eJournals unsere jugend 64/3

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2012
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Das Konzept der interkulturellen Öffnung in der Integrationspolitik

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2012
Tatiana Lima Curvello
Das Konzept der interkulturellen Öffnung ist seit einigen Jahren ein Modekonzept in der integrationspolitischen Praxis. Im Nationalen Integrationsplan (NIP) wird Interkulturelle Öffnung inzwischen als ein wesentliches integrationspolitisches Instrument angesehen. Der „Erste Fortschrittsbericht“ zum Nationalen Integrationsplan zeigt, dass besonders die Bundesländer und Kommunen sich um Maßnahmen zur interkulturellen Öffnung bemühen. Zum Beispiel ist in den Berichten zur Integrationspolitik in Nordrhein-Westfalen die interkulturelle Öffnung eines der drei Aufgabenfelder, mit denen die seit Anfang 2007 geförderten 119 Integrationsagenturen das Integrationsmanagement im Land betreiben sollen.
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118 unsere jugend, 64. Jg., S. 118 - 129 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art12d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Das Konzept der interkulturellen Öffnung in der Integrationspolitik Das Konzept der interkulturellen Öffnung ist seit einigen Jahren ein Modekonzept in der integrationspolitischen Praxis. Im Nationalen Integrationsplan (NIP) wird Interkulturelle Öffnung inzwischen als ein wesentliches integrationspolitisches Instrument angesehen. Der„Erste Fortschrittsbericht“ zum Nationalen Integrationsplan zeigt, dass besonders die Bundesländer und Kommunen sich um Maßnahmen zur interkulturellen Öffnung bemühen. Zum Beispiel ist in den Berichten zur Integrationspolitik in Nordrhein- Westfalen die interkulturelle Öffnung eines der drei Aufgabenfelder, mit denen die seit Anfang 2007 geförderten 119 Integrationsagenturen das Integrationsmanagement im Land betreiben sollen. von Tatiana Lima Curvello Jg. 1950; Soziologin, Geschäftsführerin des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften - iaf e.V., Berlin Das Konzept der interkulturellen Öffnung wird in der Integrationspolitik als Bestandteil einer systematischen Steuerung (Nationaler Integrationsplan 2007, 7) von Integration definiert. Dass Integrationsprozesse der Steuerung bedürfen, geht auf einen Paradigmenwechsel in der deutschen Einwanderungs- und Integrationspolitik zurück. Er beruht auf der Erkenntnis, dass sich Integration nicht von selbst, also naturwüchsig ergibt. Deutschland definiert sich nunmehr seit einigen Jahren als Einwanderungsland und erklärt Integration als ein relevantes politisches Thema und Handlungsfeld, das der Steuerung bedarf. Aber kann man Integration steuern? Die exorbitante Aufgabe, die dieser Anspruch auf Steuerbarkeit der Integration darstellt, und somit die Erwartungen, die mit der interkulturellen Öffnung verbunden sind, werden erst fassbar, wenn wir den besonderen Kontext, in dem sich die Aufgabe der Integration in einem modernen Wohlfahrtsstaat wie Deutschland stellt, mit dem Kontext vergleichen, in dem sich die Integration von EinwandererInnen aus Europa in die klassischen Einwanderungsländer wie USA oder die Länder Südamerikas vollzogen hat. Integration in europäische Wohlfahrtsstaaten In den klassischen Einwanderungsländern korrelierte die Nachfrage nach Einwanderung im 19. und 20. Jahrhundert mit den Modernisierungsschüben, die zu dieser Zeit im Gange waren. Die EinwandererInnen aus Europa brachten die dafür notwendigen Qualifikationen und Kompetenzen mit, die gebraucht wurden. So wurden z. B. gegen Ende des 19. Jahrhunderts, 119 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz der neuen Heimat boten. Dieser Verlust wurde auch durch die kathartische Wirkung einer Alltagskultur aufgefangen, die in der Musik am prägnantesten war. Über den Tango ist in diesem Zusammenhang am meisten geschrieben worden (Reichardt 1981, 27 - 40). Die Integration lief über die Möglichkeit der sozialen Mobilität, die der Modernisierungsprozess in diesen Ländern seinen EinwandererInnen bot (vgl. Elkin für die jüdische Einwanderung in Lateinamerika). Wenn man in einem solchen Kontext von Integration spricht, kann man sagen, dass sie naturwüchsig gelaufen ist, sie hat sich durch die Strukturen auf dem Arbeitsmarkt sozusagen selbst gesteuert. Man hat sich arrangiert, weil Alteingesessene und Eingewanderte sich gegenseitig brauchten, eine Auseinandersetzung über Integration fand in der Regel nicht statt. Ganz anders ist der Kontext der Einwanderung in die westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten seit Ende der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Die