unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
31
2012
643
Kompetent beraten - Aspekte einer kultur- und migrationssensiblen Beratung von Jugendlichen
31
2012
Martin Merbach
Der gesellschaftliche Paradigmenwechsel in der Betrachtung von Zuwanderern vom Ausländer zum Menschen mit Migrationshintergrund und die Neudefinition Deutschlands als Einwanderungsland stellen auch die Beratung und psychosoziale Versorgung vor neue Herausforderungen. Es muss sich verstärkt mit der Frage auseinandergesetzt werden, wie eine kultur- und migrationssensible Beratung aussehen kann und wie Konzepte in die Praxis umgesetzt werden können. Der folgende Beitrag möchte einige Anregungen zu diesem Thema am Beispiel der Beratung von Jugendlichen geben.
4_064_2012_003_0108
108 unsere jugend, 64. Jg., S. 108 - 117 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art11d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kompetent beraten - Aspekte einer kultur- und migrationssensiblen Beratung von Jugendlichen Der gesellschaftliche Paradigmenwechsel in der Betrachtung von Zuwanderern vom Ausländer zum Menschen mit Migrationshintergrund und die Neudefinition Deutschlands als Einwanderungsland stellen auch die Beratung und psychosoziale Versorgung vor neue Herausforderungen. Es muss sich verstärkt mit der Frage auseinandergesetzt werden, wie eine kultur- und migrationssensible Beratung aussehen kann und wie Konzepte in die Praxis umgesetzt werden können. Der folgende Beitrag möchte einige Anregungen zu diesem Thema am Beispiel der Beratung von Jugendlichen geben. von Dr. rer. med. Martin Merbach Jg. 1971; Diplom-Psychologe, Systemischer Berater und Familientherapeut, Paarberater, Dozent am Evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung, Berlin, und tätig im Verband binationaler Familien und Partnerschaften - iaf e.V., Berlin Aspekt I: Wissen um die Heterogenität der Zielgruppe Kultur- und migrationssensible Beratung von Jugendlichen kann nicht stattfinden, entwickelt oder implementiert werden, ohne genauer die Zielgruppe zu betrachten, die eigentlich „sensibel“ beraten werden soll. Abhängig von der politischen Situation ist diese Zielgruppe in den vergangenen Jahrzehnten recht unterschiedlich bezeichnet worden: Fremde, AusländerInnen, ausländische MitbürgerInnen, MigrantInnen etc. In letzter Zeit hat sich ein neuer Begriff für die nach Deutschland Zugewanderten und deren Nachkommen durchgesetzt: „Mensch mit Migrationshintergrund“. 2010 hatten etwas über 16 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund (ca. 20 %). In den unterschiedlichen Altersgruppen variiert jedoch der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund. So haben fast 35 % der Kinder unter 5 Jahre einen Migrationshintergrund. Bei den Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren beträgt der Anteil 26 %. Dabei gibt es wiederum starke regionale Unterschiede, so hatten 2005 67 % der unter 5-Jährigen in Nürnberg einen Migrationshintergrund. Die aktuellen Zahlen zu Menschen mit Migrationshintergrund sind beim Statistischen Bundesamt zu erfahren (www.destatis.de). Menschen und somit auch Jugendliche mit Migrationshintergrund sind eine sehr heterogene Gruppe: 109 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz Sie unterscheiden sich hinsichtlich ➤ Herkunftsgebiet - ethnischer Zugehörigkeit (z. B. aus der Türkei stammende TürkInnen und KurdInnen), ➤ soziookönomischen Status (Unter-, Mittel- oder Oberschicht, Bildungsstand), ➤ Sprachkenntnissen (monolingual, bi-, trilingual), ➤ Aufenthaltsstatus (AsylbewerberInnen, geduldete Flüchtlinge, Menschen mit befristetem Aufenthalt, Menschen mit Daueraufenthalt), ➤ Aufenthaltsdauer (gerade eingereist, kurz oder lange in Deutschland lebend, in Deutschland geboren), ➤ Religiosität (säkularisiert bis streng religiös), ➤ Beweggründen (Arbeitssuche, Flucht, Partnerschaft, Familienzusammenführung), ➤ Zukunftserwartung (RemigrantInnen vs. Eingebürgerte). Auch in den unterschiedlichen Teilen in Deutschland lassen sich verschiedene Gruppen von Menschen mit Migrationshintergrund antreffen: So lebt beispielsweise eine vergleichsweise zahlenmäßig große japanische Gruppe in Düsseldorf, die eine sehr gute Schulbildung besitzt und einen teilweise hohen sozioökonomischen Status hat, während in Berlin-Neukölln eher Menschen mit türkeistämmigem Migrationshintergrund und niedrigerem sozioökonomischen Status als die deutsche Bevölkerung anzutreffen sind. Auch die neuen und alten Bundesländer unterscheiden sich bezüglich der Anzahl und der Zusammensetzung der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund: In Sachsen sind die größten Gruppen die (Spät-)aussiedlerInnen sowie die polnischen und vietnamesischen MigrantInnen, während in Nordrhein-Westfalen beispielsweise die größten Gruppen die türkeistämmigen MigrantInnen sind. Jugendliche sind an sich schon eine heterogene Gruppe - bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund kommen noch einige Merkmale hinzu, worin sie sich voneinander unterscheiden können. Das Wissen um die Heterogenität der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund ist eine wesentliche Voraussetzung für eine migrations- und kultursensible Beratung der Jugendlichen. Mit detaillierteren Kenntnissen über die Zusammensetzung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Stadtteil können zielgruppenspezifische Angebote entwickelt und implementiert werden. Aspekt II: Kenntnisse zur Lage von Jugendlichen mit Migrationshintergrund Welche allgemeingültigen Aussagen lassen sich nun bei dieser Heterogenität überhaupt treffen? Jugendliche machen andere Migrationserfahrungen als Erwachsene. Sie haben vielfältigere Chancen der Partizipation in der neuen Gesellschaft, erst recht, wenn sie schon in sie hineingeboren wurden. Die Beziehung zwischen Eltern und Jugendlichen wird wesentlich beeinflusst durch Konformitätsfragen, Konfliktminimierung und die Aufrechterhaltung kultureller Traditionen (Siefen u. a. 1996). Manche Werthaltungen der Eltern sind relativ flexibel und offen für Veränderung, während andere (unter ihnen zum Teil auch religiöse Normen) einen Kernbereich sozialer und kultureller Identität darstellen und somit unveränderlicher sind. Vieles weist darauf hin, dass Jugendliche die Werte und Einstellungen der Mehrheitskultur schneller als ihre Eltern annehmen oder sich zumindest stärker mit diesen auseinandersetzen. Daraus resultierende Einstellungsunterschiede können zu Konflikten in Familien mit Migrationshintergrund führen. 110 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz Dies betrifft besonders Familien, in denen sich die Einstellungen und Werte stark von denen der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. In diesen Kontexten können Entwicklungsverläufe der Jugendlichen konfliktreicher verlaufen. Die westliche Ankunftsgesellschaft, in der diese Jugendlichen ausgebildet werden und die kritisches Denken und Nachfragen betont, macht es für sie schwieriger, die traditionellen und kulturellen Werte ihrer Eltern stillschweigend zu akzeptieren. Andererseits lässt sich auch beobachten, dass elterliche Werte nicht statisch, sondern für Veränderung zugänglich sind. So können Familien bei der Beibehaltung traditioneller Werte selektiv vorgehen, während die Werte der Mehrheitsgesellschaft allgemeine Akzeptanz finden. Indische Väter in Amerika beispielsweise gestalten ihre Beziehungen zu Hause, besonders zu ihren Töchtern, entsprechend traditionellen Vorstellungen und befürworteten gleichzeitig die Einhaltung amerikanischer Normen bezüglich interpersoneller Beziehungen wie zum Beispiel am Arbeitsplatz (Sethi 1990). Elterliche Einstellungen und Verhaltensweisen haben also einen starken Einfluss auf Akkulturationserfahrungen und -verhalten der Jugendlichen sowie deren soziokulturelle und psychologische Anpassung. Jugendliche mit einem ausgeprägten Bewusstsein ihrer kulturellen Identität hatten Eltern, die ihre Kinder bewusst und zielgerichtet auf ein Leben in einer vielfältigen und multikulturellen Gesellschaft vorbereitet hatten (Phinney/ Nakayama 1991). Die Kinder und Jugendlichen gut integrierter Migranteneltern verfügen selbst