unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2011.art43d
91
2011
639
Resigniert oder zuversichtlich? Berufliche Perspektiven von Jugendstrafgefangenen
91
2011
Thaya Vester
Wolfgang Stelly
Jürgen Thomas
Welche Vorstellungen haben Jugendliche, die sich in Haft befinden, hinsichtlich ihres beruflichen Werdegangs? Sind diese angesichts ihrer problematischen Ausgangsbedingungen realistisch? Antworten auf diese Fragen liefert ein aktuelles Forschungsprojekt über die Lebenslagen von Jugendstrafgefangenen.
4_063_2011_9_0006
379 unsere jugend, 63. Jg., S. 379 - 385 (2011) DOI 10.2378/ uj2011.art43d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Thaya Vester, M. A. Jg. 1982; akademische Mitarbeiterin am Institut für Kriminologie sowie am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht (Prof. Kinzig) der Universität Tübingen Resigniert oder zuversichtlich? - Berufliche Perspektiven von Jugendstrafgefangenen Welche Vorstellungen haben Jugendliche, die sich in Haft befinden, hinsichtlich ihres beruflichen Werdegangs? Sind diese angesichts ihrer problematischen Ausgangsbedingungen realistisch? Antworten auf diese Fragen liefert ein aktuelles Forschungsprojekt über die Lebenslagen von Jugendstrafgefangenen. Lebenslagen von Jugendstrafgefangenen Spätestens seit dem grundlegenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Jugendstrafvollzug vom 31. 5. 2006 sind Gesetzgeber und Vollzugspraxis aufgefordert, einen theoriegeleiteten und evidenzbasierten Jugendstrafvollzug zu gestalten (Brandt 2006, 246). Zwischen diesen Vorgaben und dem Alltag in der Praxis besteht jedoch nach wie vor eine große Diskrepanz. Im Besonderen ist der Erkenntnisstand über die Lebenslagen von Jugendstrafgefangenen, ihre materiellen Ressourcen, ihre sozialen Einbindungen sowie ihre subjektiven Lebensentwürfe noch sehr defizitär. Um diesen Mangel zu verringern, führte das Institut für Kriminologie der Universität Tübingen das von der DFG geförderte Projekt „Arm, randständig, ausgegrenzt? - Lebenslagen von Jugendstrafgefangenen“ durch. Im Mittelpunkt des Konzepts der sozialen Lagen steht die Annahme, dass bestimmte objektive Lebensbedingungen Wirkungen auf das Handeln von Menschen entfalten, und zwar unabhängig davon, ob der betroffenen Person dieser Umstand bewusst ist oder anders inter- Dr. Wolfgang Stelly Jg. 1967; akademischer Mitarbeiter am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen und im Kriminologischen Dienst der JVA Adelsheim Dr. Jürgen Thomas Jg. 1963; akademischer Mitarbeiter am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen und im Kriminologischen Dienst der JVA Adelsheim 380 uj 9 | 2011 Jugendstrafgefangene pretiert wird (Hradil 2001, 371). Gleichzeitig berücksichtigt dieses Konzept aber auch, dass subjektive Faktoren eine erhebliche Differenzierung in der sozialen Lage bewirken können. So besteht z. B. ein Unterschied, ob ein arbeitsloser Strafgefangener optimistisch oder resigniert ist, denn die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit werden je nach Art der subjektiven Verarbeitung differieren. Dieser Erkenntnis folgend ging es in dem Forschungsvorhaben auch darum, die subjektive Dimension der sozialen Exklusion zu erfassen. Im Folgenden soll dies anhand der beruflichen Vorstellungen der Jugendstrafgefangenen aufgezeigt werden. Das Untersuchungssample Im Rahmen des Forschungsprojekts fand von Juni 2009 bis Juni 2010 eine Vollerhebung aller männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden, die in Baden-Württemberg innerhalb eines Jahres zu einer unbedingten Jugendstrafe verurteilt wurden, statt. Erhoben und analysiert wurden u. a. das Urteil, die Stellungnahmen der Zugangskommission