unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Devianzpädagogik im weiblichen Jugendstrafvollzug
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Irma Jansen
Über die Lage der zu einer Jugendstrafe verurteilten Frauen im Strafvollzug gibt es bislang ebenso wenig empirisch gesichertes Wissen wie über die nachhaltige Wirkung von pädagogischen oder sozial-therapeutischen Angeboten im weiblichen Jugendvollzug
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254 unsere jugend, 64. Jg., S. 254 - 262 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art24d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Devianzpädagogik im weiblichen Jugendstrafvollzug Über die Lage der zu einer Jugendstrafe verurteilten Frauen im Strafvollzug gibt es bislang ebenso wenig empirisch gesichertes Wissen wie über die nachhaltige Wirkung von pädagogischen oder sozial-therapeutischen Angeboten im weiblichen Jugendvollzug. von Prof. Dr. Irma Jansen Jg. 1956; Professorin für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Münster, Schwerpunkte: Jugendstrafvollzug, Gewalt von Frauen, Ressourcenorientierte Biografiearbeit Vorbemerkungen zum weiblichen Jugendstrafvollzug in Deutschland Eine gesellschaftspolitische Nachrangigkeit des weiblichen Jugendvollzuges drückt sich bereits in der geringen Anzahl von wissenschaftlichen Studien zu diesem Themenbereich aus. Über die Lebensspanne angelegte Untersuchungen richten sich fast ausschließlich auf männliche Jungtäter, selten auf erwachsene Frauen und haben die ca. 280 jungen Frauen zwischen 14 und ca. 25 Jahren, die sich im Jahresdurchschnitt zur Verbüßung einer Jugendstrafe in Haft befinden, bisher kaum beachtet. Insofern steht ein empirisch gesichertes Wissen über biografische Entwicklungsverläufe von jungen weiblichen Inhaftierten - vor und nach der Jugendhaft - kaum zur Verfügung. Ebenso wenig existieren evaluative Studien zur nachhaltigen Wirkung pädagogischer oder therapeutischer Interventionen, die im direkten Bezug zum weiblichen Jugendstrafvollzug durchgeführt wurden (wie z. B. Soziales Training, Betreuungs-, Beratungs-, Begleitungsangebote, Aus- und Fortbildungsangebote, therapeutisch/ sozialtherapeutische Maßnahmen). Die Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts (Sonnen 2006), den Jugendstrafvollzug gesetzlich zu regeln, war eine Chance, die Besonderheiten der Lebensphase Jugend in den gesetzlichen Vorgaben zur Ausrichtung und Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs stärker zu berücksichtigen. Dass sich diese Aufforderung an die einzelnen Bundesländer richtete, hat leider nicht dazu beigetragen, ein bundeseinheitliches Jugendstrafvollzugsgesetz zu verabschieden, in dem die Notwendigkeit pädagogisch-sozialtherapeutischer Ausgestaltung in einer geschlechtergerechten Perspektive verankert wird. Bis heute ist keine der zu einer Jugendstrafe verurteilten jungen Frauen in einer eigenständigen Jugendstrafanstalt untergebracht, da diese Vollzugsform für Mädchen in Deutschland nicht existiert. Die Unterbringung der weiblichen Jugendlichen erfolgt teilweise zusammen mit erwachsenen Frauen in geschlossenen Abteilungen des Frauenvollzuges. Um 255 uj 6 | 2012 Jugendliche unter Haftbedingungen das zu ermöglichen, mussten diese Mädchen durch richterlichen Beschluss aus dem Jugendvollzug herausgenommen werden, damit die im Gesetz verankerte Trennung von Jugendlichen und Erwachsenen unterlaufen werden konnte. Eine solche „Notlösung“ mag in bestimmten Fällen sinnvoll sein (z. B. bei Verlegung in Vollzugsformen, die für weibliche Jugendliche nicht zur Verfügung stehen, wie der offene Vollzug oder die Sozialtherapie), sie verschleiert aber eine strukturelle Schlechterstellung der inhaftierten weiblichen Jugendlichen. Einige Bundesländer verfügen immerhin über eigene Jugendabteilungen, die von ihrer räumlichen und personellen Ausstattung mit fest zugeordneten Teams einen konzeptuell-spezifischen Rahmen