Nachfrage nach EinwandererInnen entsprach der Nachfrage nach niedrigqualifizierten Arbeitskräften. Diese Nachfrage hielt sich in Deutschland genauso wie in den anderen europäischen Wohlfahrtsstaaten (Koopmans 2008) wie den Niederlanden, Belgien, Schweden oder Frankreich bis Mitte der 70er Jahre. Durch Rationalisierung und Modernisierung der Arbeitsprozesse und die gesellschaftliche Entwicklung in Richtung Wissensgesellschaft sowie durch die Entwicklung in der Arbeitsmarktpolitik, die fast keinen Spielraum oder Anreiz für einen Niedriglohnsektor im Dienstleistungsbereich bildete, bestand keine Nachfrage mehr nach diesen Arbeitskräften. Trotzdem ging die Einwanderung Niedrigqualifizierter über die Familienzusammenführung weiter. 1 Nach der Sklavenbefreiung durch das Gesetz „Lei Aurea“ im Jahr 1888, die mit dem Niedergang der Zuckerproduktion im Nordosten Brasiliens zusammenfiel, waren die ehemaligen Sklaven, die bei der Sklavenarbeit nicht als Lohnabhängige eingesetzt wurden, nach der Abschaffung der Sklaverei praktisch aus dem Arbeitsprozess ausgeschlossen. Die Versorgung durch die Großgrundbesitzer, die im Status als Sklave inbegriffen war, verloren sie damit auch. als im brasilianischen Südosten der Anbau von Kaffeeplantagen in großem Umfang betrieben wurde, die Lohnarbeiter vor allem aus Italien geholt. Die Lohnarbeit war für Anbau, Ernte und Verarbeitung von Kaffee für den Export die effektivere Arbeitsform gegenüber der Sklavenarbeit, die bis 1888 die vorherrschende Arbeitsform war, aber nicht die für die Anforderungen dieses Arbeitsprozesses notwendige Arbeitsorganisation und die erforderlichen Fertigkeiten bereitstellen konnte. 1 Weitere Modernisierungsschübe korrelierten ebenfalls mit Einwanderungswellen aus Europa, sodass auch der Industrialisierungsprozess und die Entwicklung des tertiären Sektors überhaupt erst durch die Einwanderung in Gang gekommen sind und von ihren Qualifikationen, Kompetenzen und Fertigkeiten getragen wurde (Prado Junior 1973). Dieser Prozess ging in Brasilien und auch in anderen Ländern Lateinamerikas bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Dass sich die EinwandererInnen den Bedingungen des Einwanderungslandes anzupassen hatten, stand für sie außer Frage. Es war ein unausgesprochener Konsens, dass sie die Qualifikationen, die sie aus ihren Herkunftsländern mitgebracht hatten, nur in den laufenden Modernisierungsprozess einbringen konnten, wenn sie auch bereit waren, sich den Spielregeln der Aufnahmeländer anzupassen. Die Kommunikation mit den Herkunftsländern beschränkte sich auf Briefkontakte und auf Informationen, die mit erheblicher Zeitverzögerung in der neuen Heimat ankamen. Der Kulturschock und das Gefühl der Entwurzelung, die zu jeder Migration gehören, wurden irgendwie verarbeitet (Flusser 1992) oder auch weggesteckt, ohne dass man darüber sprach. Und der Verlust der Heimat wurde in der Regel durch die Chancen kompensiert, die sich in 120 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz Auch bezogen auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und den Qualifikationen und Fertigkeiten der EinwandererInnen ist die Situation in Ländern wie Deutschland eine vollkommen andere als die in den klassischen Einwanderungsländern. In diesen Ländern passten die Qualifikationen und Fertigkeiten der EinwandererInnen, die über die Jahre gekommen waren, zu der Entwicklung, die sich in diesen Ländern vollzog. Diese Situation dauert bis heute an, auch wenn nicht in der gleichen Größenordnung wie im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 2 , während die Qualifikationen und Kompetenzen der Mehrheit der EinwandererInnen in den europäischen Wohlfahrtsstaaten seit Mitte der 70er Jahre nicht mehr zu den Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt passen. Wir hatten oben erwähnt, dass sich in den klassischen Einwanderungsländern die Integration der EinwandererInnen naturwüchsig vollzogen hat. Es gab in diesen Ländern - wohl gerade deshalb - keine Integrationsdebatte, und wenn sich einige eingewanderte Gruppen in Paral-lelgesellschaften zurückgezogen haben, wie die Amish in den USA oder wie jahrelang die Japaner in Brasilien, so stellte das kein besonderes Problem dar. Diese Gruppen waren trotz ihres Rückzugs in die eigene Community in Fragen der Bildung und auch wirtschaftlich integ-riert. In diesen Ländern gab es auf jeden Fall keinen Diskurs über Einwanderung und Integration. Die meisten EinwandererInnen kamen aus europäischen Ländern, die sich bereits auf dem Weg zur Modernisierung befanden. Viele hatten die Binnenmigration in ihren Herkunfts-ländern vom Land zur Stadt durchgemacht und hatten bereits Erfahrungen mit Anpassungs-prozessen, die