der JVA sowie die Bewährungs- und Jugendgerichtshilfeberichte. Zusätzlich wurden die Jugendstrafgefangenen etwa zwei Wochen nach ihrem Zugang in die JVA Adelsheim von studentischen Projektmitarbeiter/ -innen mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens zu ihrer Lebenssituation und ihrem sozialen Hintergrund befragt. Die Interviews fanden in der zentralen Zugangsabteilung der JVA Adelsheim statt. Die Jugendstrafgefangenen (N = 420) waren zum Befragungszeitpunkt zwischen 15 und 22 Jahre alt (Mittelwert: 19,1 Jahre). Das verhängte Strafmaß betrug zwischen sechs Monate und zehn Jahre (Mittelwert: 20,6 Monate). Im Durchschnitt wies jeder Jugendliche 2,8 Vorsanktionen auf. 17 % waren zuvor schon einmal im Jugendstrafvollzug gewesen. Bei den Delikten, die zur Inhaftierung führten, handelt es sich in erster Linie um einfachen und schweren Diebstahl sowie einfache und gefährliche Körperverletzung. Tötungs- und Sexualdelikte machen nur einen geringen Anteil aus (zusammen unter 5 %). Die Mehrzahl der Jugendlichen konsumierte vor der Inhaftierung regelmäßig Drogen (63 %) und/ oder Alkohol (57 %). 40 % bezeichneten ihren Drogen-/ Alkoholkonsum als „problematisch“. 60 % der befragten Jugendstrafgefangenen erlebten die Trennung/ Scheidung ihrer Eltern oder den Tod eines Elternteils („broken home“-Situation). Etwa die Hälfte der Jugendstrafgefangenen berichtete von einem Aufenthalt im Heim oder im betreuten Wohnen. Ebenfalls knapp die Hälfte gab an, dass ihre Familie ständig oder zeitweise Geldsorgen hatte. Negative Erfahrungen im Bildungs- und Erwerbsbereich Bei der Auswertung der Projektdaten zum Bildungs- und Leistungsbereich lässt sich feststellen, dass viele der Jugendstrafgefangenen in Schule und Ausbildung negative Erfahrungen machten, da sie die Anforderungen nicht erfüllen konnten. Dies zeigt sich beispielsweise auch bei den erzielten Schulabschlüssen (vgl. Tabelle 1). 39 % der Jugendstrafgefangenen haben die Schule ohne Abschluss verlassen. Einen höheren Schulabschluss als den Hauptschulabschluss haben nur 4 %. Weit über ein Drittel der Hauptschulabschlüsse wurde nicht in regulären Hauptschulen, sondern im Rahmen eines Berufsvorbereitungsjahres oder in einer JVA erworben. Schulabschluss in Prozent noch Schüler 6 % Schule ohne Abschluss verlassen 39 % Förderschulabschluss 2 % Hauptschulabschluss 46 % Mittlere Reife/ Realschulabschluss 4 % Abitur 0 % Sonstiges (z. B. ausländischer Abschluss, der sich nicht auf das deutsche System übertragen lässt) 2 % Tabelle 1: Schulabschluss (Quelle: Aktenanalyse , N = 420) 381 uj 9 | 2011 Jugendstrafgefangene Trotz ihres bereits fortgeschrittenen Alters von durchschnittlich 19 Jahren haben lediglich 39 % der Jugendstrafgefangenen mindestens einmal eine Ausbildung bzw. Lehre begonnen. Von diesen begonnenen Ausbildungen wurden 65 % bereits vor der Inhaftierung und 25 % durch die Inhaftierung abgebrochen. Nur 10 % der begonnenen Ausbildungen wurden erfolgreich abgeschlossen. Umgerechnet auf die gesamte Untersuchungsgruppe bedeutet dies, dass lediglich 3,6 % aller Jugendstrafgefangenen bei Zugang in den Strafvollzug über eine abgeschlossene Ausbildung oder Lehre verfügen. Nicht nur bei den formalen Bildungsabschlüssen, sondern auch bei den beruflichen Tätigkeiten stellt sich die Situation eher ungünstig dar (Tabelle 2). Fast zwei Drittel der Jugendstrafgefangenen befanden sich vor der Inhaftierung in einer prekären beruflichen Situation: 45 % waren arbeitslos, 11 % jobbten als „geringfügig Beschäftigte“ und 12 % befanden sich in meist niederschwelligen schulischen und beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Lebenssituation vor der Inhaftierung 59 % der befragten