eJournals unsere jugend 63/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2011.art40d
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„Bett auf Zeit“ bei Aktion 70 e. V.- ein Angebot für Jugendliche, die als „unbetreubar“ gelten

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Roland Zeeck
Bett auf Zeit wird Jugendlichen angeboten, die teils wohnungslos sind, oft aber aus stationären und anderen Betreuungssettings der Jugendhilfe kommen und sich dort nicht (mehr) betreuen lassen wollen.
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363 unsere jugend, 63. Jg., S. 363 - 366 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art40d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Roland Zeeck Jg. 1964; Soziologe, Leiter der Kriseneinrichtung Nogat‘7 in Neukölln und des Projektes „Bett auf Zeit“ „Bett auf Zeit“ bei Aktion 70 e.V. - ein Angebot für Jugendliche, die als „unbetreubar“ gelten Interview mit Roland Zeeck Bett auf Zeit wird Jugendlichen angeboten, die teils wohnungslos sind, oft aber aus stationären und anderen Betreuungssettings der Jugendhilfe kommen und sich dort nicht (mehr) betreuen lassen wollen. ? Was bedeutet „Bett auf Zeit“ und wie ist es entstanden? Das Bett auf Zeit ist ein niedrigschwelliges Übernachtungsangebot mit geringer Betreuungsdichte für Jugendliche ab 16 Jahren. Betreuung und Aufenthalt im Wohnprojekt sind zeitlich begrenzt und betragen in der Regel 8 Wochen. Die Betreuungsorte sind einfach ausgestattete Einraumwohnungen im Berliner Bezirk Neukölln. Organisatorisch ist das Angebot an die regionale Kriseneinrichtung für Kinder und Jugendliche Nogat‘7 angegliedert, die sich ebenfalls in Neukölln befindet. Das Betreuungskonzept wurde 2007 von Aktion‘70 - Jugendhilfe im Verbund e.V. gemeinsam mit dem Jugendamt Neukölln entwickelt. Die Berliner Not- und Krisendienste waren zu dem Zeitpunkt und sind bis heute mit einer anhaltend hohen Zahl von Jugendlichen konfrontiert, die einerseits einen hohen Hilfebedarf aufweisen, andererseits aber nicht über die notwendige Motivation und Mitwirkungsbereitschaft verfügen, die in der herkömmlichen Angebotsstruktur der stationären Jugendhilfe erwartet wird. Hier setzt das Konzept von Bett auf Zeit an. ? Welche Rolle spielt die Kooperation mit dem Jugendamt Neukölln? Das Bett auf Zeit ist ein sozialräumlich ausgerichtetes Projekt, in dem nur Jugendliche aus Neukölln Aufnahme finden. Der Träger ist durch die von ihm betriebene regionale Kriseneinrichtung eng mit Beratungs- und Hilfsangeboten vor Ort vernetzt. Die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt Neukölln ist seit Jahren erprobt und belastbar. Gerade die Arbeit mit sehr schwierigen Jugendlichen erfordert einen hohen Grad an Abstimmung zwischen den Fachkräften von freier und öffentlicher Jugendhilfe. Der ganz überwiegende Teil der bisher betreuten Jugendlichen war im Vorfeld bereits mit der Kriseneinrichtung 364 uj 9 | 2011 Junge Menschen auf der Straße Nogat‘7 in Kontakt. Dies erleichtert die Einschätzung dazu, was von den Jugendlichen in der konkreten Lebenssituation verlangt werden kann. ? Was soll mit „Bett auf Zeit“ erreicht werden? Primäres Ziel ist die sofortige Beendigung von Trebegang und Obdachlosigkeit und den damit verbundenen Gefährdungen. Jugendliche, die von der Parkbank oder unter der Brücke hervorkommen, sind hierbei die Ausnahme. Häufig halten sie sich in problematischen und teilweise gefährdenden Abhängigkeitsverhältnissen