für die weiblichen Jugendlichen entwickeln könnten. Grundsätzlich aber bringt die Angliederung des weiblichen Jugendvollzuges an den Rahmen des erwachsenen Frauenvollzuges für die verurteilten Mädchen erhebliche Nachteile im Vergleich zu den männlichen Jugendlichen mit sich, da ihnen dort (aufgrund ihrer geringen Anzahl) die im Gesetz vorgesehenen besonderen Rahmenbedingungen für den Vollzug einer Jugendstrafe vorenthalten werden. Dabei ist es besonders problematisch, dass ein großer Teil der jugendlichen Frauen (häufig zustande gekommen durch eine Summation von Bewährungsstrafen) bereits als Erstinhaftierte längere Haftstrafen verbüßt hat und damit in einer sensiblen Entwicklungsphase nachhaltig durch ihre Haftzeit sozialisiert wird. In Ausrichtungen der Bundesländer zur Neugestaltung des Jugendstrafvollzugs wird die Besonderheit des weiblichen Jugendvollzugs zwar erwähnt, es wird jedoch nicht konkret benannt, durch welche gezielten Maßnahmen die Situation und Lebenslage von jugendlichen Frauen in Zukunft besonders berücksichtigt werden soll. Eckpunkte für eine „Devianzpädagogik“ im weiblichen Jugendstrafvollzug Berücksichtigung der Kategorien Geschlecht und Gender Der Gesetzgeber stellt die Fachdienste im weiblichen Jugendstrafvollzug vor die Aufgabe, die Jugendlichen so zu fördern und zu fordern, dass ihnen Perspektiven für ein Leben in Freiheit und sozialer Verantwortung eröffnet werden. Diese Aufgabe erfordert es auch, dass der Jugendstrafvollzug als ein gesetzlich verankerter, besonders zu gestaltender Raum anzuerkennen und auszustatten ist. Dabei bietet die Annäherung an die Kinder- und Jugendhilfe - mit ihren professionellen Standards und Konzepten zur Stärkung von weiblichen Jugendlichen in belasteten Lebenslagen - einen orientierenden Rahmen. Die offensive Vernetzung von Sozialdiensten der Justiz mit den Institutionen der Jugendhilfe ist schon im Blick auf die Entlassung der jungen Frauen und zur Sicherstellung eines guten Entlassungsmanagements dringend erforderlich. Insofern wäre es sinnvoll, dass pädagogische Fachdienste im Jugendstrafvollzug sich abgleichen mit den Zielsetzungen, Erkenntnissen und Methoden einer Sozialen Arbeit mit weiblichen Jugendlichen in der Jugendhilfe. Ebenso wie bei den weiblichen Jugendlichen in den Einrichtungen der Jugendhilfe sind die Biografien der jugendlichen Inhaftierten durchgängig gekennzeichnet von chronischen Formen der Verwahrlosung, der Vernachlässigung und durch Gewaltverhältnisse im Herkunftsmilieu (Jansen/ Schreiber/ Peters 2006). Im Vollzugsalltag verdichten sich diese Erfahrungen z. B. in Unruhezuständen, Drogenkonsum und spezifischen Formen der Widerständigkeit, der Selbstbeschädigung und/ oder in psychischen und körperlichen Erkrankungen (Jansen 2006 und 2007). Dabei zeigen die jungen Frauen gleichzeitig auch intensive Bedürfnisse und Wünsche nach Zuwendung, Anerkennung, 256 uj 6 | 2012 Jugendliche unter Haftbedingungen Trost und Fürsorge. Diese besondere Intensität im Ausdruck und im Mitteilungsbedürfnis ihres Leidens ist spezifisch für Mädchen/ Frauen und verdeutlicht die Notwendigkeit, Verhaltensformen von männlichen und weiblichen Jugendlichen unter Haftbedingungen genauer auszudifferenzieren. Für die Planung pädagogischer Prozesse im Jugendstrafvollzug heißt das zu wissen, wie die geschlechtsspezifischen Ausdrucksweisen der weiblichen Jugendlichen lebensweltlich verankert sind. Zwar gilt das für beide Geschlechter, wird aber insbesondere im Hinblick auf weibliche Jugenddelinquenz bisher kaum umgesetzt. Wie sich im Einzelfall geschlechtsspezifische Zuschreibungen in prekären Lebenslagen auswirken und welche weiblichen Identitäts- und Verhaltensmuster sich daraus entwickelt haben, muss im Rahmen der weiblichen Jugendhaft rekonstruiert werden. Vielfältige Untersuchungen zur Identitätsentwicklung von Jungen und Mädchen weisen darauf hin, dass eine strafrechtlich relevante Abweichung auch als Form