unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2012.art37d
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Suizidalität: Zahlen und Fakten bei Kindern und Jugendlichen und Möglichkeiten zur Prävention
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Maria Zima
Selbstmord und Selbstmordversuche im Kindes- und Jugendalter sind ein erhebliches gesellschaftliches Problem geworden. Handelt es sich dabei aber um ein unwiderrufliches Schicksal?
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402 unsere jugend, 64. Jg., S. 402 - 411 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art37d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Suizidalität: Zahlen und Fakten bei Kindern und Jugendlichen und Möglichkeiten zur Prävention Selbstmord und Selbstmordversuche im Kindes- und Jugendalter sind ein erhebliches gesellschaftliches Problem geworden. Handelt es sich dabei aber um ein unwiderrufliches Schicksal? von Mag. Maria Zima Jg. 1969; Studium der Psychotherapiewissenschaften, Psychotherapeutin in freier Praxis in Wien In Deutschland starben im Jahr 2006 (Statistisches Bundesamt 2007) insgesamt 595 unter 25-jährige Kinder und Jugendliche durch Suizid: 20 männliche Kinder und Jugendliche in der Alterskategorie 5 bis unter 15 Jahren sowie 454 in der Alterskategorie 15 bis unter 25 Jahre. Bei den weiblichen Kindern und Jugendlichen konnte das statistische Bundesamt 9 Todesfälle durch Suizid bei den 5bis unter 15-Jährigen verzeichnen; bei den 15bis unter 25-Jährigen waren es 112 Todesfälle. Abbildung 1 zeigt die Anzahl der Suizide in Deutschland nach Alter und Geschlecht im Jahr 2006. Nach Rutz und Wasserman (2004) sind die Suizidraten bei Kindern und Jugendlichen in den meisten europäischen Ländern im Steigen begriffen; in den USA (Centers for Desease Control and Prevention 2003) steht Suizid sogar an dritter Stelle bei den häufigsten Todesursachen der 10bis 14-Jährigen und der 15bis 24-Jährigen! Die Suizidversuche sind im Vergleich zur Anzahl der Suizide ungefähr zehnmal so hoch (Nationales Suizidprogramm Deutschland 2012). Die davon am stärksten betroffene Altersgruppe ist die der 15bis 25-jährigen Frauen, und die Zahlen sind im Steigen begriffen. Dadurch erhöht sich auch die Rate der traumatisierten Personen. Die Selbstmordversuchszahlen der Kinder und Jugendlichen in Deutschland liegen unter dem europäischen Durchschnitt (Schmidtke u. a. 2004), wobei es sich um ähnliche Alters- und Geschlechtsverteilungen wie in anderen Ländern handelt. Nationale und internationale Forschungsergebnisse Die Suizidologie als Lehre der Erforschung des Suizids ist eine relativ junge Wissenschaft. Sie beschäftigt sich mit Ursachen und Folgen des Suizids, mit der Suizidprävention, ist ein Teilbereich der Psychiatrie, Psychologie und Soziologie und umfasst heute vor allem epidemiologische, neurobiochemische und klinisch-psychiatrische Herangehensweisen. 403 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention Die Suizidproblematik stellt ein beträchtliches gesellschaftliches Problem dar, das bis zum heutigen Tage nicht hinreichend gelöst werden konnte. Obwohl im deutschsprachigen Raum (Dervic u. a. 2007) rund 100 Jahre lang Suizide bei Kindern und Jugendlichen beforscht werden, stehen die erfolgten Untersuchungen in diesem Bereich immer noch am Anfang. Einige Ergebnisse der nationalen und internationalen Suizidforschung sollen im Folgenden präsentiert werden. 