zu Personen auf, denen sie dann zu „Gefälligkeiten“ aller Art verpflichtet sind oder sorgen durch (klein-)kriminelle Aktivitäten selbst für ihren Lebensunterhalt. Im Rahmen der Hilfeplanung werden dann individuelle Ziele der Jugendlichen vereinbart. Dabei fließen von Jugendamtsseite Anforderungen betreffend Schulbesuch oder beruflicher Ausbildung ein. Die Ziele sollen der Tatsache Rechnung tragen, dass zwar die materielle Grundlage (Wohnung plus Hilfe zum Lebensunterhalt) vorerst gegeben ist, bei der Betreuung aber eine strikte„Komm-Struktur“ herrscht. Die Bett-auf-Zeit-BewohnerInnen können sich Unterstützung bei den Betreuungspersonen aktiv „abholen“. Es wird ansonsten kein Druck ausgeübt und es werden keine Forderungen hinsichtlich der Tagesstruktur gestellt. Es gibt nur regelmäßige Gesprächs- und Unterstützungsangebote. Im Ergebnis sollen Jugendliche in einem überwiegend selbstbestimmten Prozess lernen, ihre Ressourcen einschätzen und ihren Hilfebedarf selbst definieren zu können. Am Ende kann die Überleitung in ein Angebot der Jugendhilfe stehen, das aufgrund der gesammelten Erfahrungen und einer bei positivem Verlauf gestiegenen Motivation als passend erscheint. Das Konzept von Bett auf Zeit beinhaltet aber ebenso die Möglichkeit des Scheiterns und die erneute Entlassung in eine ungeklärte Situation. ? Wer wird mit dem Angebot angesprochen und wer nimmt es an? Zielgruppe sind Jungen und Mädchen ab dem 16. Lebensjahr, die bereits verschiedene Einrichtungen der Jugendhilfe durchlaufen haben und gegenwärtig als „unbetreubar“ erscheinen, da sie eine aktive Mitarbeit verweigern. Nach Einschätzung der beteiligten Fachkräfte liegt Eigen- oder Fremdgefährdung nicht vor. Jugendliche mit geistiger Behinderung, diagnostizierter psychiatrischer Erkrankung sowie KonsumentInnen harter Drogen finden keine Aufnahme. Die Anforderungen an die Jugendlichen bestehen darin, sich selbst zu versorgen, die Wohnung im Rahmen der üblichen hygienischen Maßstäbe zu bewirtschaften und sich gegenüber der Nachbarschaft störungsfrei zu verhalten. Fortgesetzte Verstöße gegen die Hausordnung wie Gewalt, Zerstörungen, Handel mit und Konsum von Drogen in und im Umfeld der Wohnung sowie Unterschlupfgewährung für Fremde können zur Entlassung führen. In der Regel bewerben sich Jugendliche nicht aus eigenem Antrieb, sondern die Dienste des Jugendamtes fragen bei uns für Jugendliche an, die aus anderen Einrichtungen der stationären Jugendhilfe wegen Regelverstößen oder mangelnder Mitarbeit entlassen worden sind. Die Jugendlichen, die Bett auf Zeit nutzen, sind oftmals betreuungsmüde und können den Regeln und Anforderungen in hoch strukturierten Einrichtungen nicht genügen. Sie brechen aus engen Regelwerken aus und sind delinquent, schuldistanziert oder DrogenkonsumentInnen verschiedenen Ausmaßes. Sie bringen auf der anderen Seite nicht den Grad an Selbstständigkeit mit, der für einen Wohnplatz im Betreuten Einzelwohnen oder einer Jugendwohngemeinschaft vorausgesetzt wird. Sie wollen eine von Beziehungsabbrüchen und Unsicherheit geprägte Lebensphase beenden. Pädagogische Fachkräfte in Einrichtungen und Schulen, LehrerInnen und Eltern setzen wenig Vertrauen in sie oder haben sie bereits komplett aufgegeben. 