eJournals unsere jugend 64/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2012.art01d
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2012
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Kleine Kinder in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe

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2012
Martin Kramm
Die Adaption der klassischen Heimerziehung an die emotionalen und sozialen Bedürfnisse kleiner Kinder ist angesichts zunehmender Anfragen durch Jugendämter notwendig, jedoch nicht zum Nulltarif zu haben. Gerade gegenüber den sehr jungen und kleinen Kindern, die womöglich bei uns in den stationären Einrichtungen frühe und prägende Erfahrungen mit dem Leben machen, haben wir eine besonders große Verantwortung.
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2 unsere jugend, 64. Jg., S. 2 - 9 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art01d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kleine Kinder in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe Eine alte neue Herausforderung Die Adaption der klassischen Heimerziehung an die emotionalen und sozialen Bedürfnisse kleiner Kinder ist angesichts zunehmender Anfragen durch Jugendämter notwendig, jedoch nicht zum Nulltarif zu haben. Gerade gegenüber den sehr jungen und kleinen Kindern, die womöglich bei uns in den stationären Einrichtungen frühe und prägende Erfahrungen mit dem Leben machen, haben wir eine besonders große Verantwortung. von Martin Kramm Jg. 1956; Diplom-Sozialarbeiter, Leiter des Bethanien Kinder- und Jugenddorfes Bergisch Gladbach Letzter Ausweg: Stationäre Kinder- und Jugendhilfe? Obwohl die stationären Jugendhilfeeinrichtungen nicht müde werden, durch ihre Fachverbände und Gremien darauf hinzuweisen, dass Heimerziehung nicht stets als letztes Mittel in einer Kette nicht hinreichend erfolgreicher Erziehungshilfemaßnahmen in Betracht gezogen werden darf, sah die alltägliche Jugendamtspraxis aber doch genau so aus. Und in der Mehrzahl der Fälle folgte dies ja auch einer durchaus zutreffenden Logik: Erzieherischer Hilflosigkeit und Überforderung in Familien wurde mit ambulanter Beratung oder sozialpädagogischer Familienhilfe begegnet. Sollten diese ambulanten und konkret vor Ort unterstützenden Hilfen nicht ausreichen, wurden weitere flankierende Hilfen vermittelt, wie z. B. individuelle flexible Erziehungshilfe, Elterntrainingsgruppen oder die Betreuung in einer (heilpädagogischen) Tagesgruppe. Die stationäre Unterbringung des Kindes als die einschneidendste und zunächst kostenintensivste Maßnahme der Hilfen zur Erziehung erfolgte erst am Ende einer Reihe von vorgeschalteten niederschwelligeren Hilfen. Der Ausbau und die zunehmende Flexibilisierung und Individualisierung der ambulanten Hilfen trugen erfreulicherweise dazu bei, dass gerade jungen Familien mit kleineren Kindern in Krisensituationen eine breite Palette von Hilfen im Vorfeld einer stationären Maßnahme angeboten werden konnte. Für sogenannte Multiproblemfamilien war schließlich auch der Wechsel eines oder mehrerer Kinder in Pflegefamilien oder sogenannte „Pflegenester“ eine Möglichkeit, die Unterbringung in normalen Kinder- und Jugendheimen zu vermeiden. Wenn aufgrund der Komplexität der Verhaltensproblematik des Kindes oder zu starker Konkur- 3 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen renzgefühle gegenüber potenziellen Pflegeeltern eine ambulante Betreuung oder In-Pflege- Nahme nicht sinnvoll erschien, gab und gibt es die besonderen Settings von familienanalogen Hilfen in Kinderhäusern oder Kinderdörfern, in denen auch die Betreuung von sehr kleinen Kindern durch die Kontinuität der dort tätigen, in Lebensgemeinschaft mit den Kindern lebenden Bezugspersonen möglich und pädagogisch vertretbar war. Daneben gab und gibt es einige wenige Spezialeinrichtungen, die sich explizit auf die Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern spezialisiert haben, d. h. fachlich und