auch über eine höhere soziale Kompetenz, wobei Integration in diesem Kontext eine Verankerung in beiden Kulturen meint (Lasry/ Sayegh 1992). Erim-Frodermann (1997) beschreibt die starren Rollen- und Beziehungsstrukturen in vielen türkischen Migrantenfamilien. Zugleich betont sie jedoch den Nutzen intensiver familiärer Beziehungen, die sich auch als Ressource zur eigenen Weiterentwicklung erweisen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Migrationshintergrund sowohl eine Ressource als auch ein Defizit sein kann und somit als Erklärungsvariabel für bestimmte Probleme oder Verhaltensweisen nur unzureichend heranzuziehen ist. Seelisches Grenzgängertum Aus theoretischer Sicht haben zur Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund Hildenbrand und Lanfranchi (1996) das Konzept des seelischen Grenzgängertums entwickelt, das sich gut als Rahmen für die Arbeit mit dieser Gruppe eignet. Sie gehen davon aus, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund unter dem Einfluss differierender Systeme aufwachsen, die ihre Vorstellungen und Ziele nicht miteinander austauschen. Solche Systeme können auch als geografische oder psychologische Räume verstanden werden, zwischen denen sich die Jugendlichen bewegen müssen. Beispiele für diese Räume können je nach Abstraktionsebene sein: ➤ Kulturraum: Herkunftskultur - Ankunftskultur ➤ Privat-öffentlicher Raum: Familie (privat) - Schule (öffentlich) Privater Körper - Medialer Körper (Nacktheit) ➤ Reflexionsraum: Reflexion im Gegenüber - Selbstreflexion ➤ Geschlechterraum: Monogeschlechtlich - Gemischtgeschlechtlich ➤ Sprachraum I: Herkunftssprache - Ankunftssprache ➤ Sprachraum II: AnalphabetInnen in der Muttersprache - Alphabetisiert in Zweitsprache Im privat-öffentlichen Raum findet beispielsweise selten eine Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Erziehungsstilen und Werthaltungen statt: Möglicherweise werden 111 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz die Jugendlichen in der Schule zu mehr Autonomie erzogen, und im familiären Bereich spielen kollektive Werte eine bedeutendere Rolle. Wenn Systeme ungenügend miteinander kommunizieren, entsteht für die Heranwachsenden ein „go between“ zwischen diesen Räumen mit einem Verlust von Verbindlichkeiten. Die Jugendlichen sind demzufolge gezwungen, die divergierenden Einstellungen, Erwartungen oder Werthaltungen allein zu integrieren. Wenn sie beispielsweise nicht mehr die Integration der unterschiedlichen Werthaltungen bewältigen, kann dies zur Folge haben, dass sie sich aus beiden Räumen zurückziehen. In dem Zwischenraum werden neue Regeln entweder selbst oder in der Peergroup geschaffen, so dass nach außen geschlossene Räume und Bastelbiografien entstehen. Das wird oftmals an der Sprache sehr deutlich. Die Familiensprache ist teilweise nicht die Ausbildungssprache. Beide Sprachräume existieren häufig nebeneinander, und es findet kein Austausch statt. Folgen können Zwischensprachen (vgl. Kanak Sprak, Zaimoğlu 1995) sein. Bei koordinierter Transformation zwischen den Räumen entstehen Entwicklungsräume und Entwicklungschancen. Psychosoziale Beratung kann in diesem Kontext die Aufgabe dieser koordinierten Transformation einnehmen. Sie kann die Kinder und Jugendlichen und deren Familien dabei unterstützen, die teilweise so unterschiedlichen Werthaltungen und Einstellungen zu integrieren, und helfen, die Übergänge zwischen den Räumen zu gestalten. Aspekt III: Kompetenz in migrations- und kultursensibler Beziehungsgestaltung In letzter Zeit wurde sich viel mit Kompetenzen in migrations- und kultursensibler psychosozialer Versorgung auseinandergesetzt und Checklisten, Handreichungen etc. entwickelt (vgl. bke 2009). An dieser Stelle soll daher nicht ausführlich auf diese eingegangen werden. Da in den Publikationen zur interkulturellen Kompetenz aber die Aspekte der Beziehungsdynamik etwas vernachlässigt sind, sollen diese hier im Mittelpunkt stehen. Beziehung aus psychologischer, migrationsspezifischer bzw. kultureller Perspektive verstehen Beratungsprozesse