Jugendstrafgefangenen lebten vor der Inhaftierung bei ihrer Familie und wurden von ihr materiell unterstützt bzw. konnten zumindest kostenlos bei ihr wohnen. Die anderen Jugendlichen wohnten in betreuten Einrichtungen (8 %), mit ihrer Partnerin (7 %), alleine (4 %), bei Verwandten (4 %), bei Freunden (4 %) oder hatten einen häufig wechselnden (9 %) oder gar keinen festen Wohnsitz (5 %). Zwar bekamen auch die Jugendlichen, die nicht bei ihrer Familie wohnten, von dieser meist finanzielle Unterstützung und/ oder staatliche Hilfe. Dies scheint aber in den meisten Fällen nicht genügt zu haben. So berichteten etwa zwei Drittel der Jugendstrafgefangenen, dass sie zumindest einen Teil ihres Lebensunterhalts durch Straftaten erwirtschaftet hätten (43 % regelmäßig, 22 % unregelmäßig); insbesondere durch das Dealen mit Drogen, Hehlerei, Einbrüche und Diebstähle. Dabei reicht das Spektrum vom „Kleinkriminellen“, der sich monatlich um die 50 Euro dazu verdiente, bis hin zum „Berufsverbrecher“, der mit Drogenhandel, Autoschiebereien oder Kreditkartenbetrug monatlich mehrere tausend Euro erwirtschaftete. Einschätzungen der beruflichen Zukunftschancen Im Interview wurden die Jugendstrafgefangenen auch danach gefragt, wie sie ihre Zukunftsperspektiven - allgemeiner und beruflicher Art - einschätzen. Hierzu wurden den Jugendlichen u. a. verschiedene Aussagen vorgelegt, denen sie auf einer vierstufigen Skala mehr oder weniger zustimmen konnten (vgl. Schaubild 1). Angesichts der schlechten Ausgangssituation im Bildungs- und Erwerbsbereich wäre zu vermuten, dass die Jugendlichen ihre berufliche Zukunft eher negativ einschätzen. Die Antworten der Jugendstrafgefangenen liefern jedoch ein völlig anderes Bild: Dem Statement „Wenn ich an meine berufliche Zukunft denke, bin ich zuversichtlich“ stimmen 36 % völlig und 40 % eher zu. Auch bei der Umkehrung des Statements, also der Aussage „Für meine berufliche Zukunft sehe ich schwarz“, ist von Resignation nichts zu bemerken: Gerade einmal 11 % sehen ihre Berufschancen eher bzw. völlig negativ. Die positive Grundhaltung der Jugendstrafgefangenen zeigt sich auch bei der Aussage „Was meine Zu- Berufliche Situation vor der Inhaftierung in Prozent noch Schüler/ noch in Ausbildung 21 % schulische oder berufliche Qualifizierungsmaßnahme 12 % arbeitslos 45 % hauptberuflich erwerbstätig 7 % geringfügig erwerbstätig 11 % Sonstiges (z. B. Wehrdienst) 4 % Tabelle 2: Berufliche Situation vor der Inhaftierung (Quelle: Aktenanalyse, N = 420) 382 uj 9 | 2011 Jugendstrafgefangene kunft angeht, werde ich wohl Sozialhilfe, Hartz IV oder dergleichen in Anspruch nehmen müssen“: nicht einmal jeder zehnte Befragte ist der Meinung, dass dies auf ihn zutrifft (stimmt völlig: 2 %, stimmt eher: 7 %). 89 % der Jugendstrafgefangenen gehen trotz ihrer eher schlechten schulischen und beruflichen Qualifikationen davon aus, dass sie später einen Beruf ausüben werden, der ihnen Spaß macht. In einer gesonderten Analyse zeigten sich weder nach Migrationshintergrund, Substanzmittelabhängigkeit, Schichtzugehörigkeitsgefühl, Familienstand, Bildungs-/ Ausbildungsgrad noch Alter signifikante Unterschiede zwischen den Jugendlichen, die positiv eingestellt sind, und denjenigen, die eher düstere Perspektiven haben. Die positive Einschätzung ihrer beruflichen Zukunft könnte als Zeichen jugendlicher Verblendung oder als Ausdruck eines fehlenden Realitätsbezugs interpretiert werden. Frühere Studien haben gerade bei Straftäterpopulationen wenig realistische Einschätzungen der eigenen beruflichen Chancen und Möglichkeiten konstatiert. Beispielsweise spricht Göppinger von einem für junge Straftäter geradezu typischen „inadäquat hohem Anspruchsniveau“ (1997, 308, anders jedoch Suhling 2005, 201ff ). Da wir den Jugendlichen auch die offene Frage gestellt haben, welche individuellen Pläne sie für ihre berufliche Zukunft haben, ist es uns möglich, der Frage nachzugehen, wie wirklichkeitsnah die Vorstellungen der Jugendlichen sind; also ob sich ihre Wünsche und Pläne mit ihren objektiven Möglichkeiten (wie beispielshalber ihrem formalen Bildungsstand) in Einklang bringen lassen. „Bewerbung bei Müllabfuhr“ Als konkrete Pläne für die berufliche Zukunft nannten die Jugendstrafgefangenen beispielsweise Vorhaben wie „Hauptschulabschluss nachholen“, „Ausbildung Maurer beenden, Abendrealschule, Umschulung auf Kfz-Mechaniker“ und „Hauptschule beenden, Schreinerlehre machen“. Die Vorstellungen waren teils sehr konkret, auch wurde von bereits fest geplanten Beschäftigungsmöglichkeiten berichtet; insbesondere in Betrieben von Verwandten, wie etwa „bei Onkel in Pizzeria arbeiten, dort vielleicht Ausbildung machen“ oder „bei Vater in Spielothek einsteigen“. Streckenweise sind die Vorhaben der Jugendlichen sehr ambitioniert, aber durchaus zu realisieren. Die Jugendlichen „Wenn ich an meine berufliche Zukunft denke, bin ich zuversichtlich.“ „Für meine berufliche Zukunft sehe ich schwarz.“ „Was meine berufliche Zukunft angeht, werde ich wohl Sozialhilfe, Hartz IV oder dergleichen in Anspruch nehmen müssen.“ „Ich werde später einen Beruf ausüben, der mir Spaß macht.“ 76,0 24,0 11,2 88,7 8,8 91,2 89,2 10,8 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 in Prozent stimmt völlig/ stimmt eher stimmt eher nicht/ stimmt gar nicht Schaubild 1 383 uj 9 | 2011 Jugendstrafgefangene merkten teilweise auch selbst an, dass sie Träume hätten, die aufgrund ihrer Vergangenheit nicht umzusetzen sind (z. B. „Jurastudium“, „eigentlich Psychologe werden, aber der Zug ist abgefahren“) oder ihre Fähigkeiten übersteigen („Traumberuf: Kfz-Mechaniker, aber Anforderungen zu hoch“). Sie waren aber meist gleichzeitig in der Lage, Alternativen zu beschreiben, die realitätsnäher und angesichts ihrer schulischen Ausgangsbedingungen auch verwirklichbar erscheinen. Der Großteil der Jugendlichen gab an, eine Ausbildung oder Lehre machen zu wollen. So ziehen es insgesamt 78 % der Jugendlichen in Betracht, eine Ausbildung zu beginnen („Ausbildung zum Industriemechaniker oder Maler/ Lackierer“, „Ausbildung zum Koch“, „Ausbildung als Fliesenleger“, „Ausbildung als Lagerist“, „Ausbildung als Maurer oder Gärtner“, „Fensterbauer oder Glaser“) oder an eine vor der Inhaftierung begonnene Ausbildung anzuknüpfen („Ausbildung als Gartenbauer fertig machen“, „Ausbildung im Elektrobereich beenden“, „Ausbildung zum Koch wieder aufnehmen“, „Möbelpackerausbildung fertig machen“). Die Ausbildungswünsche bewegen sich dabei vor allem im Bereich des „klassischen“ Handwerks sowie der Fahrzeugtechnik. Andere der befragten Jugendstrafgefangenen tendieren zu einfachen, wenig formale Qualifikationen voraussetzende Tätigkeiten wie „Gebäudereiniger“, „LKW fahren“, „Bewerbung bei Müllabfuhr“, „Paketzusteller“, „so Hausmeistersachen, Gartenpflege, Winterdienst“ oder „als Gabelstaplerfahrer arbeiten“. Diese Gruppe, die nach der Entlassung keine Ausbildung machen möchte und - auf legalem Weg - „nur“ Geld verdienen möchte (vereinzelt durch einen bereits erlernten Beruf, in größerem Maße durch angelernte Tätigkeiten), macht etwa 9 % aus. 7 % der Jugendlichen planen weder eine Ausbildung noch den Einstieg in die Arbeitswelt, sondern möchten zuvor noch bestimmte Bildungsabschlüsse erreichen. Insgesamt hatten nur 3 % der Jugendlichen überhaupt keine Pläne oder konkrete Vorstellungen, was sie nach der Inhaftierung beruflich machen möchten. Und gerade