unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2012.art38d
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GO ON - Kompetenzzentrum für Suizidprävention Steiermark
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Ulrike Schrittwieser
Was tun, wenn Menschen nicht mehr weiter wissen? Bei den Suizidraten innerhalb Österreichs hat das Bundesland Steiermark eine traurige Spitzenposition. Deshalb wurde im Auftrag des Gesundheitsressorts ein steiermarkweites Suizidpräventionsprojekt ins Leben gerufen.
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412 unsere jugend, 64. Jg., S. 412 - 421 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art38d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel GO ON - Kompetenzzentrum für Suizidprävention Steiermark Was tun, wenn Menschen nicht mehr weiter wissen? Bei den Suizidraten innerhalb Österreichs hat das Bundesland Steiermark eine traurige Spitzenposition. Deshalb wurde im Auftrag des Gesundheitsressorts ein steiermarkweites Suizidpräventionsprojekt ins Leben gerufen. von Dr. Ulrike Schrittwieser Jg. 1962; Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Ärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapeutin und Leiterin des Psychosozialen Dienstes Hartberg Zielsetzung des Präventionsprojektes war, möglichst viele Menschen auf diese Problematik aufmerksam zu machen, Kenntnis über Entstehung und Bewältigung von Krisen zu vermitteln, konkrete Information speziell zu Risikofaktoren wie Depression und Suchterkrankungen zu geben, verschiedene helfende Berufsgruppen im Umgang mit Betroffenen zu schulen, Vernetzungen und Kooperationen zu intensivieren und konkrete Hilfe und Unterstützung anzubieten. Zur Suizidalität in Österreich Die Gesamtzahl der Suizide (Selbsttötungen) hat sich in Österreich in den letzten 25 Jahren nahezu halbiert, dennoch liegt das Bundesland Steiermark leider weiter an der Spitze der österreichischen Suizidstatistiken, Österreich selbst etwas über dem europäischen Schnitt. 2011 starben in Österreich 1.286 Menschen durch Suizid, etwa doppelt so viele wie im Verkehr getötet wurden. Vier der Betroffenen waren unter 15 Jahre alt, 90 gehörten zur Altersgruppe der 15bis 25-Jährigen (www.statistik.at). In vielen Fällen leiden Betroffene vor ihrer Tat an einer schweren Depression, sind chronisch krank oder sehen aus anderen Beweggründen scheinbar keinen anderen Ausweg mehr. Grund genug, dass 2011 im Auftrag der steirischen Psychiatriekoordinationsstelle des Gesundheitsressorts ein bundeslandweites Präventionsprojekt gestartet wurde, um auf diesen Umstand zu reagieren. Wegen beschränkter finanzieller Mittel wurde schwerpunktmäßig in zwei Bezirken (Murau und Hartberg; 96.000 EinwohnerInnen) mit der Umsetzung des Projektes begonnen, 2012 wurde um eine dritte Projektregion (Mürzzuschlag; 40.000 EinwohnerInnen) erweitert. Diese Entscheidung resultiert aus der Kenntnis der hohen Suizidraten in den obersteirischen Bezirken (www.statistik-steier mark.at), zu denen Murau und Mürzzuschlag zählen. Nach und nach soll das Projekt auf die ganze Steiermark (1.213 Mill. EinwohnerInnen) ausgedehnt werden. Dies wurde bereits von 413 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention Anfang an über den Aufbau von Kooperationen zur Nutzung von Synergieeffekten eingeleitet. Um eine nachhaltige Versorgung aufzubauen, wurde der Dachverband