konkretisierung. Dennoch können wir immer wieder erleben, wie sich das „stattdessen“ durchaus kurzfristig und unabhängig von Maßnahmevereinbarungen verändern kann. Wir müssen entsprechend beachten, welche hohe Anstrengung es für die Familienmitglieder bedeutet, im Verlauf des Prozesses immer wieder Zielstellungen nachzujustieren und im Sinne der Fachkräfte „überprüfbar“ zu gestalten. In unserem Verständnis stellt dementsprechend ein den Familienmitgliedern zu konstatierendes diesbezügliches Bemühen zur Zielformulierung bereits eine mögliche Lösungsoption im Hinblick auf die angestrebte Veränderung dar. Die Aufgabe der Fachkräfte besteht hier u. a. darin, immer wieder Klarheit darüber herzustellen, wer welche Verantwortung für die Zielerreichung trägt und wer dafür welchen Beitrag zu leisten hat. Resümierend lässt sich konstatieren, dass die Konkretisierung überprüfbarer Ziele in Verbindung mit der definierten Zeitperspektive einen wichtigen Orientierungsrahmen dahingehend bildet, was den einzelnen Familienmitgliedern zugetraut wird und was von ihnen erwartet wird. 271 uj 6 | 2011 Stationäre Familienhilfe Rückmeldung und konstruktiver Umgang mit Kritik Ressourcen- und Lösungsorientierung bedeutet in unserem Verständnis nicht, dass kritische Aspekte gegenüber den Familienmitgliedern unausgesprochen bleiben. In unserer Praxis können wir immer wieder erleben, dass das Äußern von Kritik bzw. weniger positive Rückmeldungen in einer von Achtung, Respekt und Wertschätzung geprägten Haltung bei den Familienangehörigen anschlussfähig ist. Gerade das Nebeneinander von als positiv erlebten Rückmeldungen und dem unmittelbaren, zeitnahen Ansprechen kritischer Aspekte erleben die Familienangehörigen vielfach für sich als neue Erfahrungen. Wichtig erscheint uns darüber hinaus, dass in den Rückmeldungen eine Sprache gefunden und angewandt wird, die Bewertungen möglichst vermeidet und bei der die Fachkräfte sich konsequent auf einer beschreibenden Ebene bewegen. Sofern allerdings etwaige Positionierungen (beispielsweise hinsichtlich konkreter Handlungsanweisungen oder festgestellter Grenzbzw. Regelverletzungen o. Ä.) notwendig sind, müssen diese eindeutig und klar formuliert werden. Derartige Rückmeldungen können von den meisten Familienmitgliedern angenommen werden, insbesondere wenn sich eine Ebene der Aufrichtigkeit und des Vertrauens zwischen ihnen und den Fachkräften entwickelt hat. Wir können immer wieder feststellen, dass die Familienmitglieder ein Gespür und eine hohe Sensibilität für die anstehenden Themen haben. Sie wirken häufig erleichtert und entlastet, wenn relevante Themen unmittelbar und in beschriebener Klarheit angesprochen werden. In den Auswertungen bisheriger Maßnahmen hat sich als zentraler Maßstab für die Akzeptanz und Glaubwürdigkeit der Fachkräfte dargestellt, inwieweit sie von den Familienmitgliedern als kongruent in ihrem Reden und Handeln wahrgenommen werden. Die Intervalle zwischen den jeweiligen Hilfeplangesprächen sowie deren Gestaltung werden ebenfalls als Instrument einer ressourcenorientierten Aktivierung und als Möglichkeit für Prozess steuernde Interventionen verstanden und genutzt. Interventionen zu planen beinhaltet, sich vorzustellen, durch welche Art der Arbeit im System die angestrebten Impulse entstehen können. Intervenieren bedeutet für uns dabei mehr als Methodenauswahl. Es setzt allerdings Methodenkenntnisse ebenso voraus wie Ideenreichtum, Mut, Experimentierfreude und Anschlussfähigkeit an das System. Dazu wird beispielsweise zunächst