moderne Gesellschaften ihren Individuen abverlangen. Auch wenn die Ein-wanderung in die Länder Lateinamerikas oder die USA eine weit größere Anpassung verlang-te als eine Binnenmigration vom Land zur Stadt in der alten Heimat, z. B. durch das Erlernen einer fremden Sprache, herrschte bei den meisten EinwandererInnen die Grundhaltung vor, dass die Anpassung an die neuen Bedingungen höchstes Gebot war. Auch die EinwandererInnen, die aus den eher traditionellen Gesellschaften Osteuropas kamen, übernahmen diese Haltung, auch wenn es ihnen wesentlich schwerer fiel, wohl nicht zuletzt motiviert durch den gesellschaftlichen Erfolg, den andere Einwanderungsgruppen aufwiesen, die gar nicht erst versucht hatten, übertrieben an tradierten kulturellen Formen festzuhalten (Elkin 2000). Bei der heutigen Einwanderung in Länder wie Deutschland haben wir eine umgekehrte Situation. Die meisten EinwandererInnen kommen aus ländlichen Gebieten, aus eher traditionellen Gesellschaften, in denen teilweise sogar ein zumindest diskursiver Entmodernisierungsprozess im Gange ist. Im Gegensatz dazu befinden sich die wichtigsten Einwanderungsländer Europas in einem Zustand der Hypermoderne mit ihren Merkmalen aus Komplexität und Individualität, Selbstreflexion, Frustrationstoleranz, Planung, Effektivität usw. als Voraussetzung für gesellschaftlichen Erfolg. Wenn Individuen, die in ländlichen Gebieten traditioneller Gesellschaften sozialisiert wurden, in einen modernen gesellschaftlichen Kontext migrieren, bedeutet das eine große Zumutung für ihre Psyche (Berger u. a. 1975, 123 - 138). Auf diese Herausforderung mit Regression (Wurmster 1993, 128 - 182) und Rückzug zu reagieren, liegt auf der Hand, vor allem dann, wenn die Integration in den Arbeitsmarkt fehlt, die bis jetzt in allen Einwanderungsländern der Transmissionsriemen zur Aufnahmegesellschaft war. Die multikulturalistische Politik, die jahrelang in der integrationspolitischen Auseinandersetzung die Deutungshoheit innehatte, ist dieser 2 Für die USA gilt diese Aussage mit Einschränkungen, mit der Einwanderung aus Mexiko haben sich ähnliche Phänomene entwickelt, wie wir sie gegenwärtig in Europa vorfinden. 121 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz Situation nicht entgegengesetzt. Im Gegenteil, der Diskurs (Luft 2006, 375 - 414; Sander 2008, 84 - 91), der diese Politik begleitet, ist semantisch so artikuliert, dass er die regressive Haltung, die sich aus der Kollision zwischen Tradition und Moderne fast zwangsläufig für EinwandererInnen in der ersten Phase der Einwanderung einstellt, nicht nur verstärkt, sondern zu perpetuieren scheint. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er Herkunfts- und religiöse Identität in den Vordergrund stellt, die Verweigerung der Anpassung an die Anforderungen der Gesellschaft, in die man eingewandert ist, legitimiert und eine Identität als Opfer konstruiert. Aber obwohl er inzwischen von Teilen der Fachöffentlichkeit und der Medien als mitverantwortlich für die katastrophalen Integrationsleistungen angesehen wird, wirkt er bei sehr vielen Integrationsmaßnahmen noch nach. Systematische Einordnung der interkulturellen Öffnung in der gegenwärtigen Integrationspolitik Wenn wir die besonderen Bedingungen für die Integration in Europa vor Augen haben, stellt sich die Frage, wie sich ein Konzept wie das der interkulturellen Öffnung systematisch einordnen lässt. Wie bereits erwähnt, hat sich in Deutschland seit einigen Jahren der Anspruch durchgesetzt, den Integrationsprozess politisch zu organisieren. Dabei gibt es zwei Adressatengruppen: einmal die MigrantInnen selbst, die mit Sprach- und Orientierungskursen an die Aufnahmegesellschaft herangeführt werden sollen (Lima Curvello 2010, 101 - 103). Die anderen Adressaten sind die Institutionen der Aufnahmegesellschaft, die dahingehend mobilisiert werden, sich interkulturell zu öffnen. Gerade den Sozialisations- und Integrationsinstanzen wird dabei eine besondere Verantwortung auferlegt. Aber was ist genau damit gemeint? Wenn man Integration als ein politisch-gesellschaftliches Ziel fasst, bedeutet Integration die Angleichung der Lebenslagen und die kulturelle und soziale Annäherung zwischen Einheimischen und MigrantInnen. Der Weg zu diesem Ziel vollzieht sich über einen komplexen Prozess, der auf einer analytischen Ebene in vier Dimensionen (Heckmann 2005) beschrieben werden kann. Die erste ist die strukturelle Dimension, die beinhaltet, dass EinwandererInnen einen Mitgliedsstatus durch den Erwerb von Rechten und den Zugang zu Positionen in den Kerninstitutionen der Aufnahmegesellschaft erwerben, also in Wirtschaft und Arbeitsmarkt, Bildungs- und Qualifikationssystemen, Wohnungsmarkt und