der sozialpsychiatrischen Vereine und Gesellschaften Steiermarks mit der Umsetzung des Projektes beauftragt. Dabei handelt es sich um den Zusammenschluss von fünf Trägervereinen, die in allen steirischen Bezirken eine sozialpsychiatrische Grundversorgung mit Beratungsstellen für alle Altersgruppen, tagesstrukturierenden, arbeitsrehabilitativen und wohnversorgenden Einrichtungen gewährleisten. Damit ist GO ON grundsätzlich an die psychosozialen Dienste in allen Regionen der Steiermark angebunden. Zur Geschichte der österreichischen Suizidprävention für Kinder und Jugendliche Bereits 1910 veranstaltete die Wiener Psychoanalytische Gesellschaft aus gegebenem Anlass ein Symposium zu Schülersuiziden, um verstärktes Bewusstsein auf dieses Problem zu lenken. Große Öffentlichkeit erhielt die Thematik auch durch Friedrich Torbergs 1930 erschienenen Roman „Der Schüler Gerber hat absolviert“, wozu den Autor auch die zu Beginn des Buches erwähnten Zeitungsberichte über Schülersuizide inspiriert haben dürften. Es dauerte bis zum Jahr 2000, als mit dem Österreichischen Suizidpräventionsplan von Gernot Sonneck erstmals ein 10-Punkte-Programm beschrieben wurde, das auf die verschiedenen Ebenen der Prävention Bezug nahm und auch Kindern und Jugendlichen einen eigenen Rahmen gab (www.suizidforschung.at/ suizidpraeventionsplan.pdf ): 1. Bewusstseinsbildende Maßnahmen 2. Unterstützung und Behandlung 3. Kinder und Jugendliche 4. Erwachsene 5. Ältere Menschen 6. Risikogruppen 7. Schulung und Entwicklung 8. Erreichbarkeit von Suizidmitteln 9. Nationale Expertise 10. Gesetzliche Voraussetzungen Vonseiten der WHO werden Suizide als eines der größten Gesundheitsprobleme der Gegenwart eingeschätzt. 1980 wurde die Notwendigkeit zur Suizidprävention in einem Strategie- Durchschnitt 2008 - 2010 Suizidrate pro 100.000 20,0 18,0 16,0 14,0 12,0 10,0 8,0 6,0 4,0 2,0 0,0 Wien Tirol Vorarlberg Niederösterreich Burgenland Österreich Oberösterreich Salzburg Kärnten Steiermark Abb. 1: Grafik N. Kapusta 2011 414 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention programm (Health for All by the Year 2000) dezidiert angeführt. Seit 2003 gibt es alljährlich am 10. September einen Welt-Suizid-Präventionstag, zu dem verschiedene öffentlichkeitswirksame Aktionen das diesbezügliche Problembewusstsein unterstreichen sollen. 2006 wurden mit SUPRE (Suicide Prevention) klare Präventionsstrategien veröffentlicht (www. who.int/ mental_health/ prevention/ suicide/ suicideprevent/ en/ ): 1. Restriktion von Suizidmitteln 2. Behandlung von psychisch Kranken 3. Betreuung nach Suizidversuchen 4. Verantwortungsbewusste Berichterstattung 5. Spezifische Schulung von Gesundheitspersonal In der Steiermark wurde 2002 von der Landesregierung die Implementierung eines Konzeptes zur Suizidprävention beschlossen, 2009 wurde über einen Landtagsbeschluss zur Umsetzung aufgefordert, Anfang 2011 schließlich GO ON als Pilotprojekt zur Suizidprävention gestartet. Die Aufgabenstellung von GO ON Der Themenbereich Suizidalität ist nach wie vor mit einem Tabu belegt, um das sich viele Mythen ranken, die die Prävention behindern. Ein Bemühen um Entstigmatisierung des Themas und gleichzeitig Sensibilisierung für mehr Offenheit im Umgang damit bleiben somit weiterhin wichtig. Kernziele des Projekts sind die Vermittlung von Informationen über suizidrelevante Risikofaktoren, von Kenntnissen