einmal 1 % der Jugendlichen gab an, dass sie bewusst überhaupt nichts machen wollen („wenn es nach mir ginge, würde ich mein ganzes Leben lang chillen“) oder auch zukünftig ihren Unterhalt illegal bestreiten wollen („Traumberuf: Zuhälter! “, „mit Drogen reich werden, um Grundlage für Einstieg in die Immobilienbranche zu schaffen“). Nur vereinzelt wurden hochfliegende Ziele wie „professionell Fußballspielen“ oder „Basketballspieler“ genannt. Zu sehr nach den Sternen greift etwa auch ein ehemaliger Förderschüler, der als Berufswunsch „Studium der Sozialpädagogik“ angibt; gleichsam ein anderer Jugendlicher, der „Hauptschule nachholen, Realschulabschluss, dann Abitur“ machen möchte. Ebenso darf bezweifelt werden, ob ein Jugendstrafgefangener nach der Haft sofort die Möglichkeit bekommt, „Antiaggressionstrainer“ zu werden. Unrealistisch dürften auch vereinzelte Wünsche 384 uj 9 | 2011 Jugendstrafgefangene nach Selbstständigkeit sein („dann mache ich einfach eine Bar auf“, „Discothek eröffnen“ oder auch „auswandern und dann Tattoo-Studio eröffnen“). Die Anzahl derer, bei denen man davon ausgehen muss, dass der Berufswunsch im Vorhinein zum Scheitern verurteilt ist, ist somit überraschend gering (2 %). Schlussbetrachtung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die von den Jugendstrafgefangenen geäußerten beruflichen Perspektiven insgesamt beachtlich realistisch erscheinen. Von einem inadäquat hohen Anspruchsniveau ist bei den meisten Jugendstrafgefangenen wenig zu merken, zumal sie überraschend gut darüber informiert erscheinen, in welchen Arbeitsmarktsegmenten für sie überhaupt Zugangsmöglichkeiten bestehen. Ob die beruflichen Ziele dann auch tatsächlich verwirklicht werden können, ist jedoch mehr als fraglich. Zwar berücksichtigten die Jugendlichen zum Teil schon selbst bei ihren Berufswünschen, dass sie nach der Entlassung aus dem Jugendstrafvollzug auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt mit der Stigmatisierung als ehemaliger Gefangener konfrontiert sind („als Ex-Knacki hat man eh keine Chance, einen guten Job zu bekommen“). Zweifel sind jedoch auch angebracht, ob bei den meisten Jugendstrafgefangenen die kognitive Leistungsfähigkeit und das Durchhaltevermögen vorhanden sind, die z. B. für den Abschluss einer Lehre erforderlich sind. Zu bedenken ist dabei, dass die Jugendstrafgefangenen gerade im Hinblick auf den Leistungsbereich eine Negativauswahl darstellen. Wie die labelingtheoretisch orientierte Kriminalsoziologie aufzeigen konnte, erhöhen Auffälligkeiten im Leistungsbereich die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung zu einer unbedingten Jugendstrafe deutlich (Peters 1970; Schumann 2002). Oder anders formuliert: bei vergleichbaren Straftaten hat ein Jugendlicher mit unauffälligem Leistungsbereich eine gute Chance, mit einer Bewährungsstrafe „davonzukommen“. Ermutigend in Sachen Resozialisierung stimmt jedoch die Tatsache, dass die meisten der befragten Jugendstrafgefangenen ihre berufliche Zukunft eher positiv einschätzen und ihre Lebensplanung auf legale, meist sogar qualifizierte Erwerbsarbeit aufbauen. Dieses Ergebnis ist zum einen für die Sozialstrukturanalyse und die Diskussion um soziale Exklusion (Bude/ Wilisch 2006; Kronauer 2010) von besonderer Bedeutung: nur die wenigsten haben bereits vollständig resigniert und fühlen sich vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Trotz der schlechten Ausgangsbedingungen blicken sie recht hoffnungsfroh in die Zukunft und sehen sich nicht als die Verlierer der Gesellschaft, denen die soziale Teilhabe (auch in Zukunft) verweigert wird. Von einer sozialen Exklusion, die sich subjektiv in einer resignierten Grundhaltung