politischen Gemeinschaften. Die Integration in diese Institutionen setzt jedoch eine zweite Dimension voraus, nämlich eine kulturelle Integration. Diese beinhaltet einen Lern- und Sozialisationsprozess seitens der MigrantInnen, um eine Mitglieds- und Partizipationsrolle überhaupt ausfüllen zu können. Integration bedeutet in diesem Sinne einen Prozess kognitiver, kultureller, verhaltens- und einstellungsmäßiger Veränderungen der MigrantInnen. Eine dritte Dimension ist die soziale Integration, damit ist die Integration in die Aufnahmegesellschaft auf der Ebene der Privatsphäre gemeint durch Freundschafts- und Partnerwahlstrukturen und die Mitgliedschaft in Gruppen und Vereinen. Die vierte Dimension, die identifikative Integration, beschreibt die Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft. Heckmann (2005) beschreibt identifikative Integration folgendermaßen: „Auf der subjektiven Ebene erweist sich die neue gesellschaftliche Mitgliedschaft in Zugehörigkeits- und Identifizierungsbereitschaften und -gefühlen mit ethnisch-nationalen, regionalen und/ oder lokalen Strukturen.“ Aber in Zeiten der Transkulturalität muss und kann diese Identifikation auch ohne Gefühlsbereitschaft auskommen. 122 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz Wir haben oben gesehen, dass Integration in Ländern wie Deutschland nicht naturwüchsig vonstatten geht, schon aus dem Grund nicht, weil eine Selbststeuerung der Integration über den Arbeitsmarkt nicht funktioniert. So ist die zentrale Instanz der strukturellen Integration für einen großen Teil von MigrantInnen nicht zugänglich. Andererseits haben sie, soweit sie über einen Aufenthaltstitel verfügen, variant wahrgenommene Beziehungen zu Institutionen der Bildungs- und Qualifikationssysteme, Gesundheits- und Sozialsysteme, zum Wohnungsmarkt; verfügen MigrantInnen über die deutsche Staatsbürgerschaft, auch zu den politischen Systemen. Die entscheidende Frage ist, ob der Zugang und die Wirkung dieser Institutionen auf EinwandererInnen so gestaltet werden kann, dass sie im Integrationsprozess in der Lage sind, die negativen Auswirkungen, die der Ausschluss aus dem Arbeitsprozess hervorbringt, zu kompensieren. Das bedeutet vor allem, dass die Leerstelle, die eine nicht vorhandene Integration in den Arbeitsmarkt bei MigrantInnen hinterlässt, durch frühkindliche Erziehung, Bildung, Ausbildung und sonstige Integrationsinstanzen, wie z. B. die zahlreichen Institutionen rund um die Familien- und Jugendhilfe, und durch eine Anpassung dieser Institutionen an die neuen Bedingungen aufgefangen und ausgeglichen werden kann. Genau hier setzt die Relevanz der interkulturellen Öffnung an. Hier liegen ihre Chancen, auch wenn die Hoffnungen, die in die kompensatorischen Leistungen der Institutionen gesetzt werden, zu hoch sind. Die Frage ist dabei, ob und wie diese Institutionen für diese Aufgabe kompetent gemacht werden können und ob die interkulturelle Öffnung, wie sie zurzeit landauf und landab durchgeführt wird, diesen Anforderungen entspricht. Interkulturelle Öffnung in der Praxis Wenn wir die Aspekte, die im Nationalen Integrationsplan mit interkultureller Öffnung beschrieben werden, zusammenfassen, erfahren wir erstens, dass der Anteil an MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund in öffentlichen Institutionen erhöht werden soll; zweitens, dass die Zugangsbarrieren zu den öffentlichen Dienstleistungen gesenkt werden sollen; und drittens, dass der traditionelle Non-profit-Bereich aufgefordert wird, stärker mit Migrantenorganisationen zusammenzuarbeiten. Viertens sollen die MitarbeiterInnen in den Institutionen über Qualifizierungsmaßnahmen interkulturelle Kompetenz erwerben. Mit diesen allgemeinen Forderungen als Vorstellung von einer guten Integrationspolitik verpflichtet die Politik in mehreren Bundesländern und in vielen Kommunen ihre Verwaltungen und nachgeordneten Institutionen, sich interkulturell zu öffnen. Unsere Erfahrungen 3 zeigen aber, dass auf der operativen Ebene die Unbestimmtheit der Aufgabenstellung zu beachtlicher Ratlosigkeit führt, wenn z. B. festzulegen ist, was genau durch die interkulturelle Öffnung mit welchen Maßnahmen erreicht werden soll. Die MitarbeiterInnen bemängeln, dass die Ziele, die im Zusammenhang mit der interkulturellen Öffnung angestrebt werden, wie z. B. der Abbau von Zugangsbarrieren für MigrantInnen, ziemlich schwammig sind. Es ist ihnen auch nicht nachvollziehbar, wie durch interkulturelle Kompetenztrainings (zur Fragwürdigkeit von solchen Trainings vgl. Breidenbach/ Nyírí 2001; Lima Curvello 2010) oder die Einstellung von MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund diese Ziele zu erreichen sind. Die Frage nach der Wirkung solcher Maßnahmen wird nicht nur in der Praxis, sondern auch in den Auseinander- 3 Seit vielen Jahren Konzeption, Durchführung und Beratung von bundesweiten Projekten zur interkulturellen Öffnung in unterschiedlichen öffentlichen Institutionen und freien Trägern. 