und Strategien zur Krisenbewältigung, das Aufdecken von Vorurteilen und Falschinformationen zur Suizidalität mit Aufzeigen konkreter Hilfsmöglichkeiten, die Schulung verschiedener helfender Berufsgruppen im Umgang mit Betroffenen sowie die Schaffung einer Kompetenzstruktur. Alle Ebenen der Prävention, wie von Reimer beschrieben, sollen hierbei Berücksichtigung finden: ➤ Primärprävention: Bedingungen schaffen, um erstmalige Suizidversuche zu verhindern, ➤ Sekundärprävention: optimale Betreuung von Menschen in Problemsituationen, ➤ Tertiärprävention: Therapie nach erfolgtem Suizidversuch und Vorbeugemaßnahmen vor weiteren suizidalen Handlungen. Ätiologie der Suizide insgesamt Die Suizidraten der unterschiedlichen Länder geben immer auch einen Hinweis auf den jeweiligen psychischen Gesundheitszustand der Bevölkerung. Für die Entscheidung, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, gibt es in der Regel nie einen einzigen Grund, sondern ein Zusammenwirken vieler Ursachen. Häufig erfolgen Suizide in persönlichen krisenhaften Lebensphasen und in Zusammenhang mit Depression, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Arbeitslosigkeit und schlechten sozioökonomischen Bedingungen. Der Soziologe Carlos Watzka führte im Auftrag des Gesundheitsressorts des Landes Steiermark die sozialwissenschaftliche Studie „Suizide in der Steiermark 1995 - 2004. Eine quantitative Untersuchung zu den biopsychosozialen Faktoren der im Österreich-Vergleich erhöhten Suizidraten des Landes Steiermark“ durch. Als ungünstige Faktoren in der Steiermark wurden folgende Cluster benannt: ➤ hoher Anteil an Waldflächen, ➤ hoher Anteil an Land- und ForstwirtInnen, ArbeiterInnen, ➤ geringe Zahl an ImmigrantInnen, ➤ niedriger Bildungsstatus, ➤ niedriges Durchschnittseinkommen, ➤ hohe Arbeitslosigkeit, ➤ geringe Wohnfläche, 415 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention ➤ ungünstige Bevölkerungsentwicklung, ➤ geringe Verfügbarkeit von psychosozialen Diensten, PsychotherapeutInnen, PsychiaterInnen und erreichbaren stationärpsychiatrischen Einrichtungen. Eine Follow-up Studie wurde vom Land bereits in Auftrag gegeben. Suizide bei Jugendlichen 2009 sorgte ein OECD-Bericht (Doing better for children) mit der Aussage, dass Österreich nach Neuseeland, Finnland, Norwegen, Kanada und Irland die höchsten Suizidraten unter den 15bis 19-Jährigen zeige, für Aufregung. Allerdings wurde auch darauf hingewiesen, dass bei der Interpretation der Unterschiede zwischen den Ländern Vorsicht geboten sei, wegen zum Teil unterschiedlicher Berichterstattungskriterien. Der OECD-Bericht führte zu einer Stellungnahme der Wiener Werkstätte für Suizidforschung mit Hinweis darauf, dass die Suizidraten generell sinken, so auch bei den Jugendlichen. Tatsächlich erfolgten 2011 in Österreich in der Altersgruppe der 5bis 15-Jährigen vier Suizide, 90 weitere bei den 15bis 25-Jährigen (19 Jugendliche in der Steiermark). Bei männlichen Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren ist Suizid die zweithäufigste Todesursache nach Unfällen. Wie auch bei den Erwachsenen ist die Geschlechterdifferenz mit einer etwa dreifach höheren Betroffenheit der Männer gegenüber den Frauen im zeitlichen Verlauf stabil. Die offiziellen Suizidzahlen sind zwar rückläufig, parallel dazu ist jedoch ein Anstieg an Toten durch harte Drogen und Verkehrsunfälle zu