365 uj 9 | 2011 Junge Menschen auf der Straße ? Welche Erfahrungen wurden in den letzten Jahren gemacht? Können Sie typische Fälle schildern? Ich möchte Ihnen zwei Fälle schildern, die exemplarisch für unsere Erfahrungen sind: Ein 16-jähriges Mädchen war nach zwei Unterbringungen in verschiedenen Clearingstellen Berlins jeweils mit unklarer Perspektive disziplinarisch entlassen worden. Da aufgrund ihrer familiären Situation dringender Unterbringungsbedarf bestand, wurde sie in einer Heimeinrichtung am Rande Berlins untergebracht. Dort entwickelte sie sich zur Schulschwänzerin und Ausreißerin. Dabei zog sie ständig zwei mit ihr untergebrachte 12-jährige Mädchen mit aus der Einrichtung. Sie zeigte stark oppositionelles Verhalten und entzog sich mehr und mehr der Betreuung. Es folgte die Entlassung und die erfolglose Suche nach einer neuen Einrichtung. Durch Bett auf Zeit hatte das Mädchen eine eigene kleine Wohnung ohne laufende Aufsicht durch PädagogInnen. Sie nutzte die Chance, sich in dieser für sie ganz neuen Betreuungssituation zu bewähren. Das Betreuungsangebot war nun ein knappes Gut und wurde von dem Mädchen vor allem als Unterstützung bei der Suche nach einer schulischen Maßnahme genutzt. Weitere Themen in der Betreuung, wie beispielsweise die Kontaktgestaltung zur Herkunftsfamilie, ließ sie dann Stück für Stück ebenfalls zu. Im Umgang mit Geld und der Bewirtschaftung ihrer Wohnung zeigte sie Kompetenzen, die in der Rund-um-die-Uhr-Betreuung nicht gefragt waren. Die Jugendliche arbeitete ganz bewusst deshalb so zielstrebig mit, um sich diese mit mehr Selbstständigkeit verbundene Betreuungsform auch für die Zukunft zu erhalten. Nach zwei Monaten konnte sie in das Betreute Einzelwohnen übergeleitet werden und nimmt inzwischen die damit verbundene Betreuung zur weiteren Verselbstständigung gut an. Ein 17-jähriger Junge pendelte seit eineinhalb Jahren zwischen überforderten Eltern, verschiedenen Kriseneinrichtungen Berlins und Freunden hin und her. Er handelte im kleinen Stil mit Cannabis, um seinen Unterhalt zu bestreiten. Seine Bett-auf-Zeit-Wohnung behandelte er sehr pfleglich. Um die Erreichung der übrigen vereinbarten Ziele (Ableisten von Sozialstunden und Klärung der Schul- und Ausbildungssituation) kümmerte er sich überhaupt nicht. Die Betreuungskontakte erschöpften sich in der Auszahlung von Geldmitteln. Es wurde deutlich, dass der Jugendliche die Wohnung als Basis für die Weiterführung seiner delinquenten Aktivitäten betrachtete. Er nutzte das Bett auf Zeit letztendlich nur zur Überbrückung und verließ das Projekt mit unklarer Perspektive in die gleiche Situation hinein, die zu seiner Aufnahme geführt hatte. ? Wo liegen denn die Risiken und wo die Chancen des Projektes? Die betreuten Jugendlichen sind für begrenzte Zeit der gröbsten materiellen Sorgen enthoben. Sie sind mit keinem engen Regelwerk und keiner vorgegebenen Tagesstruktur konfrontiert, die in der Vergangenheit stets Konflikte mit Erwachsenen produzierte. Dies kann Energien frei setzen und die Grundlage für eine veränderte Selbstwahrnehmung sein. Es verschafft aber auch Zeit, über die eigene Lebenssituation nachzudenken und im positiven Fall daraus Konsequenzen zu ziehen. Auf der anderen Seite bedeutet das Wohnen im „eigenen“ Wohnraum aber auch einen deutlichen Verantwortungszuwachs. Da die pädagogischen MitarbeiterInnen ganz bewusst einen zeitlich sehr eingeschränkten Kontakt zu den Jugendlichen haben, besteht der Aufenthalt im Bett auf Zeit aus überwiegend betreuungsfreien Zeiten. Diese können zur Wiedereingliederung in die Schule, für den Besuch einer Drogenberatungsstelle oder zur Abarbeitung von gerichtlichen Auflagen usw. genutzt werden. Genauso gut kann man sich aber auch dem schnöden Nichtstun hingeben und die Zeit als reine Erholungsphase verbringen. 