123 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz setzungen über das Konzept der interkulturellen Öffnung ausgeklammert (Schröer 2007, 34 - 37). Auch wenn in der einschlägigen Literatur gefordert wird, dass die Maßnahmen zur interkulturellen Öffnung an der Schnittstelle zwischen Organisations-, Personal- und Qualitätsentwicklung eingebettet sein sollen, bleibt unklar, was interkulturelle Öffnung auf diesen unterschiedlichen Ebenen genau zu erreichen vermag. Es gibt kaum eine fachliche Auseinandersetzung darüber, mit welchen Zielen eine interkulturelle Öffnung als Organisationsentwicklung konkret durchzuführen ist. Die meisten Ansätze zur interkulturellen Öffnung sind mit Schlagworten aus dem Vokabular des Multikulturalismus normativ aufgeladen. Das Stadtjugendamt München folgt z. B. einem politischen Leitgedanken, der als interkulturelle Orientierung beschrieben wird: „Das Zusammenleben verschiedener Ethnien und Kulturen verlangt Toleranz und Empathie gegenüber ‚Fremden‘ … [Das Ziel ist es,] ethnische Benachteiligungen abzubauen, Ausgrenzungen zu verhindern, Integration zu ermöglichen, die Entwicklung sozialer und kultureller Kompetenz zu unterstützen und ein gewaltfreies Zusammenleben zu ermöglichen“ (Landeshauptstadt München 2004, 2009). „Dabei geht es auch um Anerkennung von Differenz, die Anerkennung der Verschiedenheit kultureller Gruppen. Anerkennung bedingt Beteiligung der verschiedenen kulturellen Gruppen am gesellschaftlichen Gestaltungsprozess. Interkulturelle Orientierung verlangt, das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit als ein Machtverhältnis zu thematisieren“ (Schröer 2002). Aber interkulturelle Öffnung ist nur dann ein sinnvolles Konzept und eine sinnvolle Praxis, wenn sie öffentliche Institutionen wie Schule, Soziale Dienste, Polizei usw. dabei unterstützt, ihre alten und bewährten Aufgaben unter neuen Bedingungen zu erfüllen. Aber das ist nicht mit Schlagworten zu erreichen. Interkulturelle Öffnung - die Geschichte eines Konzepts Wenn wir uns die Geschichte des Ansatzes der interkulturellen Öffnung ansehen, stellen wir fest, dass er anfangs eigentlich ein sehr konkretes Anliegen hatte. Die soziale Beratung für MigrantInnen (Ausländersozialberatung), die nach Religionszugehörigkeit bzw. nationaler Herkunft auf die Wohlfahrtsverbände aufgeteilt war und dort durchgeführt wurde, war bei fortwährender Einwanderung zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr in der Lage, qualitativ und quantitativ den Bedürfnissen von MigrantInnen nach Sozialberatung und sozialen Dienstleistungen zu entsprechen. Nach mehreren kritischen Einwänden zu dieser Angebotsstruktur waren für die Politikfähigkeit des Ansatzes die „Empfehlungen zur interkulturellen Öffnung sozialer Dienste“ entscheidend, die 1994 von der damaligen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer, Cornelia Schmalz-Jacobsen, zur interkulturellen Öffnung sozialer Dienste herausgegeben wurden. Darin fordert sie: „Die sozialen Dienste müssen sich stärker als bisher sowohl strukturell als auch konzeptionell und personell an der Anwesenheit nicht-deutscher Ratsuchender und Hilfsbedürftiger orientieren“ (Empfehlungen 1994, 15). Eine solche Entwicklung stelle aber Anforderungen auf unterschiedlichen Ebenen, „an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, an die Träger, die Einrichtungen der Aus- und Fortbildung und die Verantwortlichen auf den einzelnen Ebenen behördlicher und verbandlicher Verwaltung“ (Empfehlungen 1994, 16). „Auf allen Ebenen besteht Bedarf an Maßnahmen, die im Interesse der Klientinnen und Klienten … dringend eingeleitet und aufeinander abgestimmt werden müssen“ (Empfehlungen 1994, 17). Dazu bedarf es der „Überprüfung organisatorischer Strukturen und Rahmenbedingungen, … jede Einrichtung muss ihr eigenes Verfahren und Programm entwickeln“ (Empfehlungen 1994, 18). 