verzeichnen, wobei Schätzungen von mindestens 20 % Suiziden ausgehen. Während der Anteil der jüngeren Bevölkerung an Suiziden abnimmt, zeigen Suizidversuche eine steigende Tendenz. Ätiologie von Suizid bei Jugendlichen Die Ursachen sind meist in der frühen Kindheit der Betroffenen zu suchen: Zurückset- Absolute Anzahl Suizide im Alter von 0 - 19 60 50 40 30 20 10 0 2010 2009 2008 2007 2006 2005 0 - 9 Jahre 10 - 14 Jahre 15 - 19 Jahre insgesamt Jahr Kinder- und Jugendsuizide Österreich 2005 - 2010 Abb. 2: Kinder- und Jugendsuizide Österreich 2005 - 2010. www.suizidforschung.at 416 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention zung, Vernachlässigung, Misstrauen, ständige Kritik, zu hohe Leistungserwartungen, ein angstförderndes Erziehungsklima, Traumatisierungen, Gewalt, Missbrauch. Die familiäre Situation ist oft durch Broken-home-Situationen, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder psychische Erkrankungen der Eltern gekennzeichnet. Als Konsequenz daraus leiden die Kinder und Jugendlichen an geringem Selbstwert, mangelndem Selbstvertrauen, fühlen sich alleine und verlassen, haben Versagensängste und zu hohe Erwartungen an sich selbst. Hoffnungslosigkeit und eine feindselige Haltung der Umgebung gegenüber machen es schwer, Probleme auf konstruktive Art zu lösen und krisenhafte Situationen als Wendepunkte hin zu einer positiven Neuorientierung zu nutzen. Das Gefühl der permanenten Niederlage verunmöglicht oft den Blick auf die Alternative, auf einen Rettungsanker. Besonders schwierig wird die Situation für Kinder und Jugendliche, wenn sie in Familien aufwachsen, in denen Suizidversuche oder Selbsttötungen als mögliche Lösungswege „vorgelebt“ wurden. Oder wenn Kontakte mit anderen suizidalen Jugendlichen eigene suizidale Tendenzen verstärken. Die Zugehörigkeit zu einer Peergroup hat große Bedeutung und erleichtert die Suche nach Grenzerfahrungen, um aus Alltagsroutine und Langeweile auszusteigen. Risikoreiches Autofahren unter Alkoholeinfluss, die Ausübung hochriskanter Hobbys oder die Selbstvernachlässigung etwa durch Nichteinnahme notwendiger Medikamente bei chronischen Erkrankungen sind als latente Suizidalität zu verstehen. Und häufig auch als misslungener Bewältigungsversuch, um mit Ängsten und Frustrationen umzugehen. Auslöser für Suizidversuche sind meist aktuelle Anlässe wie Konflikte mit den Eltern oder im Freundeskreis, Probleme in der Schule, am Arbeitsplatz, mit Drogen, Liebeskummer. In den seltensten Fällen möchten Kinder und Jugendliche aber tatsächlich sterben. Vielmehr steht der Wunsch nach Ruhe oder Unterbrechung der als unerträglich empfundenen Situation im Vordergrund - und damit ein Appell zur Hilfe. „Ich wollte eigentlich nicht tot sein, nur meine Ruhe haben, den Druck und alle Probleme los sein. Ich will eigentlich leben, aber so wie jetzt kann ich nicht mehr.“ Früherkennung und Prävention Erwin Ringel hat bereits 1953 in seinem Buch „Der Selbstmord“ das präsuizidale Syndrom definiert und damit einen bahnbrechenden Weg in der Suizidologie beschritten. Über einen dreistufigen Prozess (Einengung auf verschiedenen Ebenen - gehemmte und gegen die eigene Person gewandte Aggression - Entwicklung von Suizidgedanken) wird Suizid als trauriger Endpunkt einer längeren psychopathologischen Entwicklung begreifbar. Ein weiterer österreichischer Psychiater, Walter Pöldinger, hat