366 uj 9 | 2011 Junge Menschen auf der Straße ? Würden Sie sagen, dass sich das Konzept bewährt hat? Gibt es Korrekturbedarf für die Zukunft? Seit Projektbeginn im Jahr 2008 haben 30 Jugendliche das Angebot Bett auf Zeit genutzt, zwei Drittel davon mit erfolgreichem Übergang in andere Hilfen, z. B. ins Betreute Einzelwohnen. Das spricht für sich, weil es sich um Jugendliche handelte, die auch im Rahmen von Jugendhilfe nirgendwo mehr aufgenommen wurden. Mit zunehmender Erfahrung hat es einige Anpassungen an die Bedarfe der angefragten Jugendlichen gegeben. So ist die Verbleibdauer von zunächst vier auf nunmehr acht Wochen ausgedehnt worden, da deutlich wurde, dass sich Jugendliche in dem für sie zunächst ungewohnten Setting erst einleben müssen. Im weiteren Verlauf der Betreuung muss genügend Zeit für die Überleitung in ein Folgeangebot (Kontaktaufnahme, Bewerbung, Vorstellung) vorhanden sein. Entgegen dem ursprünglichen Ansatz kann die Betreuungsdichte flexibel hochgefahren werden, um auf besondere Gefährdungen zu reagieren oder einem - im weitgehend unbetreuten Rahmen - entwickelten Wunsch nach mehr Betreuung nachzukommen. Die Betreuungspersonen vor Ort müssen kontinuierlich daran arbeiten, die Komm-Struktur des Betreuungsangebotes nicht von sich aus zu durchbrechen, um die Zielerreichung zu beschleunigen oder die Defizite der Jugendlichen durch eigene Aktivitäten zu kompensieren. Dabei gilt es auch, Fehlentwicklungen, Unzuverlässigkeiten und die anfängliche Perspektivlosigkeit der Jugendlichen auszuhalten. Insgesamt ist das Bett auf Zeit von den BewohnerInnen viel besser angenommen und die Wohnungen pfleglicher behandelt worden, als wir dies bei Projektbeginn angenommen hatten. Die Jugendlichen haben ihren Aufenthalt überwiegend als echte Chance begriffen. Er bot ihnen definitiv die Möglichkeiten, dem Jugendamt, den BetreuerInnen, den Eltern zu beweisen, was in ihnen steckt - und zu erfahren, an welchen Stellen sie sich selbst überschätzt haben. Im Spektrum der Hilfeangebote stellt das Bett auf Zeit eine echte Alternative zu uneffektiven stationären Hilfen mit ständigen Abbrüchen dar. Als entscheidender Faktor für das Gelingen der Hilfe hat sich neben der genauen Prüfung der Voraussetzungen der Jugendlichen der Aufnahmezeitpunkt erwiesen. Das Bett auf Zeit muss im Verständnis der Jugendlichen den Charakter einer „letzten Chance“ in der Jugendhilfe haben. Weder sollten die Jugendlichen die Einstellung haben, dass die Hilfe ein weiteres Glied in der Kette von erfolglosen Bemühungen in der stationären Jugendhilfe darstellt, noch sollten sich Lebensstile verfestigt haben (Delinquenz, Drogenkonsum, Prostitution etc.), die sich mit pädagogischen Interventionen allein nicht mehr durchbrechen lassen. Der richtige Zeitpunkt, zu dem diese Hilfe angeboten werden kann, entzieht sich leider der exakten Einschätzung der Fachkräfte und der Jugendlichen selbst und bleibt damit oft ein „letzter Versuch“, den Jugendlichen die Verantwortung für ihr künftiges Leben weitgehend in die Hand zu legen, der eben auch - zumindest aus Sicht der Jugendhilfe - scheitern kann. Vielen Dank für das Interview! Das Interview führte: Gabriele Bindel-Kögel Roland Zeeck Kriseneinrichtung Nogat‘7/ Aktion‘70 - Jugendhilfe im Verbund Nogatstraße 7 12043 Berlin r.zeeck@aktion70.de