124 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz Einige konzeptionelle Überlegungen sind in den „Empfehlungen“ schon weiter entwickelt als das, was danach zum Thema publiziert wurde. In den„Empfehlungen“ wird z. B. als Ziel der interkulturellen Öffnung die Fachlichkeit der MitarbeiterInnen in den sozialen Diensten explizit fokussiert: „Das Anforderungsprofil für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in sozialen Diensten … [ist] detailliert zu beschreiben und zu operationalisieren, d. h. in vermittelbare Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse zu gliedern“ (Empfehlungen 1994, 10). Die Erkenntnis, dass jedes Handlungsfeld eine spezifische Fachlichkeit erfordert, um sich den Bedingungen der Einwanderungsgesellschaft anzupassen, ist in den „Empfehlungen“ bereits angelegt. Ebenfalls die Idee, dass nicht nur die sozialen Dienste sich auf veränderte Gegebenheiten einstellen sollen. „Die interkulturelle Öffnung ist keine Aufgabe allein für die sozialen Dienste, sondern eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft“ (Empfehlungen 1994, 9). Allerdings sind wir in all den Jahren in der Beschreibung der in den „Empfehlungen“ geforderten Anforderungsprofile, die für die unterschiedlichen Handlungsfelder gebraucht werden, nicht viel weiter gekommen. Für die psychologische Beratung in interkulturellen Kontexten gibt es inzwischen einige Arbeiten, die sich mit dem Anforderungsprofil für BeraterInnen beschäftigen (vgl. Verband binationaler Familien und Partnerschaften (Hrsg.) 1998, 2009; Lima Curvello/ Pelkhofer-Stamm 2003). Die Schlagworte, mit denen die Anpassung der Aufgaben öffentlicher Institutionen an die Anforderungen der Einwanderungsgesellschaft definiert werden, haben den Blick für die konkreten Aufgaben verstellt, die sich in unterschiedlichen Institutionen stellen. Auch für gleiche Institutionen stellen sich regional unterschiedliche Anforderungen. Die interkulturelle Öffnung muss der Differenzierung und der Fragmentierung der sozialen Wirklichkeit Rechnung tragen. So sind z. B. die Bedingungen in einer Schule in einem Stadtteil mit hoher Zuwanderung in Berlin und in einer Stadt wie Stuttgart vollkommen andere. Berlin-Neukölln zeichnet sich durch einen hohen Anteil an TransferempfängerInnen staatlicher Sozialleistungen aus, durch türkische und arabische Einwanderermilieus und durch eine Vielzahl von Moscheevereinen, muslimischen Vereinen und Initiativen. Die Lebenswelt, die Motivationen, die Orientierungen und die Beherrschung der deutschen Sprache sind bei SchülerInnen aus einem solchen Kontext vollkommen andere als an Stuttgarter Hauptschulen, in denen ebenfalls wie in Berlin-Neuköllen 98 % der SchülerInnen Migrationshintergrund haben. Hier kommt die Mehrheit der SchülerInnen aus Familien, die im Arbeitsprozess integriert sind, und durch die große Heterogenität in der Herkunft - sie kommen unter anderem aus Italien, Portugal, Spanien, der Türkei, Russland oder Griechenland - ist die deutsche Sprache automatisch der gemeinsame Bezug. Auch in einer solchen Umgebung spielt die Einwanderungsbiografie für die Identität der SchülerInnen eine prägende Rolle, sie verstehen sich als Italiener, Türken, Spanier usw., auch wenn sie in der dritten Generation in Deutschland geboren sind. Allerdings dringt ihr privater lebensweltlicher Bezug nicht so in den Schulalltag ein, wie das an Schulen in Berlin-Neukölln der Fall ist. Die LehrerInnen an Stuttgarter Haupt- und Realschulen stehen daher nicht vor den Herausforderungen wie LehrerInnen an Neuköllner Sekundarschulen. Wenn man in solchen kontextuellen Unterschieden mit Begriffen wie interkulturelle Kompetenz hantiert, um die Anforderungsprofile zu beschreiben, die die LehrerInnen zur Bewältigung ihrer Aufgaben brauchen, wird die Komplexität der Aufgabe verkannt, der sich interkulturelle Öffnung stellen muss. Voraussetzungen für eine effektive Steuerung Nicht nur bezogen auf die Zuwanderung stehen öffentliche Institutionen unter Zugzwang. Sie müssen sich generell auf gesellschaftliche 125 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz Veränderungen einstellen. Es müssen neue Lösungen für neue Herausforderungen gefunden werden. Aber die institutionalisierten Problemlösungsmuster, nach denen die öffentliche Verwaltung bisher zu handeln gewohnt war, sind mit zunehmender Komplexität der Gesellschaft in die Krise geraten. Auch die Wirtschaft steht vor den gleichen Problemen, sie muss für unüberschaubare Märkte neue Produkte entwickeln, die einen Wettbewerbsvorteil auf dem Markt sichern. Auch hier stellt sich die Aufgabe, erfolgreiche Problemlösungen zu entwickeln. Um diese Anpassung von Organisationen an neue Aufgaben zu gestalten, sind öffentliche Institutionen ebenso wie die Wirtschaft auf spezifisches fachliches Wissen angewiesen. Das heißt, wenn wir die interkulturelle Öffnung als Handlungsfeld spezifischer Anpassung öffentlicher und privater Institutionen an die Anforderungen der Einwanderungsgesellschaft verstehen, sind diese Institutionen, um das zu erreichen, auf besonderes Fachwissen angewiesen. Dieses besteht aus Methoden und Instrumenten, die man unter dem Oberbegriff Innovationsmanagement zusammenfassen kann. Hier fließt Wissen aus den Erfahrungen mit Organisations- und