mit Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund sind oftmals sehr komplex. Um das Verstehen aber etwas zu erleichtern, liefert Kunze (1998) ein für den psychologischen Beratungskontakt nützliches Modell. Er geht von verschiedenen Verstehensebenen (Verständnisfolien) im interkulturellen Kontakt aus. Eine Folie ist hierbei das psychodynamische Verständnis der Beziehung. Dieses ist auch auf eine Beziehung im psychosozialen Kontext anwendbar. Wird auf die helfende Beziehung unter diesen Aspekten geschaut, spielen kulturübergreifende Aspekte der Beziehungsgestaltung eine Rolle. Was ist also unter dem Problem zu verstehen, und wie beeinflusst das Problem die beraterische Beziehung? Eine zweite Folie ist die der Minderheiten-Mehrheiten-Beziehung. Menschen mit Migrationshintergrund sind immer Angehörige einer Minderheit und treffen in den meisten Institutionen Angehörige der Mehrheitsgesellschaft. Selbst wenn diese auch Menschen mit Migrationshintergrund sind, stellen sie doch VertreterInnen des Systems dar und haben größere Machtbefugnisse. Dieser Unterschied beeinflusst auch immer den Kontakt zwischen Ratsuchenden und BeraterInnen. Auf Klientenseite wirken dabei oftmals Diskriminierungs- und Migrationserfahrungen. Die dritte Folie, die auf den Begegnungsprozess gelegt werden kann, ist die kulturelle Folie. Damit ist gemeint, dass sich BeraterIn und KlientIn hinsichtlich Werten, Normen, Sprache, Religion etc. unterscheiden. Um diese Verständnisfolien etwas zu illustrieren, folgt ein Beispiel: 112 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz Eine 17-jährige Jugendliche mit türkeistämmigen Migrationshintergrund sucht eine Beratung wegen der Studienwahl auf. Sie wirkt aufgeschlossen und erzählt zu Beginn der Beratung ausführlich über ihre Situation. Dabei scheint sie von der Beraterin zu erwarten, dass diese die Entscheidung über ihre berufliche Entwicklung trifft. Als die Beraterin sie jedoch nach ihren persönlichen Wünschen befragt, gerät sie ins Schweigen. Der Beratungsprozess gerät ins Stocken. Obwohl die Beraterin sich weiterhin um ein gutes Gespräch bemüht, der Jugendlichen wertschätzend begegnet, reagiert die Klientin einsilbig. Aus einer psychologischen Perspektive würden sich folgende Fragen stellen lassen: Woher rührt das Schweigen der Jugendlichen in dem vorhin geschilderten Fall, und wie reagiert die Beraterin darauf? Ist es eine Persönlichkeitseigenschaft der Jugendlichen? Zeigt sie mit ihrem Schweigen den Ablöseprozess von den Eltern? Aus einer migrationsspezifischen Perspektive wären folgende Fragen denkbar: Zieht sich unsere Jugendliche beispielsweise zurück, weil sie sich der Beraterin unterlegen fühlt? Weil sie sich an ihre Lehrerinnen im Gymnasium erinnert fühlt, die dem Kind aus der Gastarbeiterfamilie wenig zutrauten und immer besonders nachfragten, ob sie auch alles schaffen würde? Kulturspezifisch könnten es interkulturelle Unterschiede in den Vorstellungen bezüglich Autonomie sein. Die Beraterin könnte beispielsweise die Wünsche nach Individuation sehr unterstützen - die Jugendliche sich hingegen gar nicht so weit aus ihrer Familie heraus entwickeln wollen. Kommt es nun zu einer übermäßigen Akzentuierung einer Verständnisfolie, geht dies meist mit blinden Flecken auf den anderen Verstehensfolien einher. Die Folge könnte eine Psychologisierung, eine Politisierung oder Ethnisierung der Beziehung sein. Die Jugendliche aus dem Fallbeispiel bekäme dann vorschnell die Diagnose einer Adoleszentenkrise, und nur noch das Symptom des Sich-nicht-abnabeln- Könnens wird gesehen. Sie könnte eher überbehandelt werden (vielleicht weil die Beraterin unbewusst positiv diskriminiert), oder ihr wird mangelnde Mitarbeit bescheinigt, da sie andere Wertvorstellungen hat. Psychologische Rahmung • Psychodynamik der Beziehung • Psychosexuelle Entwicklung • Angst- und Aggressionsmuster • Anerkennungs- und Bestrafungsmuster • Beziehungskonstellationen • rigide - flexible Systeme • geschlossene - offene Systeme Kulturelle Rahmung • Sprache, Religion • Kulturelle Wertentwicklung • Kulturelle Praxis (Wo? Mit wem? ) • Kulturell