oder fehlenden Zukunftsperspektiven widerspiegelt, kann bei den von uns befragten Jugendstrafgefangenen (noch? ) nicht gesprochen werden. Zum anderen ist dieses Ergebnis bedeutsam für die Prozesse, die zum Abbruch einer kriminellen Karriere führen. Wenngleich die Forschung zeigen konnte, dass bei jugendlichen Mehrfachtätern die Hauptimpulse für ein Ende der strafrechtlich relevanten Auffälligkeiten auch von der Familie oder Partnerin ausgehen können (Stelly/ Thomas 2006), so kommt dem Leistungsbereich in Folge seiner gesellschaftlichen Wichtigkeit - im Hinblick auf die Zuweisung materieller Güter und Status - besondere Bedeutung für eine erfolgreiche Reintegration zu. In den Mittelpunkt vieler neuerer Analysen zur Reintegration von Straftätern wird das „aktive“ Individuum gestellt, das nicht nur auf Veränderungen sozialer Einbindungen reagiert, sondern diese Einbindungen und damit seinen weiteren Lebensweg durch seine Entscheidungen und Handlungen gestaltet. Kognitive Prozesse und insbesondere die Veränderung des Selbstbildes werden als notwendige, teilweise sogar als die entscheidenden Faktoren für eine erfolgreiche Reintegration betrachtet (Maruna 2001; Farrall/ Calverley 2006; Böttger 2001). Die 385 uj 9 | 2011 Jugendstrafgefangene Literatur Böttger, A., 2001: „Da haben wir richtig Mist gemacht.” Zu Beginn und Ende „devianter Sequenzen” in den Lebensgeschichten Jugendlicher. In: Sackmann, R./ Wingens, M. (Hrsg.): Strukturen des Lebenslaufs. Übergänge - Sequenzen - Verlauf. Weinheim/ München, S. 51 - 77 Brandt, M., 2006: Gesetzliche Regelung für den Jugendstrafvollzug. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 17. Jg., H. 3, S. 244 - 250 Bude, H./ Willisch, A. (Hrsg.), 2006: Das Problem der Exklusion. Hamburg Farrall, S./ Calverley, A., 2006: Understanding desistance from crime. Emerging theoretical directions in resettlement and rehabilitation. Maidenhead Göppinger, H., 5 1997: Kriminologie. München Hradil, S., 8 2001: Soziale Ungleichheit in Deutschland. Opladen Zukunfts- und Berufspläne der Jugendstrafgefangenen beschreiben gangbare Möglichkeiten einer konformen Lebensgestaltung, die in absehbarer Zukunft durch eigenes Handeln als erreichbar erscheint. Sie sind - pointierter formuliert - Ausdruck eines konformen Selbstbildes. Und folgt man den genannten Forschungsansätzen, dann ist ein solches konformes Selbstbild Voraussetzung für oder sogar ein erster Schritt in Richtung Reintegration. Aufgabe des Jugendstrafvollzugs muss es daher sein, diese positiven Zukunftsentwürfe der Jugendlichen zu verstärken und durch schulische und berufliche Qualifizierungsmaßnahmen zu fördern. Thaya Vester Dr. Wolfgang Stelly Dr. Jürgen Thomas Universität Tübingen Institut für Kriminologie Sand 7 72076 Tübingen thaya.vester@uni-tuebingen.de wolfgang.stelly@uni-tuebingen.de juergen.thomas@uni-tuebingen.de Kronauer, M., 2010: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt am Main/ New York Maruna, S., 2001: Making good: how ex-convicts reform and rebuild their lives. Washington D.C. Peters, D., 1970: Die Genese richterlicher Urteilsbildung und die Schichtverteilung der Kriminalität. In: Kriminologisches Journal, 2. Jg., H. 4, S. 210 - 232 Schumann, M., 2002: Ausbildung, Arbeit und kriminalisierbares Verhalten. In: Anhorn, R./ Bettinger, F. (Hrsg.): Kritische Kriminologie und soziale Arbeit. Weinheim/ München, S. 147 - 168 Stelly, W./ Thomas, J., 2006: Die Reintegration jugendlicher Mehrfachtäter. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 17. Jg., H. 1, S. 45 - 51 Suhling, S., 2005: Lebensziele junger Männer im Strafvollzug. Theoretische und empirische Argumente aus aktionaler Entwicklungsperspektive. Baden-Baden