biografischer Lebensbewältigung gedeutet werden kann. Dieses Bewältigungshandeln entsteht vor dem Hintergrund einer chronisch überfordernden Belastungssituation und zeigt sich in spezifisch männlichen und weiblichen Ausprägungstypen (Schepker 2009). Es sind insbesondere diese Verhaltensmuster, die sich auch in der Stresssituation Haft zeigen und sich eskalierend verstärken können, wenn sie unverstanden bleiben oder ausschließlich disziplinierend beantwortet werden. Zum Aufbau von Verhaltenssicherheit brauchen MitarbeiterInnen der Fach- und Betreuungsdienste im weiblichen Jugendstrafvollzug spezifische Fortbildungen zur Einschätzung von weiblichen Entwicklungsrisiken in prekären Lebenslagen und zum Umgang mit Krisensituationen von jungen Frauen. Eine frühzeitige Vernetzung und ein fachlicher Austausch mit Fachkräften der Jugendhilfe könnte durch Fortbildungen in Kooperation von Justiz und Jugendhilfe sichergestellt werden. Sozialtherapeutische Ausrichtung im Wohngruppenvollzug - statt einzeltherapeutischer Intervention in der Sozialtherapie mit erwachsenen Frauen In den fachlichen Vorschlägen der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. (DVJJ) zur Neufassung des Jugendstrafvollzugsgesetzes wurde von Wissenschaft und Praxis angeregt, den weiblichen Jugendvollzug grundsätzlich sozialtherapeutisch auszurichten (DVJJ 2006). Damit wird auf die Tatsache Bezug genommen, dass eine Mehrzahl der insgesamt kleinen Zahl inhaftierter Mädchen von chronischen Schädigungserfahrungen und Traumatisierungen betroffen ist. Sie bringen dabei bio-psycho-soziale Problemlagen mit in den Jugendvollzug, die einen sozialtherapeutischen Rahmen sinnvoll machen. Eine solche„soziotherapeutische“ Orientierung berücksichtigt: ➤ dass es im Falle dieser jungen Frauen einerseits um mehr geht als um sozialarbeiterische Einzelfallintervention oder allgemeine Lebensberatung und andererseits, ➤ dass die jungen Frauen von den klassischen Settings einer Psychotherapie sowohl von ihrer Lebenssituation als auch von ihrer Motivation her kaum erreicht werden können (Petzold/ Feuchtner/ König 2010). Diese jungen Frauen brauchen im Alltag begleitende, unterstützende therapeutische Verfahren, die sich im Rahmen eines soziothera- 257 uj 6 | 2012 Jugendliche unter Haftbedingungen peutisch organisierten Lernalltags mit Jugendlichen bewährt haben. Dafür eigenen sich z. B. Übungszentrierte Lernverfahren der kognitiven Verhaltenstherapie, systemisch-integrative Therapie und Kreativtherapeutische Verfahren, die ihnen ein Lernen in der Gemeinschaft mit anderen Jugendlichen ermöglichen. Dabei ist der sozialtherapeutische Raum gekennzeichnet durch eine enge interdisziplinäre Verzahnung von Alltag und Therapie, in der die klassische Dualität von abgegrenzter Einzeltherapiesitzung und Sozialem Lernen im Alltag aufgehoben ist. In diesem Verständnis arbeiten soziotherapeutisch geschulte Fachkräfte der Sozialen Arbeit, MitarbeiterInnen des allgemeinen Vollzugsdienstes und PsychologInnen im Team eng zusammen und organisieren gemeinsam Soziales Lernen im Alltag. Sozialtherapeutische Justizeinrichtungen für Frauen richten sich aber in der Regel an Erwachsenen - als ihrer Hauptbezugsgruppe - aus. Die meisten inhaftierten Mädchen kommen schon aufgrund ihrer Haftdauer für eine Aufnahme in die erwachsene Sozialtherapie aus doppeltem Grunde nicht infrage: Zum einen beansprucht die Einschätzung der Notwendigkeit (Eingangsdiagnostik) einer Verlegung in die Sozialtherapie viel Zeit, zum anderen müssen Jugendliche mit Delikten (z. B. schweren Gewalttaten), bei denen eine Sozialtherapie schon bei der Verurteilung angeraten wird, auf therapeutische Maßnahmen besonders vorbereitet werden. Sie kommen mit einer langen Haftstrafe in den Strafvollzug, mit jugendspezifischen Themen und Problemlagen, zu denen insbesondere auch ihr Drogenkonsum gehört. Sie werden dann (bestenfalls) in einer eigenständigen Jugendabteilung aufgenommen