personell ein an den besonderen Bedürfnissen des Kleinkindes orientiertes Angebot machen können (z. B. Salberghaus, Putzbrunn). In den „normalen“ Kinder- und Jugendheimen kamen unabhängig von ihrer je eigenen Professionalisierung oder Spezialisierung Kinder unter sechs, erst recht Kinder unter drei Jahren nur vereinzelt an. Wenn sich auch in dem ein oder anderen Fall stationäre Settings für besonders „schwierige“ bzw. traumatisierte kleine Kinder, insbesondere als Übergangshilfe bis zu einer fachlich gelungenen Vermittlung in ein Pflegeverhältnis, bewährt haben, wurde genau dies von den meisten verantwortungsbewussten EinrichtungsleiterInnen als sinnvolle und positive Entwicklung betrachtet. Schließlich ist es ein wesentlicher Unterschied, ob ich in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung Kindern und Jugendlichen mit einem ohnehin schon breiten Altersspektrum zwischen sieben und achtzehn Jahren einen adäquaten Betreuungsrahmen anbiete oder ob ich mich darüber hinaus auf die speziellen Beziehungs- und Betreuungsbedürfnisse von kleinen Kindern zwischen vier Wochen und sechs Jahren einstellen muss. Der „Kleine-Kinder-Boom“ Die Spatzen pfeifen es inzwischen von den Dächern: Seit einigen Jahren gibt es wieder eine rückläufige Entwicklung. Bereits 2007 hat die Dortmunder Arbeitsstelle„Kinder- und Jugendhilfestatistik“ auf die überproportionale Zunahme der unter Sechsjährigen bei den in 2006 begonnenen Hilfen zur Erziehung hingewiesen. Insbesondere die Zahl der vorläufigen Schutzmaßnahmen (Inobhutnahmen) für Kinder unter sechs Jahren hat sich zwischen 2005 und 2010 nahezu verdoppelt. Noch lang nicht jede Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII führt zu einer stationären Unterbringung, und doch führte diese Entwicklung auch zu einer Zunahme der Anfragen seitens der Jugendämter in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe. Plötzlich waren es nicht mehr die siebenbis zwölfjährigen Kinder oder die in pubertären Krisen aus ihren Familien herausbrechenden Jugendlichen, für die Jugendämter bei den Einrichtungen nachfragten, sondern Kinder oder ganze Geschwistergruppen im Kleinkindbzw. Vorschulalter. Verantwortungsbewusste SozialarbeiterInnen im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) bemühen sich, für diese sehr jungen Kinder Betreuungsformen und -orte zu finden, die der besonders bindungssensiblen Altersphase und den Bedürfnissen dieser Kinder gerecht werden können. Da es - wie gesagt - wenig Spezialeinrichtungen für diese Altersgruppe gibt und fachlich gut aufgestellte Kinderhäuser oder Kinderdörfer auch schnell an ihre Kapazitätsgrenzen gekommen sind, werden seitens der Jugendämter auch zunehmend Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen angefragt, die bislang nicht (mehr) auf die Betreuung dieser Altersgruppe eingestellt und eingerichtet sind. SozialarbeiterInnen in den Jugendämtern berichten unter vorgehaltener Hand darüber, dass sie auf der verzweifelten Suche nach einem geeigneten Betreuungsplatz gerade für die sehr kleinen Kinder, die dringender Hilfe bedürfen, per Mail, per Telefon oder auch persönlich von einer Einrichtung zu anderen ziehen und spätestens bei der fünften Einrichtung das Gefühl haben, die betroffenen Kinder wie auf einem Basar anbieten zu müssen. Auch die FachkollegInnen aus der stationären Jugendhilfe sind keineswegs nur erfreut darüber, dass die Belegung in ihren Einrichtungen boomt, sondern 4 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen betrachten es mit gemischten Gefühlen, eine Anfrage für zwei deutlich entwicklungsverzögerte dreijährige Mädchen oder - wie mir ein Einrichtungsleiter erst kürzlich berichtete - für neugeborene Drillinge zu erhalten, ohne sofort zu wissen, wie man dieser Aufgabe gerecht werden kann. In der Träger-Leiter-Konferenz des Diözesan-Caritasverbandes für das Erzbistum Köln waren die Reaktionen auf diesen „Boom“, der vor einigen Jahren über uns hereinbrach, auch