35 30 25 20 15 10 5 0 Suizide/ 100.000 5 - 9 10 - 14 15 - 19 20 - 24 25 - 29 30 - 34 35 - 39 40 - 44 45 - 49 50 - 54 55 - 59 60 - 64 65 - 69 70 - 74 75 - 79 80 - 84 85 - 89 90 + Alter in Jahren Männer Frauen Abb. 1: WHO/ EURO Multicentre Study on Suicidal Behaviour. Gemittelte Suizidversuchsraten in Würzburg nach Alter und Geschlecht der Jahre 2001 - 2005. (www. suizidpraevention-deutschland.de/ download/ suizidpraevention_2009.pdf, S. 4) Suizidversuche/ 100.000 350 300 250 200 150 100 50 0 15 - 19 20 - 24 25 - 29 30 - 34 35 - 39 40 - 44 45 - 49 50 - 54 55 - 59 60 - 64 65 - 69 70 - 74 75 - 79 80 - 84 Männer Frauen Jahre Abb. 2: WHO/ EURO Multicentre Study on Suicidal Behaviour. Gemittelte Suizidversuchsraten in Würzburg nach Alter und Geschlecht der Jahre 2001 - 2005. (www. suizidpraevention-deutschland.de/ download/ suizidpraevention_2009.pdf, S. 5) 404 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention Methoden des Suizids Der typische deutsche Suizid (Schmidtke u. a. 2004) wird mittels Aufhängen begangen, zu 80 % auch bereits bei den jüngeren Jahrgängen. Im Vergleich mit anderen Ländern ist es kaum möglich, dieses Suizidmittel zu verhindern. Weitere Mittel unter Jugendlichen wären beispielsweise der Sturz aus großer Höhe, Vergiften mittels Tabletten oder Drogen und Erschießen. Die Suizidmethoden hängen im internationalen Vergleich von nachfolgenden Faktoren ab: ➤ Erreichbarkeit bzw. Verfügbarkeit des Suizidmittels (Kapusta u. a. 2007), ➤ soziokulturelle Faktoren, ➤ Beliebtheitsgrad des Suizidmittels: diese stehen in Zusammenhang damit, welche Suizidmethoden die Erwachsenen in diesem Land bevorzugen, und hängen von der Medienberichterstattung ab. Geschlechts- und Altersmerkmale Während laut WHO Suizide bei Jungen häufiger als bei Mädchen auftreten - die einzige Ausnahme unter den registrierten Ländern stellt China dar -, kommen sowohl Suizidgedanken als auch -versuche bei Mädchen wesentlich häufiger vor. Man könnte dies darauf zurückführen, dass die Depressionsrate bei Mädchen viel höher als bei Knaben ist. Außerdem ist zu beachten, dass bei der Wahl der Suizidmethode das Geschlecht eine Rolle spielen dürfte (Dervic u. a. 2007). Knaben greifen eher zu den sogenannten harten Methoden (z. B. Erschießen), während Mädchen die weicheren (z. B. sich mit Tabletten vergiften) bevorzugen. Dabei ist davon auszugehen, dass der Ausgang des Suizidversuchs bei harten Methoden öfter tatsächlich tödlich endet als bei weichen. Einen weiteren Aspekt für Suizidalität stellen aggressives-impulsives Verhalten und Substanzenmissbrauch (Alkohol) laut Gould u. a. (2003) dar, die bei männlichen Jugendlichen häufiger zu finden sind als bei Mädchen. Durch das eher geringe Vorkommen von Depression und Substanzmittelmissbrauch, die als Hauptrisikofaktoren für Selbstmord in diesem Alter gelten, ist die Suizidrate (Friedrich 2006) bei den 15bis 19-Jährigen höher als in der Alterskategorie der 10bis 14-Jährigen. Allgemein kann gesagt werden, dass in allen Ländern die Wahl der Suizidmethode bei Knaben eher auf harte Methoden wie Erhängen und Erschießen und bei Mädchen auf weichere Methoden wie Überdosis an bestimmten Giftstoffen oder Drogen fällt. Biologische und genetische Faktoren Biologische und genetische Faktoren (Voracek/ Sonneck 2007) scheinen keine unbeträchtliche Rolle in der Erforschung der Suizidologie zu spielen. Es konnten familiäre Häufungen von Suiziden und Suizidversuchen nachgewiesen werden, wobei dies auch mit der Psychopathologie innerhalb einer Familie zusammenhängen dürfte. So häufen sich demnach Depressionen bzw. aggressiv-impulsives Verhalten in Familien, in denen Suizide vorkommen. Zusätzlich gibt es eine Reihe von Studien, die genetische Faktoren (Voracek/ Loibl 2007) mit einer geschätzten Vererbung von 30 bis 55 % für Menschen mit suizidalem Verhalten zeigen. Darüber hinaus konnte der Zusammenhang