auf Teamebene anhand der Auftragslage und der individuellen Zielstellungen reflektiert und ausgewertet, was im Berichtszeitraum und mittels welcher Methoden erreicht werden konnte (wo gab es welche Zugänge? ) und wo sich weitere Bedarfe gezeigt haben. Die beschreibbaren Veränderungen werden dabei ebenso systematisch aufgelistet wie etwaige Risikofaktoren und Zielvorgaben (Visionisierung) für den nächsten anstehenden Berichtszeitraum. In vorbereitenden Gesprächen wird diese Vorlage auf der Ebene Familie - Fachkräfte des Maßnahmeträgers miteinander abgeglichen. Die Familie sieht sich mit den unterschiedlichen Perspektiven einzelner Fachkräfte konfrontiert, kann aber auch etwaige Übereinstimmungen in deren Einschätzungen eher nachvollziehen. Gleichsam hat sie die Möglichkeit, ggf. eigene Sichtweisen hinzuzufügen und daneben zu stellen. Die Einschätzungen der Familie werden kenntlich gemacht und unkommentiert hinzugefügt. Den VertreterInnen der Kostenträger geht diese Vorlage zur Vorbereitung des Hilfeplangesprächs zu. Das Hilfeplangespräch erhält damit den Charakter eines Austausches unterschiedlicher Sichtweisen und ermöglicht somit allen Beteiligten erweiterte Möglichkeiten bei den Zielverhandlungen bzw. deren etwaiger Nachjustierung. Die Familienmitglieder werden wegen dieses Vorgehens anfänglich häufig als eher unsicher erlebt. Die vermeintliche Gleichrangigkeit als Verhandlungspartner wirkt auf die Familienmitglieder zunächst oftmals auch deshalb irritierend, weil sie sich weniger gegenüber vorherigen, von Dritten vorgenommenen Bewertungen erklären müssen (Aufhebung der „Down-Posi- 272 uj 6 | 2011 Stationäre Familienhilfe tion“). Je mehr sie sich in der Lage sehen, das Herausstellen der Bedeutung der eigenen Person für die Zielerreichung wahrzunehmen, wandelt sich die anfängliche Unsicherheit ob dieser Vorgehensweise in Spannung und Neugier („wie wird mein Zeugnis diesmal ausfallen? “). Die Rückmeldungen der Familienmitglieder zu dieser Vorgehensweise waren bisher ausnahmslos positiv. Sie bezogen sich auf das von ihnen erlebte Ernstgenommenwerden - sowohl in ihrer Person als auch in ihren Anliegen - und die ihnen entgegengebrachte Aufrichtigkeit und Klarheit. Etwaige kritische Einschätzungen der Fachkräfte waren für sie durch beschriebene Vorgehensweise leichter annehmbar bzw. konnten als individuelle Sichtweisen eingeordnet werden. Entpersonifizierte und pauschalisierende Zuschreibungen wie z. B. „das Jugendamt“ ließen sich entsprechend reduzieren und vorherige Kampfmuster zwischen Familie und JugendamtsmitarbeiterInnen aufweichen. Die Relevanz der Teamgestaltung für den Prozessverlauf Das Betreuungsarrangement für die Stationäre Familienhilfe wird entsprechend den fachlichen Einschätzungen sowie der daraus resultierenden Auftragslage für jeden Einzelfall individuell gestaltet. In der Regel wird eine Betreuung unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten von bis zu sechs MitarbeiterInnen für die gesamte Dauer der Maßnahme geleistet. Der Familie steht während des gesamten Prozessverlaufs darüber hinaus durchgängig eine Rufbereitschaft zur Verfügung. Neben den für die Prozessgestaltung und -steuerung sowie die Maßnahmeabwicklung fest zugeordneten Fachkräften wird je nach Auftragsgestaltung weiteres Fachpersonal akquiriert. Bedarfsweise gelangen zusätzlich Fachdienste wie z. B. Frühförderung, Familienhebamme zeitbzw. auftragsbezogen zum Einsatz. Diese Fachkräfte werden ggf. explizit auch unter dem Gesichtspunkt einer größtmöglichen inhaltlichen