schließlich 1968 diese Definition mit einer weiteren dreistufigen Gliederung um praxisrelevante Aspekte der suizidalen Entwicklung bereichert: ➤ Erwägung: Suizid wird als Option ins Auge gefasst, begleitet von Aggressionshemmung und sozialer Isolierung, ➤ Abwägung: Ambivalenzphase, direkte Suizidankündigung als Hilferuf in 80 % der Fälle, ➤ Entschluss: Vorbereitungshandlungen werden getroffen, „Ruhe vor dem Sturm“. Die Kenntnis dieses phasenhaften Ablaufs ist wesentlich zur Unterstützung von suizidal eingeengten Menschen. Durch den Umstand, dass 80 % der Menschen ihren Suizid in direkter oder indirekter Form vorankündigen, geben sie ihrer Umwelt die Chance, ihnen zu helfen. 417 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention Daneben sind Warnzeichen auf diesem Weg die Symptome einer Depression mit Gefühlsschwankungen und Teilnahmslosigkeit, verändertem Sozialverhalten, äußerliche Veränderungen. Ebenso häufiges Schwänzen oder Verweigern des Schulbesuchs, Leistungsabfall, Weglaufen von zu Hause, die Klärung belasteter Beziehungen, das Verschenken wesentlicher persönlicher Dinge. Wissen hilft: das Schulprojekt von GO ON Hier setzt auch das Schulprojekt von GO ON „Wissen hilft - neue Wege finden“ an. Angeboten werden derzeit entsprechende Workshops an Pflichtschulen, Allgemeinbildenden Höheren Schulen und Berufsförderungsinstituten speziell für SchülerInnen, bei Bedarf auch für LehrerInnen und Eltern. Ziel ist, in Form eines„Erste-Hilfe-Kurses für psychische Krisensituationen“ über die Vermittlung von Informationen die Eigenkompetenz der Jugendlichen zu stärken: Wissen zu vermitteln, Vorurteile abzubauen, Alarmzeichen und Risikofaktoren bei sich und anderen zu erkennen, Möglichkeiten der professionellen Hilfe in Anspruch zu nehmen, eigene positive Ressourcen zu nutzen und Perspektiven zur Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten in Krisensituationen aufzuzeigen. Die Bausteine des Kurses lassen sich in einem Überblick folgendermaßen fassen: ➤ Wissen - Vorurteile abbauen, Thema enttabuisieren, ➤ Erkennen - jeder kann in eine Krisensituation gelangen, ➤ Verstehen - zuhören kann jeder, darüber reden ist entlastend, ➤ Nachdenken - über Möglichkeiten der professionellen Hilfe, Ansprechpersonen, ➤ Handeln - Stütze sein, Wege bahnen helfen. In Gruppenarbeiten werden Mythen thematisiert, und ihnen werden reale Gegebenheiten entgegengesetzt: ➤ „Wer über Suizid nachdenkt, ist verrückt.“ - Gedanken über das Leben und den Tod sind normal. ➤ „Wer vom Suizid spricht, tut es nicht.“ - 80 % der Menschen, die einen Suizid begehen, kündigen diesen vorher an. ➤ „Durch das Ansprechen von Suizidgedanken bringe ich den anderen erst auf die Idee, sich umzubringen.“ - Ein offenes Ansprechen wirkt entlastend. Niemand wird erst durch ein Gespräch auf die Idee gebracht. ➤ „Wer sich wirklich umbringen will, ist nicht aufzuhalten.“ - Die meisten Suizide erfolgen im Rahmen von Krisen. Professionelle Krisenbewältigung kann Suizid verhindern. ➤ „Ein Suizidversuch ist nur Erpressung.