von suizidalem Verhalten und einer Dysregulation des Serotoninspiegels (Mann u. a. 1997) nachgewiesen werden. Risikofaktoren für Suizid im Kindes- und Jugendalter Es werden drei Risikofaktoren bei Suizid im Kindes- und Jugendalter unterschieden: Erstens psychiatrische Faktoren: Hier ist die Depression zu erwähnen, die unter den psychiatrischen Faktoren den größten Stellenwert 405 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention einnimmt. Nach einer Studie von Shaffer u. a. 1996 konnte nach dem Tod der Suizidanten bei 60 % eine Depression festgestellt werden. Darüber hinaus zählen zu den psychiatrischen Faktoren der Substanzenmissbrauch (vornehmlich Alkohol und Drogen), Impulsivität und Aggressivität, Persönlichkeitsentwicklungsstörung, vorangegangener Suizid oder sexueller bzw. physischer Missbrauch am Jugendlichen. In der oben erwähnten Studie von Shaffer 1996 waren zwei Drittel der Suizidopfer von affektiver Störung, vorangegangenem Suizidversuch oder Substanzenmissbrauch betroffen. Zweitens psychosoziale Faktoren: Zu den psychosozialen Faktoren (Friedrich 2006) zählen familiäre Probleme, schulische Probleme und die Straffälligkeit Jugendlicher. Familiäre Probleme äußern sich in einer vorhandenen Psychopathologie der Eltern oder in einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung. Die schulischen Probleme umfassen das Versagen des Jugendlichen in der Schule bzw. einen Ausschluss aus der Gemeinschaft oder gezieltes Mobbing von LehrerInnen oder MitschülerInnen. Drittens umfeldbezogene Faktoren: Hierbei lassen sich vor allem Ort und Art und Weise der Darstellung des Suizids und Meinungen über Suizid benennen. ➤ Die Exposition im Sinne von Aus- oder Darstellung des Suizids in der Umgebung (Mann u. a. 2005) schließt den Freundeskreis und die Schule ein und wird in Zusammenhang mit suizidalem Verhalten im Kindes- und Jugendalter gebracht. Die Exposition verleitet zur Nachahmung, wenn ein/ e Jugendliche/ r vulnerabel, d. h. anfällig für Suizid ist. ➤ Laut einer österreichischen Studie beinhalten maladapitive und inadäquate Einstellungen zum Suizid beispielsweise, dass jeder zweite befragte Jugendliche glaubt, dass jemand, der Suizid androht, ihn nicht begehen würde. Darüber hinaus waren befragte Jugendliche der Meinung, dass es besser wäre, Depression nicht nach außen zu zeigen, und fast 20 % der Jugendlichen waren der Meinung, Suizid könnte eine Lösung für Probleme sein (Dervic u. a. 2006). Das nationale Suizidpräventionsprogramm in Deutschland Die Prävention im Gesundheitsbereich ist in Deutschland eine Angelegenheit des Bundes. 4,8 % der Gesundheitsausgaben werden in Deutschland für Prävention ausgegeben (Michel 2008). Dies ist im Ländervergleich hoch: OECD-Länder setzen im Durchschnitt nur etwa 2,9 % der Gesundheitsausgaben dafür ein. Das nationale Suizidpräventionsprogramm (NaSPro) wurde von der DGS (Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention) bereits 1972 gegründet. Dieses Programm stellt ein höchst differenziertes und umfangreiches Projekt dar. Mithilfe des Suizidpräventionsprogramms sollen Forschung gefördert sowie Strukturen für eine verbesserte Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention geschaffen werden. Unter primärer Suizidprävention (Bronisch 2006) wird die Vorsorge, das heißt die Verhütung von erstmaligen Suizidversuchen und von Suiziden verstanden. Die Sekundärprävention macht sich zur Aufgabe, Suizide und Suizidversuche bei Personen zu verhindern, die bereits die Intention hatten, sich das Leben zu nehmen, bzw. bereits suizidales Verhalten aufwiesen. In der Tertiärprävention schließlich sollen ungünstige Verläufe und Folgeschäden verhütet werden, was im Bereich der Suizidprävention die Nachsorge anschließend an Suizidversuche bedeutet. Ferner wird darüber hinaus auch die Verhütung ungünstiger Spätfolgen beispielsweise durch Trauma erwähnt. Die Tertiärprävention ist bereits sehr eng mit der Thematik Krisenintervention und Therapie verknüpft. 