eher verhalten, angesichts der großen Herausforderung, die sich mit der Zunahme von Aufnahmeanfragen so junger Kinder für die Einrichtung ergibt. Ursachen des Anstiegs Doch ein Blick zurück: Was sind die Ursachen dieses plötzlichen Anstiegs, und welche Herausforderungen ergeben sich dadurch für die stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe? Mit dieser Thematik hat sich gerade in jüngster Zeit der „Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen e.V. (BVkE)“, hier insbesondere das Fachforum 3 unter Leitung von Hans-Otto Schlotmann, sehr intensiv beschäftigt und ein beachtenswertes Positionspapier entwickelt. Für die deutliche Zunahme von Unterbringungen kleiner Kinder sind in erster Linie gesellschaftliche, aber in der Folge auch gesetzliche Entwicklungen ursächlich. Die wiederholten Presseberichte über misshandelte oder zu Tode gekommene kleinere Kinder oftmals aus prekären Lebensverhältnissen haben in den vergangenen Jahren teils zu berechtigten, teils zu überzogenen einseitigen Vorwürfen gegenüber den zuständigen Jugendhilfebehörden geführt. Der Gesetzgeber sah sich seinerseits aufgefordert, den Kindesschutz gesetzlich 5 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen mehr abzusichern. Am 1. 10. 2005 trat das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (KICK) in Kraft. In diesem Zusammenhang wurden substanzielle Änderungen des SGB VIII vorgenommen, insbesondere die Konkretisierung des Schutzauftrags des Jugendamtes (§ 8 a SGB VIII). Ausdrücklich vom Gesetzgeber gewünscht, führt der neue § 8 a SGB VIII aber auch zu einer größeren Wachsamkeit in Kindertagesstätten und Schulen. Liegen Hinweise auf eine drohende Kindeswohlgefährdung vor, so muss das Jugendamt diesen nachgehen und bei Bedarf entsprechende Entscheidungen über Hilfeleistungen treffen oder das Familiengericht anrufen. Diese Entwicklungen tragen sicher dazu bei, dass SozialarbeiterInnen des ASD, aber auch ihre Vorgesetzten weniger Risiken eingehen und sich im Zweifelsfall früher als bislang üblich für eine Herausnahme des Kindes aus einer das Kindeswohl gefährdenden Situation in der Familie entscheiden. Die Programme der Bundesregierung zur Verstärkung der frühen Hilfen für Eltern und Kinder („Soziale Frühwarnsysteme“), auch der Appell zu stärkeren Hausbesuchen gerade in Familien mit sehr kleinen Kindern, leisten ebenfalls ihren Beitrag zugunsten einer stärkeren politischen und gesellschaftlichen Sensibilisierung. Der entscheidende Punkt ist aber letztlich die Zunahme von problematischen Lebenssituationen von Familien, in denen sie der notwendigen elterlichen Verantwortung oftmals nicht gerecht werden können. Die Spannung zwischen hoher Mobilität, Flexibilität und Unverbindlichkeit einerseits und der„Lebensaufgabe Kind“ andererseits, die Kontinuität, Stabilität und Sicherheit verlangt, ist eine Herausforderung, der viele Familien nicht mehr gerecht werden können. Familiäre Netzwerke brechen weg, und viele junge Familien verfügen über keine ausreichende Erziehungskompetenz und Bindungsfähigkeit. Nach Angaben der Dortmunder Arbeitsstelle „Kinder und Jugendhilfestatistik“ (AKJ) war die „eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern“ mit 44 % der am häufigsten genannte Grund dafür, dass junge Menschen 2009 in einem Heim unterbracht wurden (vgl. auch Landesjugendamt Westfalen-Lippe 2010, 49). Das traditionelle Familienmodell entwickelt sich zur Ausnahmeerscheinung, Patchworkfamilien bringen neue Herausforderungen mit sich, die Bereitschaft oder Fähigkeit, dauerhafte und verlässliche Bindungen einzugehen, scheint zu sinken. Die Situation des berufstätigen, alleinerziehenden Elternteils ist von einem hohen Belastungsgrad gekennzeichnet; bei Krisen und Konflikten können zusätzliche Ressourcen kaum zur Verfügung gestellt werden. Daneben gibt es gleichzeitig das Phänomen „Kinder kriegen Kinder“ als Ausdruck ihres Wunsches nach Bindung und exklusiver Beziehung. Das Auseinanderklaffen