unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2012.art02d
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2012
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SOS-Kinderdorf Ammersee-Lech
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Christa Schöpflin
Erich Schöpflin
Das stationäre Angebot, durch kurzfristige Aufnahmen Kindeswohlgefährdungen zu vermeiden, wird verknüpft mit einer intensiven Einbindung der Eltern in den Alltag der Kinderwohngruppe, um ein praktisches Lernfeld zur Veränderung und Stärkung der Erziehungskompetenzen der Eltern zu schaffen.
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10 unsere jugend, 64. Jg., S. 10 - 17 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art02d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel SOS-Kinderdorf Ammersee-Lech Konzeption für eine Kinderwohngruppe mit dem familienaktivierenden Zusatzangebot des Live-Coachings für Eltern Das stationäre Angebot, durch kurzfristige Aufnahmen Kindeswohlgefährdungen zu vermeiden, wird verknüpft mit einer intensiven Einbindung der Eltern in den Alltag der Kinderwohngruppe, um ein praktisches Lernfeld zur Veränderung und Stärkung der Erziehungskompetenzen der Eltern zu schaffen. von Christa Schöpflin Jg. 1944; Diplom-Psychologin, Psychologischer Fachdienst im SOS Kinderdorf Ammersee-Lech Die Aufnahme von Kindern (oftmals auch Geschwistergruppen) im Rahmen des §34 SGB VIII muss zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung möglichst rasch realisiert werden. Sie kann in der Regel in einer Kinderdorffamilie, die konzeptionell auf eine längerfristige familienähnliche Lebensgemeinschaft ausgerichtet ist, aus entwicklungspsychologischer und familienpädagogischer Sicht nicht durchgeführt werden. Deshalb bietet das SOS-Kinderdorf Ammersee- Lech seit 2006 mit dem Zusatzangebot der alltagsbezogenen Familienaktivierung eine Möglichkeit zur stationären Aufnahme insbesondere von Geschwistergruppen mit Kleinkindern. Im Allgemeinen weisen diese Kinder erhebliche Entwicklungsrückstände in unterschiedlichen Bereichen auf, sind in ihrer altersgemäßen Persönlichkeitsentwicklung stark beeinträchtigt und bedürfen einer intensiven heilpädagogischen Förderung. Meist ist bei der Aufnahme die weitere Betreuungsperspektive noch offen und kristallisiert sich erst im Laufe der Fremdunterbringung heraus. Um diese zu klären, werden die Eltern unter direkter Anleitung und Führung durch das pädagogische und psychologische Fachpersonal intensiv in den Alltag der Geschwistergruppe eingebunden, um ein praktisches Lernfeld zur Veränderung und Stärkung der Elternkompetenzen zu schaffen. Dies erfordert die Bereitschaft der Eltern, zeitweise in der Kinderwohngruppe mit ihren Kindern zu leben. Die Entscheidung für diesen Schritt erfolgt gemeinsam in der Hilfeplanung und setzt voraus, dass durch die intensive Einbindung der Eltern nicht eine erneute Gefährdung des Kindeswohls verursacht wird. Erich Schöpflin Jg. 1951; Diplom-Psychologe, Einrichtungsleitung SOS Kinderdorf Ammersee- Lech 11 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen Das Leistungsangebot des Projekts ist darauf ausgerichtet, Eltern mit ihren Kindern in sehr schwierigen Problemlagen eine fallbezogene, effektive und nachhaltige Hilfeform zur Stärkung ihrer Handlungsbefähigungskompetenz in der Erziehung anzubieten. Dies erfolgt durch das spezielle Angebot des „Live-Coachings“ für die Eltern bzw. die Familie mit den Zielen: ➤ Motivierung der Herkunftsfamilien zur intensiven Zusammenarbeit im Rahmen eines Elterncoachings, das ausgerichtet ist auf (Wieder-)Erlangung und Gewährleistung elterlicher Erziehungsfähigkeit und Präsenz. So soll längerfristige Fremdunterbringung vermieden werden oder, wenn dies nicht zu erreichen ist, bei den Eltern die für eine langfristige Unterbringung notwendige Erlaubnis für die Kinder erreicht werden, sich neuen Bindungspersonen zuwenden zu dürfen. ➤ Den Entwicklungsstand der Kinder in allen Bereichen zu erfassen und durch gezielte Nutzung alltäglicher Abläufe, ergänzt durch psychologische, heilpädagogische