eJournals unsere jugend 63/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2011
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Kooperation Jugendarbeit - Schule

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Benjamin Wahl
Aktuelle Diskussionen rund um Bildung stellen alle beteiligten Akteure vor neue und auch ungewohnte Herausforderungen. Zum einen rückt die Jugendarbeit zunehmend in den Kern der Diskussion und wird mit ihrem Bildungsauftrag wahr- und ernst genommen. Alle Beteiligten, die zum Aufwachsen und zu gelingenden Bildungsbiografien junger Menschen beitragen, werden in die Pflicht genommen, nicht gegen, sondern miteinander daran zu wirken, jungen Menschen umfassende Bildungsgelegenheiten zu bieten. Hier sind insbesondere Träger der außerschulischen Jugendbildung, Schulen und kommunale Institutionen vor neue Herausforderungen gestellt.
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306 unsere jugend, 63. Jg., S. 306 - 310 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art33d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kooperation Jugendarbeit - Schule Erfahrungen aus dem Projekt „Praxisberatung Kooperation Jugendarbeit - Schule“ des Landesjugendrings Baden-Württemberg e.V. (2008 - 2010) Aktuelle Diskussionen rund um Bildung stellen alle beteiligten Akteure vor neue und auch ungewohnte Herausforderungen. Zum einen rückt die Jugendarbeit zunehmend in den Kern der Diskussion und wird mit ihrem Bildungsauftrag wahr- und ernst genommen. Alle Beteiligten, die zum Aufwachsen und zu gelingenden Bildungsbiografien junger Menschen beitragen, werden in die Pflicht genommen, nicht gegen, sondern miteinander daran zu wirken, jungen Menschen umfassende Bildungsgelegenheiten zu bieten. Hier sind insbesondere Träger der außerschulischen Jugendbildung, Schulen und kommunale Institutionen vor neue Herausforderungen gestellt. von Benjamin Wahl Jg. 1982; Diplom-Pädagoge, leitete von 2008 bis 2010 beim Landesjugendring Baden-Württemberg e.V. das Projekt „Praxisberatung Kooperation Jugendarbeit - Schule“ Schaut man sich die Entwicklungen im Schulbereich, die in den letzten zehn Jahren Einzug gehalten haben, an, stellt man schnell fest, dass es kaum einen ähnlich kurzen Zeitraum gab, der von ähnlich vielen Reformen und systemischen Wandlungen geprägt war: das G8, Pisa- und Iglu-Untersuchungen und ihre Folgen, der Ausbau der Ganztagsschule, der Wechsel von Lehrplänen zu Bildungsplänen, die Öffnung für außerschulische Partner, der Auf- und Ausbau von lokalen Bildungsnetzwerken … - diese Liste könnte man noch lange fortsetzen und könnte doch nur einen kleinen Ausschnitt dessen wiedergeben, womit sich Schulleitungen, LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern tagtäglich beschäftigen. Die einzige Konstante ist der Wandel - so scheint es für diejenigen, die die Institution und das System Schule zunächst einmal nur von außen sehen. Dass bereits schon die nächste und teilweise bereits übernächste Reform angesetzt wird, noch bevor die erste wirklich umgesetzt ist, stellt häufig einen Knackpunkt im Aufbau von Kooperationen zwischen Jugendarbeit und Schule dar, da Zeitressourcen und Energie an anderer Stelle gebraucht werden. Der Wunsch nach Kontinuität an Schulen ist ebenso groß wie der nach wirklicher Öffnung und ernst ge- 307 uj 7+8 | 2011 Jugendarbeit meinter Vernetzung vieler Schulen, die die Öffnung in den Sozialraum hinein nicht als lästige Pflicht betrachten, sondern gerade im Zusammenwirken verschiedener Akteure die notwendige Grundlage für gelingende Bildungsbiografien junger Menschen sehen. Schule hat hier anderen Akteuren eines voraus - sie ist eine gesellschaftlich anerkannte Institution, die als die Bildungseinrichtung per se verstanden wird; viele