eJournals unsere jugend 64/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Verlässliche Auffangstrukturen durch Kooperation

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Susanne Steininger
Die Zahlen sind erschreckend. Bundesweit verweigern rund 300.000 SchülerInnen dauerhaft den Schulunterricht. Nicht ab und zu mal für ein paar Stunden, sondern über Wochen und Monate. Für rund zehn Prozent aller SchülerInnen endet das Schulleben besonders hart: Sie verlassen die Schule ohne jeglichen Abschluss. Ausbildung und ein sicherer Job sind damit fast ausgeschlossen. Es droht eine „Karriere“ mit Hartz IV.
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494 unsere jugend, 64. Jg., S. 494 - 497 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art45d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Verlässliche Auffangstrukturen durch Kooperation Die Zahlen sind erschreckend. Bundesweit verweigern rund 300.000 SchülerInnen dauerhaft den Schulunterricht. Nicht ab und zu mal für ein paar Stunden, sondern über Wochen und Monate. Für rund zehn Prozent aller SchülerInnen endet das Schulleben besonders hart: Sie verlassen die Schule ohne jeglichen Abschluss. Ausbildung und ein sicherer Job sind damit fast ausgeschlossen. Es droht eine „Karriere“ mit Hartz IV. von Susanne Steininger Jg. 1974; Dipl.-Sozialarbeiterin, Bereichsleitung Jugendsozialarbeit/ Jugendberufshilfe bei MaßArbeit kAöR Ein Ziel der „MaßArbeit kAöR“ des Landkreises Osnabrück ist es deshalb, verlässliche Auffangstrukturen für die Jugendlichen bereitzuhalten, die zeitnah und nachhaltig dem Problem Schulverweigerung begegnen können. Im Landkreis Osnabrück befassen sich schwerpunktmäßig folgende Maßnahmen und Projekte mit dem Thema Schulverweigerung: Koordination Fachbereich Schulverweigerung Aufgabe der Koordinierungsstelle ist die Vernetzung der Akteure im Bereich Schulverweigerung sowie die fachliche Begleitung und Konzeptionierung der bestehenden Angebote im Landkreis Osnabrück. Hierzu gehören im Besonderen die Weiterentwicklung der Handreichung zum Umgang mit Schulverweigerung in der Schule und die Erhebung von Zahlen und Daten zur Schulpflichtverletzung. Fachberatung Schulverweigerung Die Fachberatung Schulverweigerung ist ein Angebot für schulverweigernde Jugendliche (ab 14 Jahren), für deren Eltern und für die Schulen. Frühzeitig werden eine Beratung sowie die Vermittlung individueller Hilfen mit dem Ziel der Reintegration in Schule und/ oder zur Vermeidung eines Schulabbruches initiiert. Die Fachberatungsstelle koordiniert die einzelfallbezogenen individuellen Hilfen und steuert den Prozess der Förderplanung. Kooperationsprojekte Im Landkreis Osnabrück stehen derzeit insgesamt 83 Plätze für SchulverweigererInnen zur Verfügung. Die Fachberatung Schulverweigerung koordiniert die Aufnahme der Jugendli- 495 uj 11+12 | 2012 Jugendhilfe und Ganztagsschule chen in die verschiedenen Projekte. Vorgehalten wird das Angebot AUSZEIT, welches sich an hartnäckige SchulverweigererInnen (mindestens 30 Fehltage im Schuljahr) im Sekundarbereich I richtet. Ein innerschulisches Angebot ist das Projekt Tandem - die zweite Chance. Dieses Bundesprogramm (www.zweitechance.eu) richtet sich an schulmüde und schulverweigernde Jugendliche, die durch ihre aktive oder passive Verweigerungshaltung den Schulabschluss sichtbar gefährden. Im Sekundarbereich II greifen die