der Lebensverhältnisse, die Verarmung ganzer Stadtviertel und das Leben deutlich unterhalb der Armutsgrenze sind weitere ursächliche Faktoren. Schließlich liegt eine weitere Ursache für den Anstieg der Anfragen für kleine Kinder auch in der fachlichen Überforderung so mancher Pflegefamilie. Zum einen sind die notwendigen fachlichen Erfordernisse an die Auswahl, Begleitung und Beratung von Pflegefamilien in den Kommunen immer noch sehr unterschiedlich umgesetzt, zum anderen steigt die Komplexität der Verhaltensauffälligkeiten auch schon bei recht jungen Kindern und der zugrunde liegenden Familiensysteme. Selbst viele Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie klagen über die Zunahme sehr junger Kinder mit bereits erheblichen Verhaltensauffälligkeiten. In Kombination mit einem schwierigen Familiensystem sind selbst hoch engagierte Pflegeeltern nicht selten überfordert. In der Folge wird für manche Kinder die Unterbringung in einer Pflegefamilie erst gar nicht erwogen, oder man hat den Versuch einer solchen Unterbringung gemacht, der aber in einer überschaubaren Frist gescheitert ist. 6 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen Herausforderungen für die stationäre Jugendhilfe Ein wesentliches Merkmal gelingender Jugendhilfe ist die Bereitschaft und Kompetenz, sich auf sich verändernde Rahmenbedingungen einzustellen. Es kann daher jetzt nicht darum gehen, die Zunahme von kleinen Kindern von neugeboren bis zum Alter von sechs Jahren in stationären Einrichtungen zu begrüßen oder zu bedauern, sondern sich auf dieses neue Faktum einzustellen und die entsprechenden fachlichen, personellen und konzeptionellen Rahmenbedingungen zu schaffen. In den aktuellen Positionspapieren des Bundesverbands katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen e.V. wurden Aussagen getroffen und Standards formuliert, die für alle Einrichtungen Geltung haben, die sich dieser neuen Aufgabe und Herausforderung stellen (müssen). n Die Ergebnisse der Bindungsforschung zeigen, dass eine feste Bezugsperson gerade für kleinere Kinder von enormer Bedeutung ist. Sie befinden sich in einer besonders „bindungssensiblen Phase“. Daher sollten kleine Kinder im Falle einer stationären Unterbringung vorrangig in Einrichtungen Aufnahme finden, deren konzeptionelle und personelle Ausrichtung den besonderen Bedürfnissen von kleinen Kindern Rechnung trägt (z. B. Kinderdorffamilie, Familienwohngruppe oder Kleinstheim). n Kleine Kinder brauchen mehr Zeit, Zuwendung und Aufmerksamkeit für korrigierende Bindungserfahrungen und das Aufbauen von exklusiven Beziehungen. Sinnvollerweise sollte daher die Gruppengröße fünf bis maximal sieben Kinder nicht überschreiten. n Die Betreuung und Pflege von Kleinstkindern ist sehr zeitintensiv: ➤ Kleinkinder brauchen gesunde, abwechslungsreiche und altersgerechte Ernährung, sodass für sie oftmals extra gekocht werden muss. Je nach Alter müssen die Kleinen gefüttert werden oder brauchen zumindest noch viel Unterstützung beim Essen. Außerdem benötigen gerade Säuglinge regelmäßig, auch in der Nacht, Nahrung. ➤ Die Körperpflege und -hygiene ist besonders intensiv, da Kleinkinder gewickelt und gebadet werden müssen und im Verlauf der Sauberkeitserziehung noch häufig einnässen oder einkoten. Diese Situationen stellen nicht nur pflegerisch, sondern auch pädagogisch hochbedeutsame Herausforderungen dar. Dabei geht es z. B. auch um die angemessene Form von Nähe und Distanz z. B. beim Wickeln. ➤ Auch medizinisch ist hier besondere Aufmerksamkeit geboten: Eine entsprechende Zahnhygiene muss gewährleistet sein, nach ärztlicher Absprache muss die Medikamentengabe übernommen werden, und regelmäßige Arztbesuche sind nicht nur im Krankheitsfall, sondern auch zur Einhaltung der U-Vorsorgeuntersuchungen, zum Impfen sowie zu diagnostischen Zwecken notwendig. ➤ In allen alltäglichen Bereichen brauchen Kleinkinder viel Hilfestellung und Unterstützung und permanente Beobachtung und