Beteiligung und Einbezogenheit vom Maßnahmeträger eingestellt. Die Aufträge und die Arbeitsebenen, auf denen sich die einzelnen Fachkräfte vorrangig bewegen, werden zu Beginn der Maßnahme festgelegt (z. B. Arbeit auf der Metaebene, der Elternebene, der Eltern-Kind-Ebene, der Kinderebene). Das eingesetzte Personal arbeitet eigenverantwortlich und konsequent auftragsbezogen. Die Teamhierarchie gestaltet sich dementsprechend flach. Die Gestaltung der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Berufsgruppen und das Zusammenführen deren unterschiedlichen Schwerpunkte sowie der Arbeit an den Zielen erfolgt mit großer Sorgfalt. Dabei müssen sich die verschiedenen Berufsgruppen mit ihren besonderen Kenntnissen und Sichtweisen und mit den eigenen Anteilen an der Gesamtgestaltung selbstkritisch auseinandersetzen. In den regelmäßigen Prozessreflexionen wird zudem geprüft, welche Rollen der Familie durch die Fachkräfte angeboten werden bzw. welche besetzt sind und welche Zugangsmöglichkeiten zum System sich jeweils bieten. Hierbei muss die Komplexität der unterschiedlichen Aufträge gerade in ihren Wechselwirkungen berücksichtigt werden. Die individuelle Auftragsbearbeitung orientiert sich somit immer an einer „übergeordneten“ Zielstellung, deren etwaiges Erreichen das Ergebnis aller am Prozess Beteiligten darstellt. In der Arbeit mit dem Familiensystem bietet uns die Teamgestaltung Handlungsoptionen auf unterschiedlichen Ebenen. Wir können mittels der Teammitglieder beispielsweise das familiäre System auf einer Metaebene spiegeln, indem die Fachkräfte im fachlichen Austausch die Positionen und Perspektiven der einzelnen Familienmitglieder einnehmen und deren Anliegen vertreten. Die Komplexität der unterschiedlichen Zielstellungen lässt sich somit bildhaft darstellen. In Umkehrung lassen sich unterschiedliche Zugänge zum Familiensystem oder zur Überprüfung der entwickelten Arbeitshypothesen ebenso herstellen wie sich hinsichtlich der Gestaltung möglicher Interventionen entsprechende Variationsmöglichkeiten bieten. 273 uj 6 | 2011 Stationäre Familienhilfe Neben der auftragsbezogenen Begegnung erleben uns die Familienmitglieder nicht ausschließlich als Fachkräfte, sondern auch als am Prozess beteiligte Personen, die sich mit ihrem eigenen Profil und mit eigenen Interessen einbringen. Den von den unterschiedlichen Fachkräften eingebrachten Geschichten kommt insofern eine besondere Bedeutung zu, weil sie bei den Familienmitgliedern zusätzliche Bilder, Ideen, Erinnerungen entstehen lassen. Unserem Verständnis entsprechend begreifen wir das Team als einen Ort des gemeinsamen „Voneinander-Lernens“. Dies bezieht sich sowohl auf die Ebene der Professionen (wer bringt welche persönlichen und fachlichen Kompetenzen ein? was kann ich dabei für mich lernen bzw. neu oder anders erfahren? ) als auch auf die Ebene des Familiensystems (welche der von den Familienmitgliedern gewählten Lösungen begeistern mich? ). Die explizit vorgenommene Teamzusammenstellung erhält uns die Neugier auf den beginnenden Prozess, sowohl teamintern als auch bezogen auf die Prozessgestaltung mit der Familie. Sie eröffnet für jeden Beteiligten neue Lernfelder. Die kurzfristige Akquisition von qualifizierten Fachkräften für eine zeitlich befristete Maßnahme und deren ausreichende Vorbereitung auf die anstehenden Aufgaben stellt sich als eine große Herausforderung dar. Teamfindung und Teamentwicklung müssen in einer relativ kurzen Zeitspanne und für einen überschaubaren Zeitrahmen realisiert werden. Um über die