setzen Bildung mit Schule gleich, und das hat auch - zumindest teilweise - seine Berechtigung: Kaum eine andere Bildungseinrichtung beeinflusst so nachhaltig wie die Schule den späteren Lebensweg. Dieser enormen Verantwortung ist sich Schule bewusst, und bringt sie zugleich auch immer wieder in das Zentrum der Kritik gesellschaftlicher und politischer Diskussion. Hinzu kommt, dass sich auch das Schulempfinden, also die Lage, wie SchülerInnen Schule empfinden und wahrnehmen, gewandelt hat. Schule ist schon lange nicht mehr der Ort, an dem man einen halben Tag in Klassenzimmern absitzt und froh ist, wenn die sechs Stunden am Vormittag vorbei sind. Schule hat sich im Schülerempfinden vielmehr zu dem Ort entwickelt, an dem man FreundInnen trifft, als Ort, der ganz neue Freiräume und Möglichkeiten schafft, die vielen Jugendlichen sonst nicht zugänglich wären, weil sie aufgrund ihrer sozialen Herkunft beispielsweise keinen Zugang zu kulturellen Freizeitaktivitäten finden würden. Bildung ist mehr als Schule, heißt es 2002 in den Leipziger Thesen; Schule ist aber auch weit mehr als ein bloßer Ort der Wissensvermittlung. Schule ist ein zentraler Ort für Anerkennung und die eigene Biografie, Schule ist ein sozialer Ort, an dem und für den Kinder und Jugendliche einen Großteil ihrer Zeit verbringen - und das oft auch noch sehr gerne. Diese Entwicklungen und Veränderungen des Schulempfindens wollen von Älteren und auch manchen Jüngeren nicht gesehen werden, weil die eigene Schulbiografie doch zu prägend war. Dagegen steigt allerdings auch die Angst, in der Schule zu versagen. Die Bedeutung des eigenen Schulabschlusses für den weiteren Lebensweg ist SchülerInnen stets präsent und prägt ebenso das Gewicht, das Schule im Alltag junger Menschen einnimmt. Wenn man aber mit und über Schule ins Gespräch kommt, gilt es zweierlei anzuerkennen: ➤ Kinder und Jugendliche haben andere und neue ungewöhnliche Zugänge zum Sozialraum Schule, und ➤ Schulen sind täglich herausgefordert, weil sie im Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlichen und politischen Erwartungen und den pädagogischen Maßstäben ihrer VertreterInnen stehen. Jugendarbeit ist ebenfalls herausgefordert und steht vor Veränderungsprozessen, weil sie spätestens seit Erscheinen der Sinus-Milieu-Studie U27 weiß, dass sie - zumindest was die verbandliche Jugendarbeit angeht - mit ihren Angeboten nur einen Teil, längst aber nicht alle Kinder und Jugendlichen anspricht. Die Veränderungen im Schul- und Hochschulwesen beeinflussen, wie jüngst auch der 13. Bildungsbericht der Bundesregierung und die Expertise von Rauschenbach u. a. zur Situation der Jugendarbeit in Baden-Württemberg belegen, die Struktur und Arbeitsweise der stark ehrenamtlich geprägten Jugendarbeit. Jugendarbeit ist nicht bloß Arbeit oder Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen. Jugendarbeit fordert sich selbst seit ihrer Entstehung heraus. Denn, nimmt man die Grundprinzipien der Jugendarbeit ernst, sind es nicht die hauptberuflichen MitarbeiterInnen, die die Inhalte vorgeben, sondern junge Menschen sollen für sich und andere junge Menschen selbst entscheiden, welche Inhalte, Themen und Aktionen stattfinden sollen. 308 uj 7+8 | 2011 Jugendarbeit Selbstorganisation, Partizipation, Freiwilligkeit und Lebensweltorientierung sind dabei nur ausgewählte, aber entscheidende Schlagworte, die eigentlich darüber entscheiden, ob ein Angebot oder eine Veranstaltung nun Jugendarbeit ist oder „nur“ Betreuung oder Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen. Jugendarbeit hat einiges zu bieten und kann einiges. Oft allerdings empfinden sich JugendarbeiterInnen selbst als kleiner Partner der großen Institution Schule und fühlen sich nicht angesprochen, wenn von Bildungsakteuren