und müssen hier eine erste, belastende Integrationsphase durchlaufen, erste vorsichtige Beziehungen zu BezugsbetreuerInnen knüpfen und sich auf den sozialen Rahmen des Jugendstrafvollzugs einstellen. Die Verlegung in eine sozialtherapeutische Abteilung würde für sie bedeuten, den mühsam angeeigneten Rahmen verlassen zu müssen, danach überwiegend mit erwachsenen Frauen untergebracht zu sein und sich gleichzeitig einer sozialtherapeutischen Herausforderung zu stellen, ohne die dann für sie zuständigen Menschen zu kennen. Häufig wird für die Verlegung in die klassische Sozialtherapie auch erwartet, dass die Inhaftierten „drogenfrei“ sind. Aus den genannten Gründen bietet es sich zwingend an, die Abteilungen für weibliche Inhaftierte des Jugendstrafvollzuges grundsätzlich sozialtherapeutisch auszurichten, mit einem entsprechenden Personalschlüssel für Sozialtherapeutische Abteilungen auszustatten und zu organisieren. Angesichts der geringen Anzahl von weiblichen inhaftierten Jugendlichen und im Hinblick auf bereits bestehende Abteilungen für den weiblichen Jugendvollzug in Deutschland ließe sich dort eine solche Umgestaltung der Jugendhaft relativ problemlos umsetzen und wissenschaftlich begleitet erproben. Damit würde die verantwortliche Politik endlich auch der gesetzlichen Aufforderung, weibliche Jugendliche in Haft besonders zu berücksichtigen, gerecht werden. Aufgrund meiner langjährigen Kooperationserfahrungen mit Abteilungen des weiblichen Jugendvollzugs möchte ich an dieser Stelle deutlich hervorheben, dass hier hoch motivierte und engagierte MitarbeiterInnen seit vielen Jahren unter schwierigen Rahmenbedingungen arbeiten und sie ihre konzeptuellen Ideen unter den gegebenen personellen und räumlichen Bedingungen kaum umsetzen können. Unabhängig von den genannten Vorschlägen zeigen wissenschaftliche Untersuchungen zur resozialisierenden Arbeit mit Jugendlichen, dass deren Lernbereitschaft in einem hohen Maße von der Beziehungsqualität zu den fachlichen Bezugspersonen abhängig ist (Jansen/ Schreiber/ Peters 2006). Daher erfordert die pädagogische Arbeit mit devianten Jugendlichen eine reflektierte Beziehungsarbeit, die die besondere Sozialisationsthematik der devianten jungen Frauen berücksichtigt. 258 uj 6 | 2012 Jugendliche unter Haftbedingungen Beziehungsarbeit als Voraussetzung für korrigierende Erfahrungen Es ist eine pädagogische Illusion, die Grunddefizite der inhaftierten Mädchen (z. B. fehlendes Grundvertrauen in andere Menschen, mangelndes Selbstwertgefühl, Entfremdungs- und Entwertungsgefühle) im Strafvollzug auffüllen zu können. Vielmehr erscheint es wichtig anzuerkennen, dass das Grundvertrauen der jungen Frauen nachhaltig beeinträchtigt ist und dass ihre innere und äußere Realität ihnen täglich bestätigt, das sie kein Vertrauen in eine Welt haben können, in der sie kontrolliert, angezeigt und von relevanten Bezugspersonen enttäuscht wurden und werden. Dennoch brauchen die Mädchen auch im Zwangsrahmen des Jugendstrafvollzugs Kontakt zu Menschen, die dazu in der Lage und auch Willens sind, sie zu stabilisieren und zu fördern. Es ist also die Aufgabe der ihnen gegenübertretenden Fachkräfte, ihnen mit einer reflektierten Kontakt- und Beziehungsfähigkeit zu begegnen, die einen Raum für korrigierende Beziehungserfahrungen schafft und damit Soziales Lernen auch im Alltag des Strafvollzugs ermöglicht. Forschungsergebnisse zum Einfluss pädagogischer Interventionen auf Jugendliche mit devianten Verhaltensmustern (Petzold/ Feuchtner/ König 2009) zeigen, dass deren Motivation zu einer Verhaltensänderung von den PädagogInnen am wirkungsvollsten erzielt werden kann durch: ➤ einfühlendes Verstehen und Empathie, ➤ Hilfen bei der praktischen Lebensbewältigung und ➤ die Vermittlung kommunikativer Kompetenz und Beziehungsfähigkeit. Deshalb geht es in der ersten Phase der Jugendhaft darum, Kontakt herzustellen und die jungen Frauen durch die Schichten ihrer