gesamte Maßnahme den Familien eine Kontinuität in den Beziehungen zu sichern sowie hohes Engagement und Motivation der beteiligten Fachkräfte in diesem überaus komplexen und ob der Themenstellungen mitunter an persönliche Grenzen führenden Arbeitsfeld zu gewährleisten, erscheint es nötig, diesen Fachkräften trotz zeitlicher Befristung und hoher Belastung einen Gewinn zu verschaffen. Dies gelingt in der Regel durch deren intensive Einbezogenheit und Teilhabe an einem gemeinsamen Entwicklungsprozess. Mögliche Einschränkungen hinsichtlich der Bereitstellung eines maßgeschneiderten und möglichst passgenauen stationären Settings liegen in der organisatorischen Umsetzung, da sich in der Regel die Zeiträume, in denen es gelingen muss, das für diese Aufgabenstellung adäquate Fachpersonal zu gewinnen, als relativ kurz darstellen. Aufnahmeanfragen resultieren vielfach aus einer aktuellen Krisensituation der Familie, die aus Sicht des ASD möglichst umgehende Interventionen erfordert. Für die Teamgestaltung bedeutet dies, dass neu hinzukommende KollegInnen umgehend mit den bedeutsamen Informationen hinsichtlich des Rahmens vertraut gemacht werden müssen. Sie benötigen Anleitung, Begleitung und handlungswirksame Antworten auf ihre Fragen. Auf der anderen Seite bieten deren Fragen immer wieder auch ein bedeutsames Reflexionsfeld - die unsererseits gewählten Handlungsabläufe bedürfen einer für neu hinzukommende KollegInnen nachvollziehbaren Erklärung. Das Erreichen persönlicher Belastungsgrenzen, das Empfinden von Abneigung einzelnen Familienmitgliedern gegenüber, Empathie und Identifizierung mit Opfern sind in ihren negativen Auswirkungen Themen, denen aufmerksam nachgespürt und sensibel begegnet werden muss. Die Wahrnehmung und der Umgang mit den eigenen Grenzen erfahren im Rahmen der Herstellung und Aufrechterhaltung einer positiven Beziehung zu den Familienmitgliedern eine hohe Bedeutung. Qualifikation der Fachkräfte Aktivierendes Arbeiten im Rahmen der Stationären Familienhilfe setzt zunächst neben der beschriebenen Grundhaltung (vgl. Pieper 2003) gegenüber den Beteiligten eine hohe Professionalität und Methodensicherheit der Fachkräfte voraus. Auf der Haltungs- und Handlungsebene ist es unabdingbar, den einzelnen Familienmitgliedern Achtung, Respekt und Wertschätzung entgegenzubringen. Die Fachkräfte müssen sich ihrer Verantwortung für die Lebensführung der Familienmitglieder bewusst sein und z. B. das von ihnen als bewahrenswert Beschriebene würdigen. Sie müssen für einen 274 uj 6 | 2011 Stationäre Familienhilfe angemessenen Transfer sorgen und die Balance zwischen als notwendig erscheinender Veränderung und angestrebter Aufrechterhaltung herstellen. Den Teammitgliedern muss es gelingen, die Familienmitglieder zu motivieren, in Bezug auf die Auftragslage zieldienliche Anknüpfungspunkte zu erkennen und in ihren jeweiligen Suchprozessen bei der Lösungsfindung zu unterstützen. Ein verstehender Zugang mit einer positiven Neugierhaltung steht dabei im Vordergrund der in der Stationären Familienhilfe getätigten Interaktionen. Ein weiterer wichtiger Qualifikationsaspekt ist die Reflexionsfähigkeit der eingesetzten Fachkräfte. Dies meint, sowohl gezielt Rückmeldungen vonseiten der Familienmitglieder einfordern und annehmen zu können, als auch Feedback als konstruktive Interventionsform zu begreifen und motivational zu nutzen. Darüber hinaus bedingt Reflexionsfähigkeit einen selbstkritischen Umgang in Bezug auf das eigene Handeln und methodische Vorgehen und die konzeptionelle