geprägte Unterschiede in den Geschlechterrollen • Veränderungen in der (Herkunfts-)kultur • Entfremdung von der Herkunftskultur Migrationsbezogene Rahmung • Migranten als Minderheiten • Individuelle und familiäre Migrationsgeschichte • Veränderung im sozialen Status • Erlebte Diskriminierung • Politische und rechtliche Situation • Migrationsbedingte Einflüsse auf Identitätsentwicklung Beziehung Berater/ in - Klient/ in Gefahr der Psychologisierung, Ethnisierung oder Politisierung der Fälle Abb. 1: Verständnisfolien (nach Kunze 1998) 113 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz Da diese drei Folien immer im interkulturellen Kontakt wirken, müssen sie mitbedacht werden. Gleichzeitig bilden sie einen praxisnahen Zugang zur Reflexion über die BeraterIn-KlientIn-Beziehung. Kollektive Übertragungsmuster und Abwehrstrategien in der Beziehung In jeder zwischenmenschlichen Begegnung, so auch in der beraterischen Beziehung, spielen bestimmte Übertragungs- und Abwehrmechanismen eine bedeutende Rolle. Das bedeutet einerseits, dass wir das Gegenüber nicht so wahrnehmen können, wie es „wirklich“ ist, sondern es mit bestimmten Beziehungserfahrungen aus unserer Vergangenheit behängen (Übertragung). Aufgrund der Übertragungen haben wir bestimmte (teilweise unbewusste) Erwartungen an unser Gegenüber, die natürlich kulturell geprägt sind. In der Begegnung von Menschen aus verschiedenen Kulturen kann demzufolge eher eine Diskrepanz zwischen Erwartung und realem Verhalten des Gegenübers entstehen. Andererseits werden in der Begegnung mit dem anderen bestimmte Wünsche und Ängste mobilisiert und eigene Wertvorstellungen möglicherweise in Frage gestellt, die dann reguliert werden müssen (Abwehr). Das soll nochmals an dem oben geschilderten Beispiel verdeutlicht werden: In dem Fallbeispiel begegnen sich eine Jugendliche und eine nicht-jugendliche Beraterin. Auf diesen Beziehungsprozess wirken alle Übertragungen, durch die eine Beziehung Jugendliche - Nichtjugendliche gekennzeichnet ist. Die Jugendliche kann zum Beispiel auf die Beraterin ihr Idealbild einer erwachsenen Person übertragen, einen Gegenentwurf zur Mutter. Da die idealisierte Beraterin allerdings keinen Rat gibt, sieht die Jugendliche sie weniger kompetent und zieht sich zurück. Aus einer kultur- und migrationsspezifischen Perspektive könnten sich neben diesen allgemeinen Übertragungsmechanismen noch weitere Übertragungen abgespielt haben: Die Beraterin ist für die Klientin eine Vertreterin der Mehrheitsgesellschaft mit deren autonomen Werten, gegenüber der sie vielleicht die Werte ihrer Familie verteidigen muss. Oder die Klientin überträgt mögliche Diskriminierungserfahrungen auf die Beraterin. Wenn man über die in dieser Situation ausgelösten Wünsche und Ängste hypothetisiert, könnten für die türkeistämmige Jugendliche in der Begegnung mit der deutschen Beraterin Versorgungswünsche ausgelöst werden. Sie sehnt sich nach einer bedingungslosen Hilfe. Dies kann sie aber nicht äußern, da sie möglicherweise in ihrer Familie die Erfahrung machte, dass sie nicht beeinflussen kann, wann und wie Hilfe kommt. Auch können die Eltern ihre Erfahrungen mit den Versorgungswünschen und deren Reglementierung in der Türkei unbewusst an die Jugendliche weitergegeben haben. Die Jugendliche hat also ein inneres Gebot, dass es sinnlos ist, Versorgung einzufordern, sondern dass es besser ist, abzuwarten und zu schweigen. In den Situationen allerdings, in denen sie Hilfe erfuhr, erlebte sie, dass diese Hilfe bestimmte Verpflichtungen nach sich zog (beispielsweise musste sie, um an einer Arbeitsgemeinschaft teilnehmen zu können, als Gegenleistung mehr Pflichten im Haushalt übernehmen). Sie befand sich nach der Inanspruchnahme von Hilfe meist in einem realen Abhängigkeitsverhältnis. Aus dieser Sicht ist das Thema Versorgung immer an eine Unterwerfung gebunden. Die Jugendliche befindet sich also in dem Dilemma, dass sie sich nach Hilfe sehnt und die damit verbundene Abhängigkeit nicht ertragen kann. Sie löst diese innere Spannung für sich mit Rückzug. Auf der Grundlage