eJournals unsere jugend 64/9

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
91
2012
649

Zwischenruf: Zwischen selbst gewählter Gleichförmigkeit und vernetzter Identität

91
2012
Vera Birtsch
Berichte über stetig zunehmenden Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen, Beobachtungen im privaten wie im öffentlichen Raum über das Kommunikationsverhalten junger Menschen mithilfe von Handy oder Internet beschäftigen Fachleute wie Laien und lassen Fragen auftauchen wie: Können Jugendliche, die offensichtlich sehr viel Zeit mit neuen Medien verbringen, eigentlich auch noch "normal" - also face to face - kommunizieren? Welche Qualität haben ihre Interaktionen und wie verändern die neuen Medien das Kommunikationsverhalten, das Sozialverhalten insgesamt?
4_064_2012_009_0385
385 von Dr. Vera Birtsch Dipl.-Psychologin, Leiterin des Amtes für Arbeit und Integration a. D., Hamburg Zwischenruf: Zwischen selbst gewählter Gleichförmigkeit und vernetzter Identität Den Artikel „Zwischen selbst gewählter Gleichförmigkeit und vernetzter Identität“ in unsere jugend 2012/ 4 habe ich mit Interesse gelesen. Berichte über stetig zunehmenden Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen, Beobachtungen im privaten wie im öffentlichen Raum über das Kommunikationsverhalten junger Menschen mithilfe von Handy oder Internet beschäftigen Fachleute wie Laien und lassen Fragen auftauchen wie: Können Jugendliche, die offensichtlich sehr viel Zeit mit neuen Medien verbringen, eigentlich auch noch„normal“ - also face to face - kommunizieren? Welche Qualität haben ihre Interaktionen und wie verändern die neuen Medien das Kommunikationsverhalten, das Sozialverhalten insgesamt? Wie erfreulich also, dass die uj dieses aktuelle Thema mit dem Artikel von Korittko/ Hüther aufgegriffen hat. Es werden einige empirische Ergebnisse aus der englischsprachigen Literatur referiert, wonach Handy- und InternetnutzerInnen nicht nur über größere, sondern auch über unterschiedliche persönliche Gesprächsnetze verfügen. So fand etwa Melissa Blau in ihrer Studie von 2010, dass junge Menschen die neuen Medien nutzen, um Beziehungen zu Menschen, die sie kennen, zu pflegen, aber sie treffen sie, was eigentlich nahe liegt, sowohl im Cyberspace als auch im richtigen Leben. Und nicht nur das, so Korittko und Hüther, der Umgang mit vielfältigen Informationen im Netz werde vom Gehirn geradezu willkommen geheißen: Es reagiere auf entsprechende Inputs nämlich mit neuronalen Verschaltungen und differenzierter Aktivität. Die Autoren vermuten in diesem Zusammenhang sogar, dass die Aktivität in unterschiedlichen auch virtuellen Netzwerken weg von einer individualistischen und hin zu einer sozialen Gesellschaft führen könne. Diese Hinweise sind interessant, auch wenn man gerne noch etwas mehr über empirisch abgesicherte Ergebnisse aus diesem Gebiet erfahren hätte. Die folgenden Anmerkungen möchte ich allerdings weniger als Kritik an den Autoren des uj-Beitrags verstanden wissen, sondern mehr als Anregung, über ein allgemeines Phänomen nachzudenken. In der aktuellen Diskussion über den Medienkonsum junger Menschen sind nämlich auffallend häufig kritische bis anklagende Positionen vertreten. Warnungen der uj-Autoren, dass junge Menschen über Medienkonsum in eine Falle der Illusionen uj 9 | 2012 386 uj 9 | 2012 Zwischenruf gerieten und u. a. grenzenloser Konsum, Genuss ohne Leistung, Leben ohne Angst und ohne Ambivalenzen versprochen würden, unser Leben tatsächlich aber immer auch frustrierend, bedrohlich - kurz durch Leid und Endlichkeit gekennzeichnet - sei, können ja durchaus begründet sein. Aber spiegeln sie nicht letztlich doch nur Vorbehalte der älteren Generation dem heutigen gesellschaftlichen Wandel gegenüber? Internet und neue Medien haben längst eine Wende in der Technik- und Kulturgeschichte eingeleitet, die nicht zurückholbar sein wird - vielleicht ähnlich der Wende, die u. a. durch die Erfindung der Eisenbahn oder des Telefons eingetreten ist. Wie bei vielen früheren Veränderungen auch wird es aber vor allem die junge Generation sein, die produktiv damit umgehen muss und umgehen wird. Deshalb sollten wir zunächst mehr danach fragen, wie das Kommunikationsverhalten der Jugendlichen heute insgesamt aussieht und wie es motiviert ist, was sie bei Facebook mit welchen Erwartungen tun, mit welchem Ziel E-Mails geschrieben werden, welche Formen die realen Interaktionen haben und in welcher Weise sich alle Formen gegenseitig ergänzen. Es könnte doch sein, dass an die Stelle der uns Älteren bekannten Live-, Brief- und Telefon-Kommunikation heute ein sehr viel umfangreicheres und zugleich differenzierteres Kommunikationsverhalten getreten ist, das sich verschiedener Medien bedient. Und vielleicht ist dies in der globalisierten und vernetzten Welt, die im beruflichen wie privaten Bereich deutlich internationaler geworden ist, ein sehr viel funktionaleres Kommunikationsverhalten, das dem Individuum ermöglicht, sich gleichzeitig in verschiedenen Welten aufzuhalten: im engen Freundeskreis genauso wie in einem lockeren Netz von FreundInnen, Bekannten oder Geschäfts- und KooperationspartnerInnen. Und vielleicht ermöglicht es den handelnden Personen, in schneller Folge auf sehr effektive Weise Information auszutauschen, Verabredungen zu treffen und damit sowohl Freundschaften zu pflegen wie auch Kontakte neu zu knüpfen oder auch: einfach nur zuzuschauen und dabei zu sein. Es wäre wünschenswert, wenn in Forschungs- oder Literaturarbeiten diesen Fragen vermehrt nachgegangen würde. Dr. Vera Birtsch vbirtsch@t-online.de