Rahmung. Bei vermeintlich nicht zieldienlich verlaufenden Prozessen ist es für die Fachkräfte jederzeit möglich, sich im Team unterstützen zu lassen und etwaige eigene Handlungsunsicherheiten zu thematisieren. Dokumentation der Stationären Familienhilfe Die Interdisziplinarität und der Prozessbezug stellen gerade auch im Hinblick auf eine etwaige familiengerichtliche Entscheidungsfindung ein wesentliches Argument für eine möglichst sachgerechte Bewertung dar. Anders als in den bisher vorrangig genutzten bzw. initiierten gutachterlichen Stellungnahmen zur Erziehungsfähigkeit beruhen die Ergebnisse und Empfehlungen zum Maßnahmeende auf der Auswertung von jeweils ca. 250 während des gesamten Prozessverlaufs dokumentierten Besuchskontakten. Die von den beteiligten Fachkräften gefertigten Aktennotizen und Berichte dienen dabei insbesondere der Dokumentation von Prozessbeschreibungen aus unterschiedlichen Perspektiven und Professionen. Beim Sammeln und Schreiben wird insbesondere der Blick auf das Erkennen und Kommentieren von Beziehungsmustern und dem methodischen Umgang mit den gestellten Anforderungen und Aufträgen berücksichtigt. Das Dokumentationssystem ist entsprechend so gestaltet, dass es unter anderem über folgende Fragen Aufschluss geben soll: Welche Themen oder Ereignisse werden von wem wie aufgenommen? Welche thematischen Schwerpunkte bilden sich? Inwieweit setzen sich in der reflexiven Auseinandersetzung spezifische Deutungsmuster durch? Ergibt sich eine Stringenz der Interventionen im zeitlichen Prozess oder handelt es sich eher um wenig gesteuerte, eher spontane Interventionen aus dem Hier und Jetzt? Die von uns gefertigten Aktennotizen und Berichte dienen uns darüber hinaus als Instrument zur Selbstkontrolle und als Grundlage zur Selbstevaluation. Darüber hinaus dient die Dokumentation unter Berücksichtigung der Auftragslage als Grundlage zu der ebenfalls schriftlich fixierten Prozessreflexion, die in der bereits erwähnten Hilfeplanvorlage für die Hilfeplanfortführung zusammengefasst wird. Die zeitlich dichtere Abfolge von Hilfeplangesprächen hat dabei auch den Effekt, dass wesentlich stärker entlang von klar definierten Zielen gearbeitet wird. Anhand der Hilfeplanung wird somit in kleinen und nachvollziehbaren Schritten für Familie und Fachkräfte des Jugendamts Entwicklung unmittelbar erlebbar. Die in der Vorbereitung auf den Hilfeplan als Steuerungsinstrument aller Beteiligten unterstützenden generativen Fragen lauten in diesem Zusammenhang z. B.: Wie sehen die bisher generierten Hypothesen aus und wie haben sie sich über die Zeit entwickelt? Welche Erfahrungen wurden zusätzlich gewonnen? Müssen frühere Einschätzungen revidiert werden? Wie lassen sich die Informationen zu einem Bild oder einer Geschichte runden, die der Sichtweise des/ der KlientIn etwas Neues hinzufügt? 275 uj 6 | 2011 Stationäre Familienhilfe Sofern sich aus den getätigten Beobachtungen Hinweise auf akute oder zu vermutende Gefährdungen ergeben, wird dem umgehend nachgegangen. Die Beschreibungen wandeln sich in Bewertungen und finden sich in ggf. für einen etwaigen weiteren Maßnahmeverlauf relevanten Empfehlungen. Zum Abschluss einer Maßnahme werden im Rahmen eines detaillierten Abschlussberichts der Prozessverlauf und die diesen begründeten Interventionen ebenso wie die Prozessergebnisse beschrieben. Es lassen sich z. B. fundierte Aussagen zu Lernfähigkeit und Lernbereitschaft, zur Bindungsqualität u. a. treffen. Die Sichtweisen aller Beteiligten werden zusammengefasst und münden in einem