Angebote SiJu (Schulpflichterfüllung in Jugendwerkstätten) und Auf Kurs. Zielgruppe sind schulverweigernde Jugendliche mit besonderem Förderbedarf. Diese können ihre Berufsschulpflicht in einer der fünf Jugendwerkstätten erfüllen. Das Lückenschlussprojekt Deine Chance des Bundesprogrammes „JUGEND STÄRKEN - Aktiv in der Region“ bietet sozialpädagogische Begleitung und Unterstützung für jugendliche SchulverweigererInnen beim Ableisten der Sozialstunden. Eine „Auszeit“ bei Schulmüdigkeit Exemplarisch wird hier im Weiteren das Projekt Auszeit vorgestellt. Auszeit arbeitet seit neun Jahren mit schulmüden Jugendlichen am Standort „Die Brücke“ in Bramsche. Es ist ein freiwilliges Angebot zur individuellen Förderung von schulmüden Jugendlichen, mit dem Ziel, neue Perspektiven zu erarbeiten. Voraussetzung für die Teilnahme sind das Bestehen der Schulpflicht in der Sekundarstufe I, massive Schulpflichtverletzungen sowie ein Mindestalter von 13 Jahren. Primäres Ziel ist es, die Jugendlichen sozial und individuell zu stabilisieren und ihnen Hilfe anzubieten, Resignation zu überwinden und Selbstwertgefühl sowie Eigeninitiative zu entwickeln. Mögliche Perspektiven sind die Rückkehr zur Herkunftsschule, der Erwerb des Hauptschulabschlusses, der Übergang in eine Berufsausbildung oder der Besuch einer weiterführenden Schule. Der Zugang von Jugendlichen zu Auszeit wird von der Fachberatung Schulverweigerung in enger Kooperation mit den Jugendwerkstätten, mit den betroffenen Schulen (Lehrkraft und/ oder SchulsozialarbeiterIn) und mit der Schulbehörde koordiniert. Zunächst wird geklärt, ob ein Verbleib des betreffenden Jugendlichen in der derzeitigen schulischen Umgebung möglich ist. Erst dann erfolgen weitere Schritte: ein einwöchiges Praktikum in Auszeit zur Erprobung sowie ein Abschlussgespräch zur Klärung der Frage, ob das Projekt das richtige Angebot ist. Drei Angebotsbereiche der„Auszeit“ Auszeit umfasst drei miteinander eng verzahnte Bausteine: ein lernpädagogisches, ein werkpädagogisches und ein sozialpädagogisches Angebot. Das lernpädagogische Angebot beinhaltet täglichen Unterricht, der vor allem für jeden einzelnen Jugendlichen entsprechend seiner persönlichen schulischen Voraussetzungen Lernangebote macht (Mathematik, Rechtschreiben, Naturwissenschaft, Bewerbung etc.) und die Unterrichtszeiten individuell staffelt. Die Jugendlichen können einen Hauptschulabschluss erwerben, wenn es im Rahmen der gesamten Förderplanung sinnvoll erscheint. Im Vordergrund steht jedoch ein Unterricht, der da ansetzt, wo der Jugendliche steht. Das werkpädagogische Angebot beinhaltet praktisches Arbeiten in verschiedenen Bereichen. Über gezielte Projektarbeiten wird den Jugendlichen die Möglichkeit gegeben, wieder Interesse am Lernen zu entwickeln, eigene Fähigkeiten zu erkennen und darauf aufzubauen sowie ihre bisherige Resignation zu überwinden. So können sie ihr Selbstwertgefühl steigern und Eigeninitiative entwickeln. Als soziale Komponente bietet der werkpädagogische Bereich immer wieder die Möglichkeit, das Arbeiten in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. 