406 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention Das nationale Suizidpräventionsprogramm Deutschland formuliert eine Reihe an Grundsätzen (Nationales Suizidpräventionsprogramm Deutschland 2012), die der Vorsitzende Armin Schmidtke aufgrund seiner langjährigen Erfahrung und in Zusammenarbeit mit der WHO (World Health Organization, Weltgesundheitsorganisation) sowie der von ihm betriebenen länderübergreifenden Studien aufgestellt hat. Suizidprävention ist möglich Sowohl anhand der Evaluation nationaler Suizidpräventionsprogramme als auch anhand der einzelnen Projekte in verschiedenen Ländern konnte festgestellt werden, dass Suizidprävention indirekt wirkt. Eine tatsächliche Auswirkung (Mann u. a. 2005) von Suizidprävention auf das suizidale Verhalten ist unklar. Es können jedoch Risikofaktoren damit minimiert werden - als solche gelten Aggression und Depressivität -, und der Selbstwert kann gesteigert werden. Suizidalität ist ein komplexes Phänomen Die Präventionsarbeit ist interdisziplinär zu betrachten. Aus diesem Grund werden unterschiedlichste Berufsgruppen und auch LaiInnen zur Mitarbeit benötigt. Die Suizidalität per se verlangt nach mannigfaltigen Sichtweisen, die wichtigsten darunter wären die kulturellen, psychologischen und die biologischen Aspekte. Suizidprävention ist eine gesellschaftliche Aufgabe An erster Stelle steht hier die Veränderung der Einstellung zu Suizid in der Bevölkerung. Dafür braucht es eine Enttabuisierung der Thematik zur Entlastung suizidaler Menschen und ihrer Angehörigen. Diese soll mithilfe vieler gesellschaftlicher Institutionen gelingen. Suizidprävention ist auf verschiedenen Ebenen nötig Hier geht es um die Schaffung eines Rahmens und die Förderung der Forschung sowie praktisches Handeln. Es sollen Strukturen geschaffen werden, die die Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention verbessern. Im Prinzip geht es darum, dass ein Hilfesuchender schnell und unkompliziert zu kompetenter Hilfe gelangt. Suizidprävention muss die Angehörigen mit einbeziehen Da eine Reihe von Menschen durch einen Suizid oder Suizidversuch mittelbar betroffen sind, brauchen auch die Angehörigen oder engen Freunde Hilfe. Maßnahmen zur Verbesserung der Präventionsbereiche Beim nationalen Suizidpräventionsprogramm Deutschland handelt es sich um eines der umfangreichsten der Welt; es ist somit richtungsweisend für ganz Europa. Die Programmatik hat allerdings noch nicht ausreichend die Praxis vor Ort erreicht. Auch in Zukunft wird die Konzentration auf die Änderung bzw. Erweiterung gesetzlicher Bestimmungen sowie weiterer edukativer Schritte im Hinblick auf eine verbesserte Suizidsituation unter Minderjährigen und jungen Volljährigen unerlässlich sein. Im Folgenden sollen wichtige Präventionsbereiche (vgl. ÖGS 2012) nochmals genauer erläutert werden: Zugänglichkeit zu Suizidmitteln erschweren Suizidarten wie beispielsweise der Sturz aus der Höhe könnten durch das Erkennen sogenannter Hotspots (Brücken, Gebäude, Klip- 407 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention pen etc.) sowie die anschließende Errichtung von Sicherheitsbarrieren eingedämmt werden. Zusätzlich sollten sowohl Medikamente als auch Gifte erschwert zugänglich gemacht werden. Die momentan vorherrschende Methode für Suizid unter Jugendlichen in