aussagefähigen Risiko- und Ressourcenprofil und einer detaillierten Empfehlung für die Zeit nach der Maßnahme. Stationäre Familienhilfe: neue Perspektiven und Chancen In der Weiterentwicklung der Stationären Familienhilfe hat sich als ergänzendes Feld neben der Krisenreduktion, den umfangreichen Trainingselementen zur Erweiterung erzieherischer Kompetenzen und dem Aufbau bzw. der Stabilisierung von entwicklungsfördernden Strukturen die Diagnostik des familiären Systems im Hinblick auf die Erstellung von umfangreichen Risiko- und Ressourcenprofilen zur Erziehungsfähigkeit etabliert. Die vorgenommenen Einschätzungen beziehen sich sowohl auf pädagogische als auch auf psychologische Standards und ermöglichen es, aussagekräftige Beurteilungen zu wesentlichen Aspekten des Kindesschutzes, der Bindungsgestaltung und der Entwicklungsförderung gerade auch unter den Aspekten der Lernfähigkeit und Lernbereitschaft von Eltern zu tätigen. Ebenso lassen sich Empfehlungen etwaiger weiterer Hilfen mit möglichst passgenauen Anforderungsprofilen erarbeiten, die perspektivisch auch derart ausgerichtet sind, dass sich ein etwaiges weiteres„Maßnahmehopping“ in den weiten Feldern der Angebotspalette von Kinder-, Jugend- und Familienhilfe weitgehend reduzieren lässt. Durch die intensive Begleitung der familiären Lebenswelt können sowohl Klärungsprozesse initiiert als auch geprüft und beschrieben werden, ob bzw. inwieweit das familiäre System Entwicklungschancen für alle seine Beteiligten bieten kann. Darüber hinaus haben sich im Rahmen der Entwicklung der Stationären Familienhilfe gerade auch durch die durchgängige Reflexion der Maßnahme, das konsequente Initiieren von Rückkopplungssequenzen sowie das Nutzen und Einbeziehen von Beobachtungen weiterer, mittelbar beteiligter Personen stetig weitere Kompetenzen in Bezug auf das Erkennen und Deuten von innerfamiliären Interaktionsmustern entwickelt. Die interdisziplinäre Informationsgewinnung über Strukturen, prägende Werte, Haltungen, Arbeitsformen, Ziele und Visionen des Familiensystems erfolgt in hoher Unmittelbarkeit und dient uns als Grundlage für Hypothesen, die zum Ausdruck bringen, wie das Familiensystem durch die Fachkräfte wahrgenommen wird. Die mit großer Sorgfalt vorgenommene Hypothesenbildung mündet in vielfachen Optionen zu tätigender Interventionen. Wir erreichen darüber eine vielfach nutzbare hohe Prozessdynamik. Dies gilt beispielsweise auch im Hinblick darauf, die Kindeseltern darin zu unterstützen, für sich selbst zu konstruieren, inwieweit sie ihren Erziehungsaufgaben gewachsen sind und ob sie ihren Kindern die u. E. bestmögliche Entwicklung zukommen lassen können. Wir konnten mehrfach erleben, dass bei Eltern im Prozess die Einsicht gereift ist, dass die Entwicklung ihrer Kinder an einem anderen Ort oder von anderen Personen angemessener gefördert werden kann als in der eigenen Familie. Im Hinblick auf die weitere Lebensperspektive aller Familienmitglieder hat die selbst getroffene Entscheidung einer Trennung eine tiefe Bedeutung, zumal sie die Kindeseltern annähernd von einer etwaigen Schuld am Scheitern oder von Versagensgefühlen befreit. Sie können für sich konstruieren und 276 uj 6 | 2011 Stationäre Familienhilfe auch gegenüber ihren Kindern erklären, dass sie alles dafür getan haben, was ihnen zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens zur Verfügung stand, um eine förderliche Entwicklung zu gestalten. Die Maßnahmegestaltung erlaubt zudem, uns mit großer Intensität Fragestellungen zuzuwenden, die