“ - Suizidversuche sind Hinweise auf die Not der Betroffenen. Professionelle Hilfe wirkt für die betroffene Person und ihre Umwelt entlastend. In Kleingruppen wird den Fragen nachgegangen: ➤ Wer und was haben mir in Krisenzeiten geholfen? ➤ Welche Fähigkeit habe ich aus dieser Zeit gewonnen? ➤ Bei wem habe ich mir Hilfe geholt bzw. wohin würde ich mich wenden? ➤ Was macht mein Leben lebenswert? ➤ Was hat mein Leben früher lebenswert gemacht? In Extremsituationen, wenn Suizidankündigungen im Umfeld erfolgen, können auch Jugendliche ihre menschliche Kompetenz einsetzen - was kann man tun? ➤ offenes Ansprechen der Probleme, ➤ nach Suizidgedanken fragen und mit dem/ der Betroffenen darüber sprechen, 418 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention ➤ die Betroffenen ernst nehmen, zuhören, sie als Person wertschätzen, ➤ Besprechen von Hilfsmöglichkeiten, ➤ Miteinbeziehen von Menschen, denen man vertraut (z. B. Eltern, LehrerInnen, Geschwister, FreundInnen), ➤ professionelle Hilfe holen! Bereits bisher zeigte sich in der Arbeit mit drei unterschiedlichen Schultypen, dass es sehr viele Wege braucht, um der Vielfalt unterschiedlicher Bedürfnisse gerecht zu werden. Die Sprache muss jeweils an das Niveau der Altersgruppe und die Aufnahmefähigkeit der Gruppe angepasst werden, ein sensibles Vorgehen zum Thema ist nötig und Vorerfahrungen müssen abgefragt werden. Die Vorerfassung spezieller Bedürfnisse der Jugendlichen über die Bezugspersonen in der Schule erfordert flexible Methodenvielfalt bei den Workshops. Suizidprävention bedeutet, Möglichkeiten für Kommunikation anzubieten. Suizidgedanken sind in der Regel Ausdruck schwerwiegender Konflikte und Beziehungsprobleme. Suizid muss enttabuisiert und entheroisiert werden, damit Betroffene nicht mit dem Gefühl „ich bin mit meinem Problem allein“ zurückbleiben. Wesentlich ist, Jugendlichen das Gefühl zu vermitteln, dass sie gebraucht werden und dass sie wichtig sind. Dabei sind stabile emotionale Beziehungen zu Erwachsenen wichtig, die als soziale Vorbilder dienen und zeigen, wie Probleme konstruktiv gelöst werden können. In einem suizidprophylaktischen Erziehungsklima können Eltern und wesentliche Bezugspersonen vermitteln, dass Probleme und Krisen zum Lebensalltag gehören. Das Wahrnehmen und Ansprechen von Gefühlen erleichtert die Schritte zur Autonomie wie zur Unterstützung. Evaluationsfragebögen zeigten die positiven Auswirkungen der Workshops auf die Jugendlichen. So gaben 67 % von ihnen an, von der Veranstaltung sehr viel bzw. viel profitiert zu haben, und 88 % kennen nun Einrichtungen, an die sie sich im Notfall wenden können. Vernetzung Suizidprävention für Kinder und Jugendliche ist eingebettet in ein Gesamtkonzept. In enger Kooperation mit dem Kriseninterventionszentrum Wien werden seit 2011 spezielle Fortbildungscurricula zur Krisenintervention und Suizidprävention für MitarbeiterInnen der psychosozialen Dienste in der Steiermark durchgeführt. Ein zweitägiges Basismodul und ein viertägiges Fortgeschrittenenmodul beinhalten alle für das Betreuungssetting wesentlichen Themen, um die Kompetenz im Umgang mit Krisen noch weiter zu erhöhen. Vernetzung und Kooperation mit allen im psychosozialen und suizidpräventiven Bereich tätigen Initiativen und Institutionen sind wesentliche Aufgabenstellungen. Relevante Vernetzungen auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene werden neu aufgebaut bzw. verstärkt, um der Nachhaltigkeit und der Nutzung von Synergieeffekten zu dienen. Folgende Akteure können benannt werden (vgl. Abb. 4): PJF - Psychiatrischer Jour ruhig bleiben zuhören nachfragen professionelle Hilfe holen Abb. 3: Diagramm zu „Wissen hilft“. www.suizidpraevention-stmk.at 419 