Personalentwicklung (Senge 2003), mit Kompetenzentwicklung (Klimecki 2005; Staudt/ Kriegesmann 2002, 15 - 70) und Wissensmanagement (Willke 2001) zusammen. Vor allem aber muss dieses Wissen so kombiniert sein, dass daraus das Design für eine„intelligente“ Kontextsteuerung (Klimecki 2005; Willke 1997, 128 - 166) entworfen wird. Unsere Erfahrungen (Lima Curvello/ Pelkhofer- Stamm 2003) zeigen allerdings, dass für die Aufgabe der interkulturellen Öffnung noch weitere Wissenselemente dazukommen müssen: über das Aufgabenfeld selbst, über die Struktur der Organisation, die geöffnet werden soll, und über ihr soziales und interkulturelles Umfeld; aber auch Wissen über die Dynamik von Integrationsprozessen von EinwandererInnen in europäischen Wohlfahrtsstaaten, über integrationspolitische Diskurse und darüber, welche Rolle sie für die betreffende Organisation spielen können, über die Rolle von Migrantencommunities im Integrationsprozess, über islamische Netzwerke in Deutschland insgesamt und auf lokaler Ebene. Dass Methodenwissen allein nicht ausreicht, um eine Organisation in ihrem Innovationsprozess zu begleiten, ist der Praxis schon lange bekannt. Neuerdings findet dieses Thema auch Eingang in die Fachdiskussion (Königswieser 2006; Coyne u. a. 2008, 28 - 39). Solche Kenntnisse wie oben skizziert müssen Eingang in die zu öffnende Organisation finden, und zwar handlungsfeldbezogen, denn das ist die Grundlage dafür, dass sie in ihrem jeweiligen Aufgabenfeld kompetent und wirkungsorientiert Integrationsprogramme und Konzepte einsetzen kann. Wenn sich zum Beispiel eine Schule auf dem Weg zur interkulturellen Öffnung auf ein Elternlotsenmodell einlässt und dabei mit einer Migrantenorganisation eine Kooperation eingeht, sollte eine interkulturell kompetente Schule beurteilen können, ob sie damit nicht der Gefahr einer Ethnisierung Vorschub leistet, ob die Migrantenorganisation der Integration in die Mehrheitsgesellschaft oberste Priorität einräumt oder der Reproduktion von ethnischen Strukturen, bei der Lotsen aus der gleichen Community wie die der SchülerInnen zum Dauerarrangement werden. Die Schule muss wissen, wie sie eine Kooperation gestalten muss, um solche Eventualitäten zu vermeiden. Wenn sich eine Organisation auf ein Innovationsmanagement einlässt, das sie dazu befähigt, ihre Aufgaben im Kontext der Einwanderungsgesellschaft zu erfüllen, müsste sie als ersten Schritt auf ihr Arbeitsfeld bezogen u. a. folgende Fragen beantworten: ➤ Inwieweit und auf welchen Ebenen unserer Organisation sind welche Aspekte der Einwanderungsgesellschaft für uns in unserem spezifischen Aufgabenfeld relevant? ➤ Was sind die Probleme? 126 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz ➤ Was „können“ wir? Und: wie können wir überprüfen, dass diese Kompetenzen vor dem Hintergrund der Problemstellung nach wie vor problemlösungsfähig sind? ➤ Welche Zieldefinitionen und Inhalte ergeben sich daraus für das professionelle Handeln in unserer Organisation? ➤ Welche Kompetenzen müssen erworben werden, um diese Zieldefinitionen zu erfüllen, und auf welche Weise hat das zu geschehen? Die Praxis zeigt, schon bei der Bearbeitung der ersten Fragen kann eine Institution, die sich zum Ziel gesetzt hat, sich interkulturell zu öffnen, entdecken, dass ihr Problem nur zweitrangig mit dem Migrationshintergrund ihrer Zielgruppe zu tun hat. Dazu konnten wir in einer Sekundarschule in einem sozialen Brennpunkt in Berlin-Neukölln vielsagende Erfahrungen machen. Der Schule gelang es im neuen Schuljahr auch nach acht Wochen nicht zu erreichen, dass die SchülerInnen vollzählig zu dem Unterricht kamen. Die LehrerInnen und die Schulleitung sahen die Gründe dafür im sozialen und kulturellen Hintergrund der SchülerInnen und ihrer Familien. Nach unterschiedlichen erfolglosen Bemühungen, den Zustand in den Griff zu bekommen, fanden wir eher zufällig heraus, dass es der Schule aus verschiedenen Gründen in den acht Wochen nach Schulanfang noch nicht gelungen war, einen verbindlichen Stundenplan zu erstellen. Die SchülerInnen waren gezwungen, sich jeden Tag neu zu informieren, welches Fach in welchem Raum an dem Tag stattfinden würde. Allerdings würde es vielleicht SchülerInnen aus anderen sozialen Verhältnissen leichter fallen, sich die Informationen zu holen, oder die Eltern hätten sich über die Situation längst beklagt. Der sich täglich ändernde Stundenplan wurde übrigens in kleiner Schrift in einen Glaskasten gehängt, der ziemlich weit oben angebracht war, um Vandalismus zu verhindern. Dieses Beispiel spricht für sich. Es zeigt, welche Auswirkungen es hat, wenn Probleme, die sich in einem Einwanderungskontext ergeben, reflexartig als interkulturelles Problem definiert