die Rede ist. Um noch ein weiteres Mal die Leipziger Thesen von 2002 zu bemühen: Bildung ist mehr als Schule. Und für diese Aussage sind die Begriffe von formaler, non-formaler und informeller Bildung ganz entscheidend. Unter formaler Bildung werden institutionalisierte und strukturierte Bildungsformen verstanden. Sie findet primär an schulischen und beruflichen Bildungsinstitutionen und Ausbildungsstätten statt, die curricular vorgegebene Inhalte vermitteln und deren Angebote verpflichtend sind. Diese Bildungsprozesse werden sowohl bewertet als auch zertifiziert und berechtigen zu weiteren Bildungszugängen. Bei der non-formalen Bildung ist die Teilnahme grundsätzlich freiwillig und frei von (berechtigenden) Zertifizierungen und Leistungsbewertungen. Die Inhalte orientieren sich an den Bedürfnissen der Teilnehmenden, die den Bildungsprozess partizipativ mitbestimmen. Sie findet in Institutionen wie Vereinen, Verbänden oder privaten Initiativen statt. Die non-formale Bildung ist zentral in der außerschulischen Jugendbildung. Informelle Bildung meint ungeplante und nicht-intendierte Bildungsprozesse, die außerhalb institutionalisierter Settings, aber durchaus „in“ Institutionen stattfinden. Inhalte und Methoden werden nicht direkt gewählt, sondern ergeben sich aus Alltagssituationen. Informelle Bildung kann überall stattfinden: in Schulklassen und Pausen, in der Familie, mit Gleichaltrigen, Nachbarn oder in der Kinder- und Jugendarbeit. Jugendarbeit hat also wirklich einiges zu bieten; vor allem schafft sie zahlreiche Bildungsgelegenheiten und gerade deshalb darf und muss Jugendarbeit nicht nur wie im KJHG oder im Jugendbildungsgesetz des Landes beschrieben (§ 1, Abs. 1: Die außerschulische Jugendbildung ist eigenständiger und gleichberechtigter Teil des Bildungswesens) eine zentrale Rolle einnehmen, wenn es um Bildung geht. Vielmehr muss sie sich selbstbewusst in die laufende Diskussionen einbringen und in ihrer Praxis auch Bildungsgelegenheiten an und mit Schulen schaffen. Wenn es dann aber zur Zusammenarbeit kommt - und damit sind wir bei der Kooperation -, kann diese Zusammenarbeit ganz unterschiedliche Formen haben. Wenn wir aber von Kooperation sprechen, heißt das, dass zwei oder mehr Partner miteinander ein gemeinsames Ziel verfolgen, dabei aber jeweils mit ihrem eigenen Profil erkennbar bleiben. Ob Kooperationen immer auf der viel beschworenen Augenhöhe erfolgen müssen und können, darüber können wir gerne später diskutieren. Wichtig und zentral für Kooperationen ist, dass sich die Beteiligten in ihrer Eigenart und Konstitution nicht nur wertschätzen, sondern tatsächlich anerkennen und akzeptieren und nicht ständig versuchen, den anderen von vermeintlichen Systemfehlern zu kurieren. Kooperationen verfolgen ein gemeinsames Ziel, und das sollte am besten schriftlich festgehalten sein, ebenso wie die Leistungen und Zuständigkeiten der jeweiligen Partner. Letztendlich fehlt es häufig noch an Verständnis dafür, dass jeder Bildungsträger seine Berechtigung hat und dass es sich lohnt, all diese unterschiedlichen Sichtweisen und Erfahrun- 309 uj 7+8 | 2011 Jugendarbeit gen beispielsweise beim Aufbau einer Ganztagsbildung zu bündeln und miteinander zu vernetzen. Auch Strukturen, die eine wirkliche Kooperation ermöglichen, stehen noch ganz am Anfang und müssen erst noch aufgebaut werden. Das Projekt Praxisberatung Kooperation Jugendarbeit - Schule Die Ausgangslage des Projektes Praxisberatung Kooperation Jugendarbeit - Schule war folgende: Viele Jugendverbände und Institutionen waren schon fest in Kooperationen mit Schulen verankert, während andere sich noch der Kooperationsthematik grundsätzlich verwehrten bzw. keinen Zugang dazu fanden oder aber auch schon frustrierende Erfahrungen gemacht