sich in der Komplexität und Wirkung in bisherigen Hilfeformen eher geringer präsentieren bzw. in dieser Ausprägung bisher nicht beobachtet werden konnten. Wir betrachten das beschriebene Setting der Stationären Familienhilfe entsprechend auch als Chance, uns mit vielfältigen und ggf. noch in der fachspezifischen Diskussion weniger relevanten Fragestellungen gerade in deren Bedeutung für Kindeswohl und Erziehungsfähigkeit auseinanderzusetzen, diesbezüglich zielorientierte Antworten zu finden und adäquate Lösungsansätze zu entwickeln. Der Beitrag versteht sich auch als Einladung, einen Perspektivwechsel zu initiieren, in dem weniger eine krisengeleitete Intervention im Vordergrund steht, sondern die Stationäre Familienhilfe als Diagnose- und Klärungsinstrument mit der Zielstellung der Entwicklung passgenauer und langfristig stabilisierender Unterstützung genutzt wird. Erweiternd verfolgen wir das Interesse, die Angebotsform der stationären Begleitung von (Teil)Familien weiter aktiv zu etablieren bzw. den fachlichen Dialog und gerne auch den Erfahrungsaustausch mit Einrichtungen, die sich dieser Thematik annehmen, zu suchen und zu führen. Eine Einrichtung in Porta Westfalica hat damit begonnen, die hier vorgestellte Idee der Stationären Familienhilfe in ihren Möglichkeiten zu interpretieren und umzusetzen. Diese Entwicklung wird von uns eng begleitet. Familiäre Entwicklung und Wachstum in der beschriebenen Intensität zu initiieren und begleiten zu können und sich immer wieder neu auftauchenden Fragestellungen zu widmen, beinhaltet für uns die Möglichkeit stetiger eigener Weiterentwicklung. Insofern bietet sich die Stationäre Familienhilfe auch als Feld des gegenseitigen voneinander Lernens an. In unserem Verständnis begreifen wir diese Möglichkeit als Geschenk. Rüdiger Pieper Brandenburger Straße 1 26316 Varel pieper.varel@web.de Literatur Conen, M.-L., 1999: „Unfreiwilligkeit“ - ein Lösungsverhalten. In: Familiendynamik, 24. Jg., H. 3, S. 282 - 297 Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V., 2008: Rechtliche Einordnung des Leistungsangebots einer gemeinsamen stationären Familienbetreuung. In: Das Jugendamt - Zeitschrift für Jugendhilfe und Familienrecht, 81. Jg., H. 12, S. 579 - 582 Klemenz, B., 2007: Ressourcenorientierte Erziehung. Tübingen Königswieser, R./ Hillebrand, M., 2006: Haltung in der systemischen Beratung. In: Tomaschek, N. (Hrsg.): Systemische Organisationsentwicklung und Beratung bei Veränderungsprozessen. Heidelberg, S. 74 - 83 Mücke, K., 2001: Probleme sind Lösungen. Potsdam Pieper, R., 2000: Impulse setzen, die Kreise ziehen und nachhaltige Wirkung zeigen: Zur stationären Aufnahme ganzer Familiensysteme. In: Unsere Jugend, 52. Jg., H. 11, S. 484 - 492 Pieper, R., 2003: Aufnahme finden, sich aufgehoben fühlen: Die Stationäre Familienhilfe. In: Forum Erziehungshilfen, 9. Jg., H. 1, S. 47 - 51 Schemmel, H./ Schaller, J. (Hrsg.), 2003: Ressourcen. Ein Hand- und Lesebuch zur Therapeutischen Arbeit. Tübingen Schiepek, G./ Köhler, M./ Richter, K./ Schütz, A., 1995: Die systemische Analyse der systemischen Therapie. In: Familiendynamik, 20. Jg., H. 1, S. 15 - 31 Schmutz, E., 2003: Stationäre Familienbetreuung. Bericht zur Evaluation der stationären Familienbetreuung in Worms. Hrsg. vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit Rheinland-Pfalz. Mainz Stiftung Hospital St. Wendel, Abteilung Jugend- und Familienhilfe (Hrsg.), 2007: Von der Kritik zur Akzeptanz - Zehn Jahre Familienaktivierung in der Jugendhilfe der Stiftung. St. Wendel