Betreuung. Ihre motorische Entwicklung ist durch Spiel und Bewegung zu fördern, und sie brauchen viel Ansprache für ihre emotionale, soziale und nicht zuletzt ihre Sprachentwicklung. ➤ Sie brauchen individuelle, auch der Witterung entsprechende Kleidung (aus der sie auch schnell wieder herauswachsen) und können sich noch nicht alleine anziehen. ➤ Kleine Kinder benötigen gerade in belasteten Situationen eine vorhersehbare rhythmisierte Tagesstruktur, so muss z. B. die Zu-Bett-Geh-Situation besonders gestaltet werden, z. B. durch das Vorlesen von Gute-Nacht-Geschichten oder das Vorsingen von Einschlafliedern. Zugleich muss in einer Gruppe mit mehreren, z. T. 7 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen auch deutlich älteren Kindern ermöglicht werden, dass die zum Einschlafen nötige Ruhe herrscht und das Kleinkind weder beim Mittagsschlaf noch am frühen Abend durch die anderen Kinder gestört wird. Vor diesem Hintergrund sind für die Betreuung von kleinen Kindern in einem stationären Setting besondere personelle und fachliche Rahmenbedingungen notwendig: Der Personalschlüssel muss an dem erhöhten Betreuungsbedarf kleiner Kinder orientiert werden. Die MitarbeiterInnen müssen entsprechend ausgebildet und kontinuierlich fortgebildet werden. n Die bestehenden familienanalogen Jugendhilfeangebote können offenbar den aktuellen Bedarf bei Weitem nicht decken. Es müssen daher neue Anreize geschaffen werden, die die Bereitschaft bei Fachkräften wecken, sich auf eine solche familienanaloge Erziehung einzulassen. Wichtig sind hierbei die Überschaubarkeit des Engagements entweder im zeitlichen Bereich, z. B. als „Generationenelternschaft“ für etwa acht bis zwölf Jahre (z. B. Caritas Kinderdorf Irschenberg), oder in der Betreuungsdichte, z. B. durch kleine „Familiäre Lebensgemeinschaften“ (z. B. Bethanien Kinderdorf Schwalmtal). n Schon jetzt sind die Jugendämter darauf angewiesen, auch Jugendhilfeeinrichtungen anzufragen, in denen größere Gruppen, Wechseldienst oder auch eine relativ breite Altersstreuung der Kinder an der Tagesordnung sind. Um dennoch den Bedürfnissen der kleinen Kinder gerecht zu werden, müssen kreative Dienstmodelle entwickelt werden. So könnte z. B. ein/ e MitarbeiterIn ausschließlich Tagdienst (mit fester Vertretung) übernehmen, um eine möglichst hohe Konstanz und Präsenz dem kleinen Kind gegenüber zu gewährleisten. Eine andere Möglichkeit wäre, neue Anreize zu schaffen, dass bisherige MitarbeiterInnen zumindest zeitweise auch zu ungewöhnlichen Dienstzeit- 8 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen modellen bereit sind, aber dies auch arbeitsrechtlich mitgetragen wird. Anzuregen wäre eine Abfederung des Schichtdienstmodells mit gleitenden Übergangszeiten. Es geht immer darum, dass auch bei Personalwechsel im Schichtdienst eine gewisse Stabilität und Kontinuität für die Betreuung der kleinen Kinder ermöglicht wird. Hierfür müssen im letzteren Fall jedoch Ausnahmetatbestände im Arbeitszeitrecht geschaffen werden, die zusätzliche Spielräume schaffen zwischen den bestehenden Ausnahmen für Lebensgemeinschaften (§ 18 ArbZG) auf der einen Seite und dem„normalen Schichtdienst“ auf der anderen Seite. n Die Betreuung kleiner Kinder im stationären Setting erfordert zudem besondere Konzepte der Hilfebeendigung. Wenn kleine Kinder wieder in die Herkunftsfamilien entlassen werden sollen, sind Übergänge notwendig, die eine fließende Rückführung zulassen. So sollten Vereinbarungen mit den Kostenträgern vereinbart werden können, die ermöglichen, dass Eltern mehr Spielraum zur Erprobung zugestanden wird, z. B. das Kind zunächst nur tageweise oder auf Probe in die Herkunftsfamilie entlassen wird oder eine Rückkehroption in die stationäre Einrichtung offen gehalten wird und so die gute partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen der stationären Einrichtung und den Eltern auch nach der Entlassung fortgesetzt werden kann. Die Liste der quantitativen und qualitativen Anforderungen bei der Adaption der klassischen Heimerziehung an die emotionalen und sozialen Bedürfnisse kleiner Kinder ist zugegeben hoch. Sie sind auch nicht zum Nulltarif zu haben, sondern kosten ihren Preis. Aber gerade gegenüber den sehr jungen und kleinen Kindern, die womöglich bei uns in den stationären Einrichtungen frühe und prägende Erfahrungen mit dem Leben machen, haben wir eine besonders große Verantwortung. Die formulierten Standards sind sicherlich nicht von jetzt auf gleich umzusetzen, doch sollte sich jede 2007. 