Widerstände hindurch zu erreichen. Dies ist für MitarbeiterInnen nicht immer einfach, denn die Mädchen versuchen, der Beziehung auszuweichen, flüchten, sind vielleicht aggressiv, überangepasst, chaotisierend, kränkend, desinteressiert und wechseln zwischen diesen Zuständen in irritierender Art und Weise. Die Erfahrungen mit dieser Zielgruppe im Jugendstrafvollzug verdeutlichen aber auch, dass ein kleiner Teil der jungen Frauen mit so gravierenden psycho-sozialen Auffälligkeiten in den Strafvollzug kommt, dass sie auch von den gegenwärtigen Angeboten der Sozialtherapie nicht profitieren können. Von der Psychiatrie oft an den Strafvollzug zurückverwiesen, gibt es für diese jungen Frauen kaum ein passendes Hilfsangebot, so dass sie möglicherweise über längere Phasen im Strafvollzug isoliert und unter Verschluss gehalten werden müssen. Es sind Verhaltensweisen, die sich für die Mädchen als Überlebensstrategien bewährt haben und die unter den Stressbedingungen des Strafvollzugs aktiviert werden, z. B.: ➤ als Antwort auf die Zwangssituation der Inhaftierung, ➤ als Reaktion eines rebellierenden Körpers im kalten Entzug, ➤ als lebensgeschichtlich erworbenes Abwehrmuster, um Kränkungen, Destabilisierungen ihres Selbstwertgefühls und Ohnmachtsgefühle von sich fernzuhalten. Die MitarbeiterInnen der Fachdienste sollten insbesondere in dieser ersten Kontaktphase sehr genau darauf achten, dass sie Beziehungsangebote nicht mit disziplinierenden Strategien verknüpfen. Dies bedeutet nicht, dass eine Konfrontation von Problemverhalten grundsätzlich vermieden werden sollte, sondern dass Konfrontationen am besten vor dem Hintergrund einer gesicherten Beziehung angenommen werden können. Dazu muss die Inhaftierte jedoch erfahren haben, dass der/ die MitarbeiterIn sein/ ihr Beziehungsangebot 259 uj 6 | 2012 Jugendliche unter Haftbedingungen auch dann aufrechterhält, wenn sie ein im Strafvollzug unangepasstes Verhalten zeigt und diszipliniert wird. Konfrontation ohne Beziehung führt bei Jugendlichen eher zu einer Aversionsreaktion, zum Widerstands- und Ablehnungsverhalten. Dies kann insbesondere in der Aufnahmephase zur Krise und zur Eskalation führen. In der Aufnahmephase ist von Seiten des Personals ein Zugang nötig, der die Verhaltensmuster der Mädchen als Teil eines Gesamtfeldes interpretiert - als Beginn eines Prozesses und nicht als isoliertes, individuelles Fehlverhalten. Verstehende Einstiegsdiagnostik zur Einschätzung von Kontakt- und Beziehungsfähigkeit Ein dafür erforderliches Handlungswissen kann sich in dieser Phase aus einer Einstiegsdiagnostik entwickeln, die auf die Besonderheiten der Jugendhaft abgestimmt ist. Eine Diagnostik, die die junge Inhaftierte systematisch in den Blick nimmt, um eine erste Einschätzung ihrer Kontakt- und Beziehungsfähigkeit, ihrer spezifischen Verhaltensmuster, der Steuerungsfähigkeit, aber auch ihrer Stärken, Ressourcen und ihres Krisenmanagements zu erhalten. Sinnvoll wäre z. B. eine auf Alltagssituationen bezogene Prozessdiagnostik, die dazu in der Lage ist, die Lebenssituation der Mädchen mit unterschiedlichen Methoden und Verfahren möglichst umfassend einzuschätzen. Dabei ist der diagnostische Prozess nicht einmalig vorzunehmen, sondern bewegt sich spiralförmig, immer analog des pädagogischen Prozesses im Alltag des Jugendstrafvollzugs. Eine solche verstehende Diagnostik ist bereits Teil des Resozialisierungsauftrages, da die Informationen zu den Lebensbereichen der Jugendlichen in Kooperations- und Verständigungsprozessen gesammelt werdenund damit auch zur Grundlage für eine Beteiligung fördernde Vollzugsplanung mit den Jugendlichen werden können. Vollzugsplanung als Instrument partizipativer Förderung Der Strafvollzug hat durch seine im Gesetz verankerte Vollzugsplanung bereits ein Instrument, das (analog zum Hilfeplan im KJHG) zur Beteiligung fördernden Prozessgestaltung mit den jugendlichen Inhaftierten genutzt werden kann. Damit aber