496 uj 11+12 | 2012 Jugendhilfe und Ganztagsschule Das sozialpädagogische Angebot umfasst alle Bereiche der erforderlichen Krisenintervention. Diese spielt für die Jugendlichen eine ganz zentrale Rolle, kommen sie doch alle mehr oder weniger aus einem familiären und persönlichen Kontext, der intensive sozialpädagogische Begleitung erforderlich macht. Ein weiterer wesentlicher Baustein in der sozialpädagogischen Arbeit ist die Erlebnispädagogik und der kunsttherapeutische Unterricht. Ein strukturierter Tagesablauf mit festen wiederkehrenden Eckpunkten gibt Sicherheit und Ruhe für die SchülerInnen. Jeder Tag beginnt mit einer gemeinsamen Frühbesprechung. Hier werden Vorkommnisse aus dem privaten Umfeld, das aktuelle Tagesgeschehen sowie anstehende Aufgaben thematisiert. Kennzeichnend ist weiterhin eine individuelle Förderplanung für jede/ n einzelne/ n SchülerIn. Dazu dient ein zweibis dreimal im Schuljahr stattfindendes Gespräch, in dem die aktuelle Situation der TeilnehmerInnen reflektiert sowie die nächsten Förderziele formuliert werden. An dem Gespräch nehmen alle am Entwicklungsprozess beteiligten Personen wie MentorInnen, Eltern, LehrerInnen, die Fachberatung Schulverweigerung sowie der/ die TeilnehmerIn selbst teil. Das pädagogische Team wird unterstützt durch einen Kinder- und Jugendpsychiater, mit dem regelmäßige Fallbesprechungen durchgeführt werden, sowie durch Supervision. MaßArbeit - jeder ist in seiner Lebenssituation angesprochen Für die Fachberatung Schulverweigerung der MaßArbeit ist vor allem das individuelle Zugehen auf die Jugendlichen entscheidend. Auch wenn alle Jugendlichen im Projekt die Schulmüdigkeit verbindet, so wird doch jeder in seiner einzigartigen Lebenssituation angesprochen. Und die biografischen Hintergründe zeigen, dass die Jugendlichen in Auszeit fast ausnahmslos aus persönlich und sozial schwierigen Lebensverhältnissen stammen, die viel Einfühlungsvermögen und Zugewandtheit vom interdisziplinären BetreuerInnen-Team erfordern. Wesentlich ist darüber hinaus die gute Vernetzung mit anderen Hilfesystemen. Das Fazit ist eindeutig: Im Projekt „Auszeit“ sind es für viele der Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten und besonders schwierigem biografischem Hintergrund oft die kleinen Entwicklungsschritte, die als Erfolg zu werten sind. Eine Studie zu Schulabsentismus: Hilfe im schulischen wie außerschulischen Bereich Im Frühjahr 2010 wurde durch die MaßArbeit eine Studie zum Thema Schulabsentismus im Landkreis Osnabrück bei der Universität Osnabrück - Institut für Erziehungswissenschaften - in Auftrag gegeben. Ziel war es, die bisherigen Ansätze zu reflektieren und neue Handlungsansätze zu entwickeln. Die ersten, noch unveröffentlichten Ergebnisse von Overman/ List verdeutlichen, dass die Schulen sehr unterschiedlich mit dem gesetzlich vorgegebenen Ermessensspielraum bei Schulpflichtverletzung umgehen. Es gibt keine klare Regelung, welches Verhalten im Hinblick auf Schulverweigerung als „normal“ oder als „abweichend“ bezeichnet werden kann. Hierdurch entsteht für Lehrkräfte eine Unsicherheit. Die Interviews mit schulverweigernden Jugendlichen und deren Eltern ergaben, dass als hilfreich empfundene Unterstützungsmaßnahmen sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bereich liegen. Im schulischen Bereich wurden kleine Lerngruppen sowie die Maßnahmen zur Teambildung und zum sozialen Lernen hervorgehoben. Beides hat eine große Bedeutung für die Entwicklung einer tragfähigen und vertrauensvollen 497 uj 11+12 | 2012 Jugendhilfe und Ganztagsschule Lehrer-Schüler-Beziehung, die laut Overmann/ List Grundlage für gelingendes Lernen ist. Die