Deutschland, das Erhängen, bietet leider keine Chance auf Veränderung, weil es hier keinerlei Möglichkeiten der Einschränkung der Zugänglichkeit gibt. Medien sinnvoll nutzen An dieser Stelle möchte ich nochmals die Rolle der Medien erwähnen, die zwei Aufgaben haben: zum einen die Aufgabe, den Tod von Teenagern oder Kindern weniger zu dramatisieren und hochzustilisieren und damit eine Atmosphäre zu schaffen, die zu einem Imitationseffekt führen kann, zum anderen können die Medien sinnvoll zur Aufklärung der Bevölkerung und damit auch der Kinder und Jugendlichen im Sinne einer Präventionsarbeit beitragen. Dies hätte zur Folge, dass sich die Einstellungen zum Suizid bei Minderjährigen verändern könnten und würden. Aufklärung der Öffentlichkeit In der Suizidpräventionsarbeit (Dervic u. a. 2007) wäre es von Vorteil, die Öffentlichkeit noch besser über die Suizidrisikofaktoren zu informieren und eine erhöhte Sensibilisierung für die Thematik zu schaffen. Wünschenswert wäre eine verbesserte Aufklärung hinsichtlich der Institutionen, an die man sich wenden kann und die zur Verfügung stehen. ➤ Einrichtungen solcher Art sollten für Kinder und Jugendliche niederschwellig, anonym und sofort erreichbar sein. ➤ Kindern mit hohen Risikofaktoren, die z. B. Gewalt, Missbrauch, ein zerbrochenes Zuhause (broken-home) bzw. Armut erfahren, sollte besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Dabei sollten auch die Signale, wie beispielsweise Verhaltensauffälligkeiten, beachtet werden. Hier könnte die Kinder- und Jugendhilfe eine Vorreiterrolle spielen. ➤ Es sollten Einrichtungen für Familien geschaffen werden, die in ihrer Vergangenheit Suizide bzw. Suizidversuche sowie destruktives Verhalten (Alkoholbzw. Drogenmissbrauch), psychische Erkrankungen oder inadäquate emotionale Reaktionen zeigten. Hierbei sollen die besonderen Probleme von Alleinerziehenden und ImmigrantInnen berücksichtigt werden. Spezielle Berufsgruppen schulen Im Bereich der Ärzteschaft wäre die Behandlung der Depression bei Minderjährigen hervorzuheben. Da die Depression einer der Hauptfaktoren für Suizid bei Kindern und Jugendlichen darstellt, ist das Augenmerk der ÄrztInnen auf eine frühzeitige Erkennung und anschließend adäquate Behandlung der Depression zu legen; dafür müsste es zusätzliche Programme für ÄrztInnen geben, die genau hier ansetzen. Darüber hinaus sollten Weiterbildungsprogramme für unterschiedliche Berufsgruppen vorhanden sein; erwähnt seien hier die Sozial-, Erziehungs-, Lehr- und Gesundheitsberufe, Geistliche, Polizei, Rettung oder Bundeswehr. Gate-Keeper zur Identifikation von Risikogruppen Ferner ist der Einsatz von Gate-Keepern, die als Schleusen anzusehen sind, von großer Bedeutung. Unter Gate-Keepern versteht man Personenkreise, mit denen eine Reihe betroffener Personen in Kontakt treten. Mann (2005) be- 408 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention schreibt folgende Personenkreise oder Berufsgruppen: den Klerus, ErstadressatInnen (Hilfsorganisationen und Beratungsstellen) des Betroffenen, ApothekerInnen, Angestellte in institutionellen Settings wie beispielsweise Schulen, Gefängnisse und Militär. Auch die Kinder- und Jugendhilfe, etwa die Professionellen der Tageseinrichtungen für Kinder oder SozialpädagogInnen in den Erziehungshilfen, könnte hier eine wichtige Rolle spielen. Dabei sollen Kinder und Jugendliche identifiziert werden, bei denen ein Suizidrisiko nicht auszuschließen ist. In weiterer Folge ist erwünscht, dass Gate-Keeper in der Lage sind, den Betroffenen an Fachpersonal zu verweisen. Sonneck, der führende österreichische Suizidpräventionsforscher, äußert in einem Interview 2008: „Ebenso sollten die Gate-Keeper aller gesellschaftlichen Hilfsstellen geschult werden, wie man Suizidalität erkennt, Beispiele sind die Altenbetreuer und vor allem auch die Lehrer, denn die Schule ist ein Nadelöhr, durch das jeder durch muss.