von Übertragungs- und Abwehrmechanismen entstehen im interkulturellen Kontext bestimmte häufige Übertragungsbereitschaften und Verständigungsprobleme in der beraterischen Beziehung. Dabei ist davon 114 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz auszugehen, dass in dieser Beziehung die Themen Autonomie - Abhängigkeit (Überlegenheit), Versorgung (Benachteiligung) sowie Individuation eine zentrale Rolle spielen (Erim 2004). Da Migrationsbewegungen oftmals damit verbunden sind, dass Menschen mit Migrationshintergrund aufgrund einer Unzufriedenheit in wirtschaftlicher, politischer und sozialer Hinsicht eine bessere Heimat suchen, ist es verständlich, dass das Benachteiligungsthema in der Biografie eines jeden Menschen mit Migrationshintergrund eine Rolle spielt. Dieses Thema wird in der Beratung sofort aktualisiert, da Versorgung genuin mit Benachteiligung assoziiert werden kann. Der Einheimische (aber auch der beraterisch arbeitende Mensch mit Migrationshintergrund, der es ja im Ankunftsland geschafft hat) verfügt in diesem Kontext über die Ressourcen und befindet sich somit in der dominanten Position. Er ist der Vertreter der Normen und Regeln, gleichzeitig aber auch für die Fürsorge zuständig. Migration ist aber auch gleichzeitig ein Individuationsprozess. Familiensysteme werden dabei auseinandergerissen, setzen sich neu zusammen oder sind, falls sie in ihrer alten Form bleiben, beträchtlichen Außeneinflüssen ausgesetzt, mit denen sie umgehen müssen. Menschen mit Migrationshintergrund und gerade Jugendliche sind also immer mit dem Thema Individualität und Kollektivität konfrontiert. Hier ist der Vertreter des Ankunftslandes gleichzeitig ein Vertreter einer individuumszentrierten Gesellschaft, ein Befürworter der Autonomie des Individuums. Er kann somit vom Menschen mit Migrationshintergrund als Spalter der Familie assoziiert werden. Um die in der Interaktion mit diesen Themen verbundenen starken Affekte wie Angst, Aggression, Schuld und Scham nicht erleben zu müssen, finden verschiedene Regulationsmechanismen statt (Erim 2004): Der Berater könnte behaupten, dass er alle KlientInnen gleich behandle, er könnte sich aufgrund mangelnder Kompetenz den KlientInnen mit Migrationshintergrund verweigern oder diese überfürsorglich behandeln. Der Jugendliche mit Migrationshintergrund könnte die Beratung abbrechen oder nicht compliant sein, da er sich auch hier, wie schon in der „alten“ Heimat oder Herkunftsfamilie, nicht genügend versorgt und verstanden fühlt. Andererseits kann er die mit seinem Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt verbundenen Affekte wie Wut, Schuld und Scham auf den Berater projizieren, dass dieser ihn von seiner Familie trennen will. Da die Klientenseite in der konkreten beraterischen Begegnung zu Beginn nicht veränderbar ist, liegt der Schwerpunkt des bewussteren Umgangs mit der interkulturellen Dynamik in der therapeutischen Beziehung aufseiten der Professionellen. Im Zusammenhang mit diesen doch eher unbewusst ablaufenden Prozessen ist eine Selbstreflexion erforderlich. Umgang mit dem Fremden In vielen Weiterbildungen zur interkulturellen Kompetenz beschäftigt man sich in den Selbstreflexionen mit Vorurteilen oder Stereotypen gegenüber dem Fremden. Dieser erste Zugang zur Reflexion über das Fremde bleibt aber oftmals an der Oberfläche. Notwendig und nützlich ist in diesem Kontext ein vertieftes Verstehen der Funktion und der Dynamik des Fremden. Das Fremde wird in der Regel konstruiert in Abgrenzung zu dem Eigenen. Ohne Eigenes ist also kein Fremdes möglich. In dieser Abgrenzung ist es das andere, das Unerwünschte, das Nicht-Gewollte, aber auch das Ersehnte und Begehrte. Das Fremde ist also an (und in) sich hochambivalent. Wenn wir auf die Entwicklung unseres Selbst schauen, entsteht das Fremde erst im Lauf des ersten Lebensjahres mit der Abgrenzung des Selbst von der Umwelt. In dieses Andere werden dann eigene Ängste und Wünsche projiziert. Freud (1972), der in diesem Kontext allerdings nur den Begriff des Unheimlichen nutzt, schreibt, dass es sich bei dem Unheimlichen 