113 Seiten. 27 Abb. DIN A4. Mit zahlr. Kopiervorlagen (978-3-497-01938-0) kt Krisen selbständig überwinden Im ersten Teil des Buches erläutern die AutorInnen zentrale Elemente des Konzepts der „Resilienz“ - wie Selbst- und Fremdwahrnehmung, Selbstwirksamkeit und -steuerung, Stressbewältigung und Problemlösekompetenz. Im zweiten Teil finden Praktiker alle Spiele, Übungen und Materialvorschläge für das Kindertraining. Mit 20 Übungseinheiten kann jede ErzieherIn in Kleingruppen mit dem Training starten, das Material ist für Kinder im Alter von 4 bis 6 Jahren geeignet. In diesem Programm steckt eine Menge an Erfahrung, es ist vielfach erprobt und wissenschaftlich getestet. a www.reinhardt-verlag.de 9 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen Jugendhilfeeinrichtung, die so kleine Kinder betreut, auf den Weg machen, die bestmöglichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Zum guten Schluss Die Betreuung kleiner Kinder ist - wie im Untertitel formuliert - eine alte, aber gleichzeitig immer wieder neue Herausforderung. Schon im Jahr 1994 hat sich der damalige Verband der katholischen Einrichtungen der Heim- und Heilpädagogik (heute: BVkE) intensiv mit dieser Thematik befasst. Andere gesellschaftliche Prozesse und Rahmenbedingungen hatten auch zu der damaligen Zeit Anfang der 90er Jahre zu einer verstärkten Aufnahme oder Anfrage für kleine Kinder geführt. Die Ursachen für eine verstärkte Nachfrage mögen sich ändern, die Herausforderung an die stationären Jugendhilfeeinrichtungen, abseits der gewohnten Bahnen geeignete Betreuungsformen in der Sorge für die ganz kleinen Kinder zu entwickeln, bleibt. In vielen Gesprächen mit LeiterInnen und MitarbeiterInnen habe ich den Eindruck gewonnen, dass die stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen sich ihrer besonderen Verantwortung bewusst sind. Es gibt aber auch keinen Grund, sich zu verstecken, denn für einen Teil auch der sehr jungen Kinder ist Heimerziehung fachlich angezeigt und genau die richtige Hilfe, soweit passende Konzepte vorhanden sind und adäquat umgesetzt werden. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn ➤ die bereits bestehenden Verhaltensauffälligkeiten eines hohen fachlichen und therapeutischen Aufwandes bedürfen, ➤ ganze Geschwistergruppen Aufnahme finden sollen, ➤ nicht unmittelbar wieder eine Familie als Betreuungsrahmen sinnvoll erscheint und/ oder ➤ eine intensive Familienarbeit notwendig ist, die eine Pflegefamilie überfordern würde. Aber dennoch gilt weiterhin grundsätzlich: Immer dort, wo kein adäquates familienanaloges Jugendhilfeangebot geschaffen werden konnte, sollte die stationäre Aufnahme eines Kindes im Rahmen einer Schichtdienstgruppe stets als therapeutische Übergangshilfe (z. B. „Therapeutische Übergangshilfe Rheine“) betrachtet werden, bis eine den Bindungsbedürfnissen des Kindes angemessene Lebens- und Betreuungsform gefunden ist. Martin Kramm Leiter des Bethanien Kinder- und Jugenddorfes Bergisch Gladbach Neufeldweg 26 51427 Bergisch Gladbach kramm@bethanien-kinderdoerfer.de Literatur Schilling, M./ Fendrich, S./ Pothmann, J./ Wilk, A., 2010: Gewährung und Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung in Nordrhein-Westfalen. In: Landesjugendamt Westfalen (Hrsg.): HzE Bericht 2010. Münster/ Köln Verband der katholischen Einrichtungen der Heim- und Heilpädagogik (Hrsg.), 1994: Kleine Kinder im Heim. Freiburg im Breisgau