die Haftzeit in diesen Sinne auch erzieherisch wirksam wird, muss sie von Beginn der Haft an auch fördernd gestaltet werden. Die jungen Frauen sollten die Möglichkeit erhalten, rechtzeitig in eine für ihre Entwicklung förderliche Vollzugsart zu gelangen (z. B. offener Vollzug, Schul-, Ausbildungsabteilung). Dieser Anspruch einer zielgerichteten Förderung setzt aber die Berücksichtigung verschiedener Zeitfenster voraus, die mit der Länge der Strafe und einer rechtzeitigen Freigabe für Vollzugslockerungen einhergehen, um z. B. die Eignung für bestimmte Maßnahmen vorzubereiten, zu erproben und vollzuglich abzustimmen. Ein Jugendstrafvollzug, der darauf setzt, dass die bloße Inhaftierung zum selbstreflexiven Lernen bewegt, geht von einem pädagogischen Optimismus aus, der durch keinerlei wissenschaftliche Erkenntnis gestützt wird. Ein Beteiligung fördernder Einbezug der Jugendlichen in die Planung ihres vollzuglichen Verlaufs erfordert auch Vereinbarungen über den konkreten Beitrag der Jugendlichen zum Erfolg der Resozialisierung und in dieser Hinsicht überprüfbare, terminierte Zielbestimmungen. Er erfordert aber auch die genaue Berücksichtigung des Entwicklungsstandes der jugendlichen Frauen und eine Festschreibung, durch welche Interventionen die Jugendliche bei ihrer Zielerreichung unterstützt werden soll (z. B. Nachhilfe, regelmäßige Fördergespräche, Belohnungen). Die Möglichkeit einer solchen partizipativ orientierten Vollzugsplanung mit den jugendlichen Frauen könnte durch eine soziothera- 260 uj 6 | 2012 Jugendliche unter Haftbedingungen peutische Ausgestaltung der weiblichen Jugendhaft relativ einfach installiert und als Teil des soziotherapeutischen Förderprozesses verstanden werden: ➤ Durch die Möglichkeit, mit speziell auf die Jugendlichen zugeschnittenen Verfahren ihre Problemlagen und Ressourcen rechtzeitig zu erkennen und einzuschätzen. ➤ Durch die Schaffung differenzierter, dem Förderbedarf der Jugendlichen angemessener Unterbringungsmöglichkeiten, die Soziales Lernen ermöglichen. ➤ Durch Abteilungsteams (SozialpädagogInnen, PsychologInnen, MitarbeiterInnen des Allgemeinen Vollzugsdienstes), die auf Problemlagen der jungen Frauen geschlechtsspezifisch mit angemessenen Settings und spezifischen methodischen Arrangements reagieren. Eine besondere Bedeutung für die Förderung der jungen Frauen haben Angebote im Kontext schulischer und beruflicher Ausbildung, die den jeweiligen Bildungsstand und die Interessen der jugendlichen Frauen berücksichtigen. Gerade in dieser Hinsicht werden die jugendlichen Frauen im Strafvollzug - im Vergleich zu den Bildungsmöglichkeiten der jugendlichen Männer - bisher gravierend benachteiligt. Unterstützung von Bildungsprozessen als psycho-soziale Intervention Es wäre wünschenswert, bei den jungen Frauen zu überprüfen, ob sie dazu in der Lage sind, Schul- und Ausbildungsprozesse außerhalb der Strafanstalt zu besuchen. Dies wird aber wahrscheinlich nur bei einzelnen „stabilen“ Mädchen der Fall sein, die sich dann im besten Fall im offenen Vollzug befinden. Die meisten inhaftierten Mädchen werden aufgrund ihrer lebensgeschichtlichen Themen und insbesondere aufgrund einer bestehenden Suchtproblematik damit überfordert sein, zwischen der Haftanstalt und einer öffentlichen Regelschule hin und her zu pendeln. Es ist also dringend notwendig, dass im weiblichen Jugendvollzug spezifische Angebote für die jugendlichen Frauen geschaffen werden, die ihre bisherigen Bildungsverläufe berücksichtigen, die daraus resultierenden Widerstands- und Abwehrmuster einschätzen und interaktiv damit umgehen können. Bildungsarbeit wird damit zu einer psycho-sozialen Intervention, die über eine kognitiv-rationale Vermittlung von Bildungsinhalten hinausgeht. Unter diesen Bedingungen ist Bildungsarbeit auch im restriktiven Gesamtrahmen eines Gefängnisses dazu in der Lage, eine Ressource sozialer Unterstützung zu werden. Bildungsarbeit wird in dieser