interviewten SchülerInnen erlebten außerdem die Möglichkeit zur praktischen Arbeit in außerschulischen Einrichtungen als sehr positiv. Es wurde deutlich, dass die Bereitschaft zum Lernen und Arbeiten höher ist, wenn sich die SchülerInnen durch einen hohen Praxisanteil als kompetent, d. h. selbstwirksam erleben können. Im außerschulischen Bereich traten durch die Interviews zwei Aspekte in den Vordergrund. Sinnvoll und wichtig sind eine frühzeitige pädagogische Betreuung sowie eine stärkere Einbeziehung der Eltern. Im Bereich Elternarbeit sollte laut Overmann und List der Fokus auf einer Stärkung der Erziehungsverantwortung und auf der Aufklärung von Konsequenzen unerlaubten Fehlens liegen. Es wurde deutlich, dass das Kompetenzerleben Auswirkungen auf die Schulnoten hat. Je schlechter die schulischen Leistungen sind, desto weniger Selbstwirksamkeitserfahrungen machen die SchülerInnen. Schlechte Schulnoten wiederum führen zu einem erhöhten Risiko für Schulverweigerung. Häufigste Gründe für das Fehlen in der Schule beziehen sich auf die Atmosphäre und das emotionale Erleben an der Schule sowie auf die familiäre Bindung und den elterlichen Erziehungsstil. Es wurde deutlich, dass Unterstützungsangebote für SchulverweigererInnen in den Bereichen Schule, Familie und Freundeskreis greifen müssen. Innerschulische und außerschulische Angebote werden gleichermaßen benötigt und müssen aufeinander abgestimmt sein. Innerschulisch bedarf es eines abgestimmten Verfahrens, welches die LehrerInnen dabei unterstützt, ihren Ermessensspielraum verantwortungsvoll zu nutzen und frühzeitiges Reagieren ermöglicht. Jede Schule sollte über präventive Konzepte verfügen, die ein positives Schul- und Klassenklima fördern. Sozialpädagogische Angebote müssen die betroffenen Schüler frühzeitig erreichen. Außerschulische Angebote mit der Möglichkeit zum praktischen Lernen sind vorzuhalten, um das Kompetenzerleben zu steigern, und die Intervention bei Schulverweigerung muss die Eltern und die gesamte familiäre Situation in den Blick nehmen. Aus der Studie ergeben sich aus unserer Sicht folgende Handlungsansätze: ➤ Eine zuverlässige Datenerfassung ist Grundvoraussetzung für zielgerichtetes Agieren, um die Transparenz des Bußgeldverfahrens weiter zu verbessern und verlässliche Aussagen zu Zahlen und Daten der Schulverweigerung treffen zu können. ➤ Im Rahmen der Netzwerkarbeit ist eine gemeinsame Handlungsgrundlage wichtig. Eine Handreichung zum Umgang mit Schulverweigerung in Schule und mit außerschulischen PartnerInnen kann dabei eine Grundlage sein. ➤ Eine Senkung der Schulverweigererzahlen kann nur durch institutionsübergreifendes Handeln auf Grundlage einheitlicher, abgestimmter Strategien entstehen. ➤ Frühzeitiges Agieren bei Auftreten von Schulverweigerung kann nur gelingen, wenn unmittelbar bei Auftreten des Verhaltens reagiert wird. Jedem/ jeder SchulverweigererIn sollte umgehend ein Unterstützungsangebot unterbreitet werden, dieses kann innerschulisch oder außerschulisch erfolgen. ➤ Die Stärkung der Familien- und Erziehungskompetenz kann durch die Einbeziehung der Eltern bei der Förderplanarbeit erreicht werden. ➤ Die Vermeidung von weiterer Schulverweigerung sollte durch die gezielte förderplangestützte Einzelfallhilfe und die intensive Elternarbeit vermieden werden. Susanne Steininger MaßArbeit kAöR Am Schölerberg 1 49082 Osnabrück www.massarbeit.de