115 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz nicht um Unbekanntes handelt, sondern um Bekanntes, das einst vertraut gewesen ist, ins Unbewusste verdrängt wurde und nun im Bewusstsein wieder erscheint. Somit wird das Fremde zum eigenen Unbewussten. Der Zugang zum Fremden kann nur über das Verstehen des Eigenen erfolgen. Stereotype sind in diesem Zusammenhang kollektiv abgewehrte Ängste. Über die Kulturen hinweg gibt es drei stereotype kollektive Umgänge mit dem Fremden (Erdheim 1988): Entfremdung, Verwertung und Idealisierung. Mit Entfremdung ist dabei die Tendenz gemeint, das Fremde zu unterwerfen, anzupassen etc., also im wahrsten Sinne des Wortes zu entfremden. In rationalen Gesellschaften soll das Irrationale erklärt, verstanden und entfernt werden. Unter Verwertung kann dabei die Ökonomisierung des Fremden verstanden werden. Fremde in Führungspositionen oder mit bestimmten Qualifikationen sind willkommen, wie die Einführung der Greencard für AusländerInnen mit bestimmten Qualifikationen anschaulich zeigt. Durch die Schaffung von Angeboten der psychosozialen Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund besteht auch immer die Gefahr einer Überversorgung. Menschen mit Migrationshintergrund werden teilweise per se als Menschen mit Problemen betrachtet, die der Hilfe bedürfen. Auch unter dieser Perspektive wird der Fremde ökonomisiert, da er Arbeitsplätze im sozialen Bereich schafft. Schließlich meint die idealisierende Tendenz die Überhöhung der Betroffenen unter Ausblendung ihrer Fehler und Schwächen. Hier findet eine Aufspaltung in Gut und Böse statt. Der Fremde wird zum „edlen Wilden“, zum Naturverbundenen, zum wahre Werte lebenden, zum Intakten etc. Für die eigene Selbstreflexion ist es nun nützlich zu analysieren, welcher dieser drei Umgänge in der Beziehung zu dem Fremden mobilisiert wird. Grenzen des Verstehens Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass die interkulturelle Begegnung mehr an die Grenzen des gegenseitigen Verstehens kommt als die Begegnung von Menschen aus ein und demselben kulturellen Referenzrahmen. Daher ist es sinnvoll, das Prozesshafte dieser Beziehung zu betonen. Es wird immer Bereiche geben, in denen ein interkulturelles Verständnis erreicht wird. So können BeraterInnen in der ganzen Welt davon ausgehen, dass bei Jugendlichen, die freiwillig die Beratung aufsuchen oder durch ihre Eltern oder ErzieherInnen geschickt werden, das Thema der Individuation oder Selbstfindung in Abgrenzung von oder Annäherung an die Eltern eine Rolle spielt. Unterschiede wird es bereits in der Rollenerwartung an den Berater oder die Beraterin geben - und hier können bereits Grenzen des Verstehens auftauchen. Zusätzlich gespeist werden diese Grenzen noch durch äußere Faktoren wie Sprachbarrieren oder kulturspezifische Ausdrucksweisen von Symptomen und Gefühlen. Ersteres lässt sich vielleicht noch mit DolmetscherInnen teilweise regulieren. Durch die Anwesenheit einer dritten Person entstehen aber wiederum andere Dynamiken mit Wünschen, Ängsten und Erwartungen. Die kulturspezifischen Ausdrucksweisen, zum Beispiel das expressivere Betonen von Problemen oder die völlige Zurückhaltung, wirken auf den Professionellen unmittelbarer auf einer eher unbewussten Ebene. Er könnte sich durch den starken Gefühlsausdruck des Gegenübers bedrängt oder durch den schwachen Gefühlsausdruck abgelehnt fühlen. Beim Jugendlichen können ähnliche Gefühle entstehen, wenn er den Berater zu invasiv oder zurückhaltend wahrnimmt. Diese kulturspezifisch bedingten Gefühlsäußerungen verlaufen meist unbewusst und können somit zum dominierenden Aspekt der Kommunikation werden. 116 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz Zusammenfassung Jugendliche mit Migrationshintergrund sind wie gezeigt eine sehr heterogene Gruppe. Sie sind so unterschiedlich, dass es keine generellen Aussagen über sie oder ihre Beratung geben kann. Daher ist es in der Beratung dieser Klientel erforderlich, sich mit der jeweiligen aktuellen Situation vor Ort auseinanderzusetzen. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist jedoch davon auszugehen, dass diese Gruppe eint, dass sie sich mit einigen zusätzlichen Faktoren (Lebensanforderungen) auseinandersetzen muss: Besonders bedeutend ist hierbei möglicherweise die größere Differenz in den jeweiligen Normsystemen, denen die Jugendlichen ausgesetzt sind, was sich auf die Entwicklung eines eigenen Normsystems auswirken könnte. Weiterhin wirken die eigene oder familiäre Migrationsgeschichte, die mit Ressourcengewinnung oder Traumatisierung einher lief, sowie erlebte oder wahrgenommene Diskriminierungserfahrung. Eine kultur- und migrationssensible Beratung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund unterscheidet sich konzeptionell nicht von einer kultur- und migrationssensiblen Beratung Erwachsener mit Migrationshintergrund. Methoden und Ansätze der Jugendlichenberatung müssten allerdings auf ihre kulturelle Übertragbarkeit überprüft und bei Bedarf angepasst werden. Auch erfordert die Reflexion der BeraterIn-KlientIn-Beziehung eine migrations- und kulturspezifische Perspektive. Dr. rer. med. Martin Merbach Verband binationaler Familien und Partnerschaften - iaf e.V., Berlin Oranienstraße 34 10999 Berlin merbach@verband-binationaler.de 3., überarb. Aufl. 2012. 155 Seiten. Mit zahlr. Abb. (978-3-497-02272-4) kt Tipps für den Familienalltag Wenn Mama und Papa verschiedene Sprachen sprechen, haben Kinder die wertvolle Chance, mehrere Sprachen gleichzeitig zu lernen. Eltern stellen sich hierbei viele Fragen: Wie bin ich selbst ein gutes Sprachvorbild für das Kind? Was mache ich, wenn mein Kind die Sprachen verwechselt? Wann sollte ich einen Sprachtherapeuten aufsuchen? Mit vielen Fallbeispielen und wertvollen Tipps vermittelt die Autorin den Eltern Handlungssicherheit für den mehrsprachigen Alltag. a www.reinhardt-verlag.de 117 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz Literatur Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke), 2009: Für eine migrations- und kultursensible Institutionelle Beratung. Fachliche Empfehlungen des Deutschen Arbeitskreises für Jugend-, Ehe- und Familienberatung (DAKJEF). In: Informationen für Erziehungsberatungsstellen, H. 3 Erdheim, M., 1988: Psychoanalyse und Unbewusstheit in der Kultur. Frankfurt am Main Erim, Y., 2004: Interkulturelle Aspekte der psychotherapeutischen Beziehung. Kollektive Übertragungsbereitschaften. In: Psychotherapie im Dialog, H. 4, S. 368 - 374 Erim-Frodermann, Y., 1997: Kulturspezifische Aspekte der sozialmedizinischen Begutachtung von ausländischen Rentenbewerbern mit psychiatrischen und psychosomatischen Krankheitsbildern. Erfahrungen einer muttersprachlichen Gutachterin. In: Collatz, J./ Koch, E./ Salman, R./ Machleidt, W. (Hrsg.): Transkulturelle Begutachtung. Berlin, S. 141 - 147 Freud, S., 1972: Das Unheimliche. GW Bd. XII. Frankfurt am Main Hildenbrand, B./ Lanfranchi, A., 1996: Kinder im „seelischen Grenzgängertum“: Das Wandern zwischen den Welten beim Verlust transitorischer Räume. In: Dillig, P./ Schilling, H. (Hrsg.): Erziehungsberatung in der Postmoderne. Mainz, S. 59 - 70 Kunze, N., 1998: Interkulturelle psychologische Beratung. In: Wege zum Menschen, S. 195 - 205 Lasry, J. C./ Sayegh, L., 1992: Developing an acculturation scale: A bi-dimensional model. In: Grizenko, N./ Sayegh, L./ Migneault, P. (Hrsg.): Transcultural issues in child psychiatry. Montreal, S. 67 - 86 Phinney, J. S./ Nakayama, S., 1991: Parental influences on ethnic identity formation in adolescents. Paper: Meeting of the Society for Research & Child Development. Seattle Sethi, R., 1990: Intercultural communication and adaptation among first generation Asian-Indian immigrants. Paper: Korean Psychological Association International Conference. Individualism-Collectivism: Psychocultural perspectives from East and West. Seoul Siefen, G./ Kirkcaldy, B. D./ Athanasou, J., 1996: Parental attitudes: A study of German, Greek and second generation Greek migrant adolescents. In: Human Relations, 49. Jg., H. 6, S. 837 - 851 Zaimoğlu, F., 1995: Kanak Sprak - 24 Misstöne am Rande der Gesellschaft. Hamburg