“ Im Bereich der Forschung und Entwicklung sollte es vor allem für LehrerInnen von der Grundschule bis hin zur Universität besondere Schulungen in Bezug auf die Methoden des Unterrichts in der Suizidprävention geben. Sensibler Umgang mit Psychopharmaka und Psychotherapie Im Bereich der Verschreibung von Psychopharmaka (ÖGS 2012) sollten die Bedingungen der Verschreibung vorsichtiger sein, und es sollte eine bessere Nachkontrolle stattfinden. Das beinhaltet auch eine engmaschigere Kontrolle nach begangenen Suizidversuchen, da davon ausgegangen werden kann, dass die Person weitere Suizidversuche begehen wird. Erforderlich ist auch eine psychotherapeutische Behandlung, die häufig in Kombination mit der Behandlung mit Psychopharmaka einhergeht (Mann 2005). Risikofaktoren in Schule und Familie aufdecken Im Rahmen der Schulerziehung (Sonneck 2000) ist es wünschenswert, die Suizidproblematik als einen Teil in den Unterricht anhand eines eigenen Faches einfließen zu lassen, welches sich zudem mit Krisen- und Konfliktmanagement, Peer-Support (d. h. Unterstützung durch Gleichaltrige) und mit dem Umgang mit psychisch Erkrankten beschäftigt. Wichtig wäre auch die Erstellung entsprechender Schulungsprogramme. Wesentlich ist auch eine genauere Betrachtung der psychosozialen Rahmenbedingungen. Ausgehend davon, dass es vermehrt Suizide in den Prüfungsmonaten unter Jugendlichen gibt und das Versagen in der Schule keine unwesentlichen Auswirkungen auf Suizidtendenzen bei Minderjährigen hat, gilt es, die Risikofaktoren Schule und Familie genauer unter die Lupe zu nehmen. Hinzu kommen noch die Probleme Mobbing in der Schule sowie Beziehungsprobleme der Jugendlichen zu Eltern, LehrerInnen und FreundInnen. Erfolgreiche Suizidprävention am Beispiel österreichischer Schulprojekte Schulische Suizidpräventionsprojekte (Haring 2002) zielen darauf ab, dass die Förderung von Stressbewältigung, die Unterstützung der Autonomie der Jugendlichen, gesteigerte Fürsorglichkeit der LehrerInnen sowie ein positives Klassenklima zu wertvollen Ressourcen werden können und zu mehr Wohlbefinden und damit letztlich zu mehr psychischer Gesundheit beitragen. Damit kann Suizidalität verhindert oder zumindest vermindert werden. Hier ist noch ein großes Manko hinsichtlich des unüberschaubaren Angebotes an mehr oder weniger erfolgreichen Präventionsprogrammen vorhanden. Ei- 409 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention nerseits gibt eine Reihe an Programmen, die nicht evaluiert sind und bei denen der Erfolg fraglich ist, andererseits werden die Präventionsprogramme häufig nicht schlüssig in der Praxis eingesetzt. Zwei Beispiele aus Österreich, die aus Platzgründen nur skizziert werden können, finden interessierte LeserInnen ausführlich dargestellt in meiner Veröffentlichung aus dem Jahr 2011 (Zima 2011, 25ff ). Das erste Projekt (Abbildung 3) präsentiert einen sinnvollen Einsatz mehrerer aufeinander abgestimmter Präventionsprogramme im Laufe eines Schullebens (mit VS ist die Grundschule gemeint, AHS ist das Gymnasium); das zweite Projekt (Abbildung 4) gibt einen Überblick über die Präventionsebenen und deren Inhalte, die präventiv behandelt werden sollten. Nach Haring wird das Programm„Eigenständig werden“ bereits in der Grundschule angeboten, gefolgt vom Programm„Plus“ in der Unterstufe der Allgemeinbildenden Höheren Schulen beziehungsweise in den Hauptschulen. In der 9. und