Hinsicht verstanden als ein pädagogisch/ therapeutisches Angebot, mit dem kognitiv-motorische, kommunikative und soziale Kompetenzen eingeübt werden. Dabei erscheint es sinnvoll, die bildende Kraft ästhetisch-kreativer Verfahren (Theater, Tanz, kreatives Gestalten, Musik, Bewegung) besonders zu berücksichtigen, um Erfahrungs- und Erlebnisqualitäten zur Verfügung zu stellen, die eine durch Stress- und Überforderungsgefühle gekennzeichnete Bezugsgruppe übungszentriert motivieren und stabilisieren kann. Bildung als psycho-soziale Intervention für junge Frauen umfasst neben schulischen Bildungs- und Ausbildungsprozessen insbesondere aber auch die Bildung sozialer Kompetenzen im Kontext ihrer Gesundheitsfürsorge. Gesundheitsbildung und gelungene Selbstfürsorge Jugendliche Frauen nehmen überproportional häufig medizinische Hilfe in Anspruch, leiden häufiger unter subjektiv empfundenen körperlichen Beeinträchtigungen und nehmen häufiger Medikamente, um sich zu stabilisieren, als die vergleichbare männliche Altersgruppe. 261 uj 6 | 2012 Jugendliche unter Haftbedingungen Psychisches Leiden drückt sich bei Frauen und Mädchen insbesondere in somatischen Beschwerden, körperbezogenen Verarbeitungsformen (z. B. Selbstverletzungen) und Suchtverhalten aus. Bei wesentlich mehr Frauen als Männern wird neben einer Suchterkrankung eine psychiatrische Diagnose klassifiziert. Schwangerschaften sind für die jugendlichen Frauen nicht nur mit erheblichen psycho-sozialen Belastungen verbunden, sondern bedeuten insbesondere für drogenabhängige Mädchen auch ein erhebliches Risiko für das Kind. Es zeigt sich, dass die Mädchen in ihren Herkunftsmilieus häufig wenig aufmerksame Gesundheitsvorsorge und -aufklärung erhalten haben (Weber 2006; Schepker 2009). Im Jugendstrafvollzug ist die Konfrontation mit Mädchen, die kaum etwas über die körperlichen Veränderungen während der Pubertät wissen, erschreckend hoch. Sie sind wenig aufgeklärt über den Umgang mit Verhütungsmitteln und den Schutz vor sexuell übertragbaren Erkrankungen. Gleichzeitig müssen sie aber in ihren jeweiligen kulturellen Milieus häufig die alleinige Verantwortung für Gesundheitsschutz und Schwangerschaftsverhütung übernehmen, und im Drogen- und Prostitutionsmilieu wird insbesondere bei sehr jungen Mädchen im Entzug ungeschützter Geschlechtsverkehr als Dienstleistung häufig angefragt. Aus diesem Grund ist eine offensive, präventive Gesundheitsbildung und Gesundheitsförderung im Jugendstrafvollzug dringend erforderlich. Dabei sind Informationsveranstaltungen zum Schutz vor sexuell übertragbaren Erkrankungen, zur Schwangerschaftsverhütung und zur Suchtspezifik ebenso erforderlich wie Informationen zum Thema Schwangerschaft und Säuglingspflege. Jungen Frauen sollte im Bereich der medizinischen Versorgung einer Strafanstalt auch weibliches Personal (Ärztinnen, Pflegerinnen) zur Verfügung stehen. Neben den beschriebenen körperlichen Erkrankungen zeigen viele der jungen Frauen auch Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Häufig eine Folge von chronischen Gewalterfahrungen, die entweder primär als unmittelbare Bedrohung am eigenen Leib oder sekundär als Zeugenschaft bei gewalttätigen Übergriffen auf nahe Bezugspersonen erlebt wurden. Gleichzeitig scheint aber auch die eigene Ausübung physischer Gewalt (insbesondere bei emotional deprivierten jungen Frauen) ein vitales Erleben von Selbstwirksamkeit und situativer Handlungskompetenz zu ermöglichen (Heeg 2009). Weibliche Gewalt in den Blick nehmen Aktuelle Gewaltstatistiken zeigen, dass auch jugendliche Frauen an den Verteilungskämpfen „der Straße“, die traditionell eher zwischen männlichen Jugendlichen ausgemacht werden, partizipieren wollen. Dazu passt es auch, dass Gewaltdelikte dieser Altersgruppe häufig im Gruppenzusammenhang begangen werden und einen spontanen, aktionszentrierten Kern haben. Jugendliche Frauen lassen sich im Rahmen ihrer Entwicklung wesentlich mehr an das familiale System binden als jugendliche Männer. Ihre moralische Entwicklung und auch das Erleben von Selbstwirksamkeit ist an Beziehungen im familialen Kontext ausgerichtet, wobei ihnen häufig schon sehr früh überfordernde Verantwortung für Familienmitglieder aufgebürdet wird. Sich im öffentlichen Raum zu inszenieren, ist für die Mädchen vielfach tabuisiert. Aus diesem Grund erleben gewalttätige Mädchen ihr „Sichtbar-Werden“ im öffentlichen Raum durch Härte, Stärke und körperlicher Durchsetzungskraft als eine Möglichkeit, gefühlte Autonomie zu erlangen. 