werden. Wenn in interkulturellen Öffnungsprozessen zu schnell auf Kultur rekurriert wird, um die Themen zu definieren, mit denen sich eine Organisation beschäftigen muss, kann der Blick auf die wirklichen Probleme erheblich getrübt werden. Fazit Wenn wir aber von den konkreten Aufgaben der Institutionen ausgehen und fragen, wie sie diese unter den Bedingungen der Einwanderungsgesellschaft erfüllen können, bekommt interkulturelle Öffnung eine andere Konnotation. Konkret bedeutet dann interkulturelle Öffnung eben nicht, dass die Verwaltung, die Schule, das Krankenhaus und die sozialen Dienste um eine neue Aufgabe, die Integration von ZuwandererInnen, erweitert werden müssen, sondern lediglich in die Lage versetzt werden sollen, ihre alten und bewährten Aufgaben unter neuen Bedingungen nach wie vor erfüllen zu können. Mehrere Gründe sprechen allerdings dafür, dass interkulturelle Öffnungsprozesse eher selten 4 die Anpassung an neue Bedingungen erfüllen, sondern dass eher eine Anpassung der Institution an einen kulturalistischen und multikulturellen Diskurs stattfindet. Das hat mehrere Gründe: Erstens sind die vielschichtigen Kompetenzen, die man braucht, um einen interkulturellen Öffnungsprozess in dem eben beschriebenen Sinne durchzuführen, eher selten. Ihr Einsatz ist auch teuer, sodass öffentliche Institutionen in den seltensten Fällen das Geld haben, sich diese Expertise überhaupt einzukaufen. 4 Gute Beispiele der interkulturellen Öffnung mit nachhaltigem Effekt sind: Berliner Ausländerbehörde und Polizei in Berlin, Essen und Stuttgart (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung bpb/ Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes ProPK (Hrsg.) 2005). 127 uj 3 | 2012 Interkulturelle Kompetenz Zweitens sind wenige Organisationen bereit, sich auf Innovationen einzulassen. Sie beschäftigen sich vordergründig mit ihrer eigenen Reproduktion. Wenn öffentliche Institutionen von der Politik verpflichtet werden, sich interkulturell zu öffnen, und bei ihnen selbst nicht die Einsicht vorhanden ist, dass sie sich auf neue Bedingungen einstellen müssen, werden sie keinen Wert auf die Sinnhaftigkeit eines Öffnungsprozesses legen. Es kommt ihnen dann nur darauf an, gegenüber der Politik belegen zu können, dass Maßnahmen unter dem Label interkultureller Öffnung durchgeführt wurden. Allerdings, je mehr eine öffentliche Institution durch die Öffentlichkeit bezüglich der Effektivität ihrer Arbeit beobachtet wird, umso stärker wächst der Druck, die Aufgaben, für die eine Institution steht, auch effektiv zu gestalten. Diese Erfahrung konnten wir bei mehreren interkulturellen Öffnungsprozessen bei der Polizei in Berlin, Essen und Stuttgart machen. Man kann sogar die These wagen, dass die kontinuierliche Anpassung an die veränderte soziale Umwelt sich teilweise in den Routinen dieser Institutionen verankert hat. Wir machen auch die Erfahrung, dass sich bei den Schulen, die seit PISA stärker unter öffentlicher Beobachtung stehen, die Bereitschaft zur Anpassung ihrer Aufgaben an die veränderten Bedingungen in zunehmendem Maße entwickelt hat. Drittens kommt aus der fachlichen Auseinandersetzung um interkulturelle Öffnung kein Impuls in die Praxis, nach wie vor werden die verschiedensten Probleme in den unterschiedlichen Handlungsfeldern kulturell gedeutet und mit multikulturalistischen Diskursen bearbeitet. Von dem Anspruch, mit dem Konzept der interkulturellen Öffnung die Integration auf der Ebene der gesellschaftlichen Institutionen zu steuern, ist in der gegenwärtigen Praxis nicht viel zu erwarten. Tatiana Lima Curvello Verband binationaler Familien und Partnerschaften - iaf e.V., Berlin Oranienstraße 34 10999 Berlin curvello@tik-iaf-berlin.de Literatur 8. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland. www.bundesregierung.de/ Content/ DE/ __Anla gen/ 2010/ 2010-07-07-langfassung-lageberichtib,property=publicationFile.pdf Baecker, D., 2003: Globalisierung und kulturelle Kompetenz. In: Baecker, D.: Wozu Kultur? Berlin, S. 11 - 32 Berger, P. L./ Berger, B./ Kellner, H., 1975: Das Unbehagen in der Moderne. Frankfurt am Main/ New York, S. 123 - 138 Bommes, M., 2007: Integration: gesellschaftliches Risiko und politisches Symbol. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 22, S. 3 - 5 Breidenbach, J./ Nyírí, P., 2001: Interkulturelle Kompetenz als Business. In: Organisations-Entwicklung, H. 4, S. 70 - 75 Bundeszentrale für politische Bildung bpb/ Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes ProPK (Hrsg.), 2005: Polizei und Moscheevereine. Ein Leitfaden zur Förderung der Zusammenarbeit. Stuttgart. www.bpb.de/ files/ 0MQCWZ.pdf Coyne, K. 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