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention fixe, KIT - Kriseninterventionsteams, ÖRK - Österreichisches Rotes Kreuz, ÖGS - Österreichische Gesellschaft für Suizidprävention, SUPRA - Suizidprävention Austria, DGS - Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention, EAAD - European Alliance against Depression, IASP - International Association for Suicide Prevention, Verein verwaister Eltern, Telefonseelsorge, WEIL, psychiatrische Kliniken, styria vitalis, pro humanis, Sicherheitsexekutive, Heerespsychologie, Interuniversity College for Health and Development, Frauengesundheitszentrum, Männerberatung, Schulpsychologie, Apothekerkammer. So entwickelte sich auch eine Intensivierung der Kooperation mit der Sicherheitsexekutive. Über Neugestaltung einer Fortbildungsreihe für leitende Einheiten und Personal im Arbeitsfeld der Polizei wird das Wissen im Umgang mit Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen und den Problemstellungen, die sich daraus ergeben können, trainiert - zur Prävention von Eskalationen und zur Stärkung der Belastbarkeit. Darüber hinaus soll die eintägige Fortbildung die Zusammenarbeit mit den aufnehmenden Kliniken verbessern und so vielen BeamtInnen wie möglich zur Verfügung gestellt werden. Schulung und Kooperation Zur kontinuierlichen Tätigkeit im Projekt gehören Vorträge für die Bevölkerung (auch Pensionistenverein, Seniorenbund, Sportverbände, Gemeindeverbände, Pfarren etc.), Multiplikatorenschulungen (Arbeitsmarktservice, Kriseninterventionsteams, Hauskrankenpflege, PsychotherapeutInnen, PsychologInnen, pro humanis etc.), ein Psychiatrischer Jour fixe als Fortbildungsreihe zu sozialpsychiatrischen Themen und psychiatrischen Störungsbildern sowie konsequente Öffentlichkeitsarbeit. In Umsetzungsplanung befindet sich die Erarbeitung eines Entlassungsprocedere mit den Krankenhäusern zur lückenlosen Weiterversorgung von Menschen nach Suizidversuchen. Die unmittelbare Bereitstellung von effektiver Unterstützung und Therapiemöglichkeiten ist gerade in der hoch sensiblen Phase nach der Ent- Abb. 4: Diagramm zu Suizidprävention Steiermark. www.suizidpraevention-stmk.at 420 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention lassung aus stationärer Betreuung ein wesentlicher suizidpräventiver Faktor. Ein großer Projektschwerpunkt widmet sich der Medienschulung zur Differenzierung suizidpräventiver wie suizidfördernder Berichterstattung. Workshops mit namhaften ReferentInnen des Kriseninterventionszentrums Wien, die auch die neu überarbeiteten Medienrichtlinien präsentierten, dienten der Information von MedienvertreterInnen sowie wesentlichen steirischen MultiplikatorInnen. Eine Ärzteschulung in den Projektregionen hatte den Hintergrund, dass die Hausarztpraxis häufig die erste Anlaufstelle für Menschen in einer psychischen Notsituation ist - bei Depression, nach Verlusten durch Tod oder Trennung oder bei einschneidenden Veränderungen der sozialen Situation. Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen vor einem Suizid in bis zu 70 % der Fälle HausärztInnen aufgesucht haben, womit AllgemeinmedizinerInnen eine wichtige Rolle sowohl bei der Früherkennung als auch bei der Intervention einer suizidalen Entwicklung zukommt. Als SchnittstellenpartnerInnen sind natürlich auch FachärztInnen für Psychiatrie/ Neurologie unentbehrlich. Ein alljährlicher Runder Tisch gibt ExpertInnen zur Suizidprävention aus der ganzen Steiermark die Gelegenheit zum Austausch und zur gemeinsamen Arbeitsplanung. Eine Anregung aus diesem Kreis führte zu einer engen Kooperation mit dem Österreichischen Roten Kreuz: Suizidpräventive Informationen sollen in Zusammenhang mit den Erste-Hilfe-Kursen im Bewusstsein der Allgemeinbevölkerung verankert werden. Erste Schritte in dieser Richtung wurden nun unternommen und sollen bis Ende des Jahres weiter entwickelt und umgesetzt werden. Zum Welttag für Suizidprävention, dem 10. September, soll eine gemeinsame Aktion mehrerer Interessengruppen zur öffentlichen Bewusstmachung des Themas beitragen. Zugleich wurde über die Ausdehnung des Teilnehmerkreises des Runden Tisches klar, dass im Bereich der Suizidprävention für Kinder und Jugendliche verschiedenste Initiativen tätig sind, deren Kompetenzen gebündelt werden sollten, um Redundanzen zu vermeiden. Im Lauf des Jahres wird eine diesbezügliche Arbeitsgruppe ihre Tätigkeit aufnehmen. Erfreulich ist, dass in einer Nationalratssitzung im Juli 2011 ein Entschließungsantrag zur Suizidprävention angenommen wurde. Ein nationaler Suizidpräventionsplan (SUPRA) unter der Ägide des Bundesministeriums für Gesundheit und in Zusammenarbeit mit pro mente austria sowie mit wesentlichen übergeordneten österreichischen Initiativen soll nun rasch umgesetzt werden. Fazit Es ist noch ein langer Weg, und es sind viele gesamtgesellschaftliche Probleme, die im Kernthema Suizid kulminieren. Umso mehr braucht es das Zusammengreifen aller, um Veränderung zu bewirken. Mit dem Suizidpräventionsprojekt GO ON wurde ein politisches und gesellschaftliches Signal gesetzt: Wege aus der Krise - Wissen hilft! Das Leben ist es wert! Dr. Ulrike Schrittwieser Leitung Psychosozialer Dienst Hartberg Gesellschaft zur Förderung seelischer Gesundheit Rotkreuzplatz 1/ 1 A-8230 Hartberg www.gfsg.at 421 uj 10 | 2012 Suizidgefährdung und -prävention Literatur Kapusta, N./ Niederkrotenthaler, T./ Sonneck, G., 2009: Stellungnahme zu Suiziden von Kindern und Jugendlichen in Österreich. www.suizidforschung.at/ statki ju.pdf, 22. 8. 2012 Kapusta, N., 2011: Aktuelle Daten und Fakten zur Zahl der Suizide in Österreich. www.suizidforschung.at/ statistik_suizide_oesterreich.pdf, 27. 7. 2012, 20 Seiten OECD-Bericht, 2009: Doing better for children. www. oecd.org/ els/ social/ childwellbeing, 27. 7. 2012, 121 Seiten Pöldinger, W., 1968: Die Abschätzung der Suizidalität. Eine medizinisch-psychologische und medizinischsoziologische Studie. Bern/ Stuttgart/ Wien Reimer, C., 1986: Therapie und Prävention der Suizidalität. In: Kisker, K. P. u. a. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart 2. Heidelberg/ Berlin/ New York Ringel, E., 1953: Der Selbstmord. Abschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung. Wien/ Düsseldorf Sonneck, G., 2000: Krisenintervention und Suizidverhütung. Wien Sonneck, G./ Niederkrotenthaler, T., 2008: Zum Österreichischen Suizidpräventionsplan. Focus Suizidalität. www.suizidforschung.at/ suizidpraeventionsplan.pdf Torberg, F., 1973: Der Schüler Gerber hat absolviert. München Watzka, C., 2008: Sozialstruktur und Suizid in Österreich. Ergebnisse einer epidemiologischen Studie für das Land Steiermark. Wiesbaden Wichtige Internetlinks zum Thema ➤ www.plattformpsyche.at ➤ www.buendnis-depression.at ➤ www.suizidpraevention-stmk.at