262 uj 6 | 2012 Jugendliche unter Haftbedingungen Diese gewaltaffinen Verhaltensmuster stehen neben anderen Formen der offenen Bedürftigkeit, des Rückzugs, der Selbstverletzung und der immer wieder artikulierten Sehnsucht nach familialer Zugehörigkeit (z. B. im frühen Kinderwunsch und in früher Mutterschaft). Die konkrete Arbeit mit gewaltbereiten Mädchen bedeutet eine alltägliche Auseinandersetzung und Konfrontation mit Kernpunkten geschlechtstypischer Varianten von Gewalt. Dazu gehört insbesondere die Thematisierung von Co-Gewalt und von psychischer Gewalt wie z. B. Mobbing und Ausgrenzung. Die jungen Frauen müssen ein Gefühl dafür bekommen, dass ein Zusammenhang zwischen ihren verinnerlichten Selbstabwertungen und der Legitimation des eigenen Gewalthandelns durch Abwertung von anderen besteht. Im pädagogischen Alltag nehmen dabei Interventionen, die sie aus einer gesicherten pädagogischen Beziehung heraus mit den Abwertungen ihrer eigenen Gefühle, ihres Selbstwertes und ihrer Bedürfnisse konfrontieren, eine besondere Stellung ein. Darüber hinaus eignen sich verhaltensbezogene Kompetenztrainings (wie z. B. das Gruppentraining Sozialer Kompetenz und Formen des Sozialen Trainings), wenn diese ihnen bezogen auf ihre Lebenssituation auch Möglichkeiten der Impulskontrolle vermitteln. Dabei hat die Thematisierung von Alkohol, als nachweisbar am häufigsten in Zusammenhang mit Gewaltdelikten konsumierte Droge der Mädchen, eine besondere Bedeutung. Prof. Dr. phil. Irma Jansen Fachhochschule Münster, Fachbereich Sozialwesen Hüfferstraße 27 48149 Münster jansen@fh-muenster.de Literatur Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe e.V. (Hrsg.), 2006: Eckpunktepapier Jugendstrafvollzug vom 31. 10. 2006. www.dvjj.de, 11. 3. 2012, 1 Seite Heeg, R., 2009: Mädchen und Gewalt. Bedeutung physischer Gewaltausübung für weibliche Jugendliche. Wiesbaden Jansen, I., 2006: Der Frauenknast - Entmystifizierung einer Organisation. In: Zander, M./ Hartwig, L./ Jansen, I.: Geschlecht Nebensache? Zur Aktualität einer Genderperspektive in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden, S. 271 - 291 Jansen, I./ Peters, O./ Schreiber, W., 2006: Devianzpädagogische Analysen. Norderstedt Jansen, I., 2007: Gender Mainstreaming im Jugendstrafvollzug. In: Goerdeler, J./ Walkenhorst, P. (Hrsg.): Jugendstrafvollzug in Deutschland. Mönchengladbach, S. 238 - 254 Jansen, I., 2010: Mädchen in Haft - weit entfernt vom Gender Mainstream. In: Betrifft Mädchen, 23. Jg., H. 2, S. 60 - 66 Petzold, H./ Feuchtner, C./ König, G. (Hrsg.), 2009: Für Kinder engagiert - mit Jugendlichen auf dem Weg. Wien Schepker, R., 2009: Mädchenwendigkeit in der Jugendpsychiatrie und ihre Bedeutung für den pädagogischen Alltag. In: LAG Mädchenpolitik Baden- Württemberg (Hrsg.): Mädchen in den Hilfen zur Erziehung - neue Herausforderungen und Chancen? ! Stuttgart, S. 40 - 45 Sonnen, B. R., 2007: Gesetzliche Regelungen zum Jugendstrafvollzug auf dem Prüfstand. In: Goerdeler, J./ Walkenhorst, P. (Hrsg.): Jugendstrafvollzug in Deutschland. Mönchengladbach, S. 77 - 99 Weber, M., 2006: Soziale Arbeit und Gesundheit - Innovationspotenziale einer genderbezogenen Betrachtungsweise. In: Zander, M./ Hartwig, L./ Jansen, I. (Hrsg.): Geschlecht Nebensache? Zur Aktualität einer Genderperspektive in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden, S. 311 - 331