hatten. Das Projekt sollte dazu beitragen, Informationsdefizite auszugleichen und Auseinandersetzungs- und Diskussionsprozesse in Verbänden zu initiieren, ob diese nicht doch ein Kooperationsprojekt mit Schule ausprobieren wollten. Im Laufe des Projektes gelang es, durch gezieltes Nachfragen und Informationsveranstaltungen Vorurteile abzubauen und wenn auch nicht sofort Lust auf Kooperationen, so doch zumindest eine Neugierde diesbezüglich zu wecken. Dabei wurde nicht nur die verbandliche Jugendarbeit angesprochen, sondern alle Träger der außerschulischen Jugendbildung, Schulen und Kommunen. Wichtige Inhalte dabei waren, für die besondere Situation und Vorzüge der Jugendarbeit zu werben und gleichzeitig deutlich zu sagen, dass beispielsweise Offene Jugendarbeit und Schulsozialarbeit zwei wichtige Arbeitsfelder sind, aber nicht miteinander in einen Topf zu werfen und nicht das Gleiche sind. Weiter ist es wichtig, das Bild von Schule, das sich landläufig in den Köpfen vieler Engagierten breit gemacht hat, zu relativieren und aufzuzeigen, wo und wie sich Schule und die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen verändert haben und weiter verändern werden. Erstaunlich waren die Anfragen und der signalisierte Beratungsbedarf von Kommunen, die sich im Aufbau von lokalen Bildungsnetzwerken befinden und hier auf die Unterstützung der Jugendarbeit bauen. Bisher lassen sich folgende Schlüsse aus dem Projekt ziehen: ➤ Die Veränderungen in der Bildungslandschaft und der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen sind komplex und daher nicht leicht nachzuvollziehen. Hier bedarf es ständiger Information und Sensibilisierung. ➤ Die Möglichkeiten und Formen von Kooperationen zwischen außerschulischen und schulischen Trägern sind immer noch wenig bekannt und schwer vorstellbar. ➤ Klärungsprozesse, ob und wie Kooperationen eingegangen werden sollen, brauchen Zeit. Gerade stark ehrenamtlich geprägte Institutionen wie Jugendverbände brauchen dabei eine gute fachliche Begleitung. ➤ Kooperationen sind dort nachhaltig und dauerhaft, wo ein gemeinsam formuliertes Ziel verfolgt wird und wo alle Entscheidungsträger (Gremien) in den Diskussions- und Abstimmungsprozess eingebunden werden. ➤ Jugendverbände, die selbstbewusst als Bildungsträger auftreten, gehen erfolgreichere und zufriedenstellendere Kooperationen ein als solche, die ihr Bildungsverständnis nicht formulieren können. ➤ Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die im Ehrenamt aktiv sind, fehlen Zeitressourcen und -gelegenheiten, sich in Kooperationsprojekten zwischen Jugendarbeit und Schule (regelmäßig) zu engagieren. ➤ Es braucht flächendeckend Unterstützungsinstrumente für Träger der Jugendarbeit, Schulen und Kommunen beim Aufbau von erfolgreichen und nachhaltigen Bildungspartnerschaften. 310 uj 7+8 | 2011 Jugendarbeit ➤ Bildungspartnerschaften brauchen verlässliche Ansprechpersonen und eine Koordinierungsstelle im kommunalen Raum. Rückblickend auf das Projekt ist in erster Linie der Prozess zu nennen; sowohl im Gesamtals auch in vielen Teilprojekten hat sich in den zurückliegenden Monaten vieles verändert. Es ist gelungen, einen neuen Blick auf die Kooperation zwischen Jugendarbeit und Schule zu werfen und der Thematik selbst, aber auch gerade den veränderten Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen eine höhere Bedeutung zuzumessen. Entscheidend ist es, anzuerkennen und wahrzunehmen, dass sich die Bildungsbiografien von Kindern und Jugendlichen stark von denen unterscheiden, wie wir sie bisher kannten und größtenteils noch kennen; an diesen Biografien mitzuwirken, ist Aufgabe und Verantwortung aller Bildungsakteure gemeinsam. Benjamin Wahl Landeshugendring B.-W. Siemensstraße 11 70469 Stuttgart wahl@ljrbw.de