damit letzten Schulstufe wird das Schülertraining durch das Programm „Klasse! “ vervollständigt. Fartacek und Plöderl (2007) sind mit ihrem Suizidpräventionsprogramm der Meinung, dass Suizidprävention alle drei Teile, nämlich Primär-, Sekundärsowie Tertiärprävention umfassen soll, und sprechen von einem Eisberg, der aus dem Wasser ragt, während der Rest des Berges im Verborgenen liegt. Das bedeutet, dass es eine ganze Reihe an verborgenen Komponenten beim Einzelnen gibt, die schlussendlich zum Suizid führen können. Durch gezielte Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt kann dieser verhindert werden. Schulprojekte dürfen allerdings nicht als Einzelaktionen stehen bleiben. Ergänzend sind protektive Faktoren nicht nur innerhalb der Schule, sondern auch in familiärer Umgebung näher zu beleuchten und zu erforschen. Bründel (2004) äußert sich zur Prävention folgendermaßen: „Zentrale Faktoren in der Prävention sind: Stärkung der Problemlösefähigkeit, des Selbstbewusstseins und des Selbstwertgefühls von Kindern und Jugendlichen. In der salutogenetischen Präventionsarbeit werden Kinder und Jugendliche als aktive Mitgestalter ihres Lebens angesehen und darin unterstützt, alle internen und externen Ressourcen wahrzunehmen und zu nutzen. Ihre eigenen in ihnen KLASSE ! PLUS Eigenständig werden 9. Schst. HS AHS VS Abb. 3: „Projekt Klasse! “ (Haring 2007) 410 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention schlummernden Widerstandskräfte gegenüber Belastungen und schwerwiegenden Lebensbedingungen werden geweckt, um sie zu befähigen, Misserfolge zu verkraften und ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln. Nicht nur die Beseitigung von Risikofaktoren wird angestrebt, sondern vor allem die Förderung der Protektivfaktoren.“ Fazit Die Möglichkeiten der Suizidologie sind noch lange nicht erschöpft. Weitere Projekte und Studien, genaue Beobachtungen hinsichtlich der Epidemiologie suizidalen Verhaltens, der regionalen Häufungen von Suiziden, Vergleiche mit anderen Ländern und die differenzierte Erforschung der Risikofaktoren sind von größter Bedeutung für unser Gesundheitssystem. Suizid Suizidmethoden Suizidgedanken Psychische Störungen (v. a. Depression) Lebensbedingungen: Stress, Arbeitslosigkeit, Leistungsdruck, Trennungen, Gewalt, Traumen Tertiärprävention Sekundärprävention Primärprävention Ebenen der Suizidprävention - Eisbergmetapher Abb. 4: „Anti Stress Training” (Fartacek/ Plöderl 2007) Obwohl die Suizidrate bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren gesunken ist, steigen im internationalen Vergleich die Suizide unter Jugendlichen an. Für die Weltgesundheitsorganisation ist dies ein höchst alarmierendes Zeichen. Umso bestärkender ist es für Deutschland, durch die rückläufigen Zahlen zu bestätigen, dass die gesetzten Präventionsmaßnahmen wichtig und auch wirksam sind und es Hoffnung, aber auch viel Arbeit gibt, weitere Verbesserungen in der Suizidprävention voranzutreiben und damit mehr Chancen für die Jugend zu schaffen. Mag. Maria Zima Skodagasse 11 A-2531 Gaaden therapie@mariazima.com 411 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention Literatur Bronisch, T., 2006: Der Suizid. München Bründel, H., 2004: Jugendsuizidalität und Salutogenese. Stuttgart Centers for Disease Control and Prevention (CDC), 2003: Suicide Trends among Youths and young Adults Aged 10 - 24 Years United States 1990 - 2004. www. cdc.gov/ mmwr/ preview/ mmwrhtml/ mm5635a2.htm, 12. 7. 2012, o. S. Dervic, K. u. a., 2006: Youth suicide factors and attitudes in New York and Vienna: A cross-cultural comparison. 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