und ärztliche Hilfen, Entwicklungsverzögerungen auszugleichen. ➤ Reintegration der Kinder in die Familien. ➤ Die Betreuungsperspektive innerhalb von maximal zwei Jahren einvernehmlich mit den Eltern so zu klären, dass das Wohl der Kinder in der Herkunftsfamilie, gegebenenfalls mit ambulanter Unterstützung oder in einer familienanalogen Wohngemeinschaft, dauerhaft gesichert werden kann. Welche Familien können mit dem Hilfeangebot angesprochen werden? Das Hilfeangebot richtet sich an ➤ Familien, bei denen nur durch eine kurzfristige Herausnahme der Kinder eine Kindeswohlgefährdung vermieden werden kann, aber die Möglichkeit der Rückführung erhalten werden soll, da die emotionale Eltern-Kind-Beziehung als eng und tragfähig eingeschätzt wird. ➤ Familien, bei denen nur unter den Bedingungen einer Fremdunterbringung der Kinder in einem handlungsbegleitenden, handlungsunterstützenden Umfeld eine Entwicklungsförderung der Kinder und eine Stärkung der Erziehungskompetenzen der Eltern erreicht werden kann. ➤ Familien, die bei Rückführung aus einer bestehenden Fremdunterbringung Hilfe benötigen oder die aufgrund gerichtlicher Auflagen vor die Entscheidung gestellt werden, unterstützende Hilfen zur Stärkung ihrer Erziehungskompetenzen anzunehmen. Als allgemein nicht geeignet zu sehen sind Familien ohne geeignete Wohnmöglichkeiten in ihrem sozialen Umfeld; ferner solche, die jede aktive Mitarbeit grundsätzlich ablehnen oder die aufgrund einer Erkrankung oder sprachlicher Defizite dazu nicht in der Lage sind. Hier sind intensive Einzelprüfungen notwendig, die voraussetzen, dass die Eltern einer offenen Kommunikation zwischen ihren ÄrztInnen und/ oder TherapeutInnen mit den ASD-MitarbeiterInnen und den Fachkräften des SOS-Kinderdorfes zustimmen. Prozessorientierte Gestaltung des familienaktivierenden Hilfeangebotes Das Konzept der familienaktivierenden Hilfen wurde aufgrund von spezifischen Hilfebedarfen zweier Familien entwickelt. In beiden Fällen waren kurzfristig eine fünfköpfige Geschwistergruppe (1 ½, 2 ½, 4, 6 und 7 Jahre) und eine vierköpfige Geschwistergruppe (1 ½, 3, 4 ½ Jahre und 9 Monate alt) aufzunehmen. Ausgangspunkt war in beiden Fällen die unumgängliche Fremdunterbringung wegen Kindeswohlgefährdung. 12 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen Bei beiden Familien wurde die Teilnahme am Projekt vom Gericht angeordnet aufgrund von Vernachlässigung der Kinder, wegen fehlender Erziehungs- und Versorgungskompetenzen; in einer Familie ergänzt durch familiäre Gewalt und Isolation, in der zweiten Familie wegen Erschöpfungszuständen aufgrund der Kinderzahl verknüpft mit akuter Suchterkrankung. Bei allen Kindern lagen erhebliche Entwicklungsverzögerungen sowie massive Verhaltensauffälligkeiten im Sozialverhalten vor. Bei beiden Familien sollte die Rückführungsoption erhalten bleiben, da die emotionale Eltern- Kind-Beziehung als eng und tragfähig eingeschätzt wurde. Die Aufnahme bei uns hatte somit drei Bedingungen Rechnung zu tragen: Erstens dem Zwangskontext als Ausgangspunkt bei den Eltern, zweitens der Sicherung des Kindeswohls und drittens sofortiger, intensiver, professioneller Diagnostik und Entwicklungsförderung. Aufgrund dieser Bedingungen erfolgte für beide Geschwistergruppen im ersten Schritt für einen begrenzten Zeitraum der Aufbau eines familienanalogen Lebensraumes. Diese kurzfristige Trennung der Kinder von den Eltern diente im ersten Schritt der unmittelbaren Sicherung des Kindeswohls und der intensiven Diagnostik, um Versorgung und Förderung optimal zu gestalten. Elternbezogen wurden dadurch die Freiräume geschaffen für den Aufbau einer funktionalen Beziehung mit den am Hilfeprozess beteiligten Personen und dem Ziel einer zuverlässigen, offenen und transparenten Zusammenarbeit mit dem Helfersystem. Im zweiten Schritt ist dann der Lebensraum der Kinderwohngruppe zum Lernfeld für die ganze Familie geworden. Der dritte Schritt kennzeichnete schließlich die Rückführungsphase mit folgenden Optionen: Sollte nach dem Elterncoaching im Hilfeplan festgestellt werden, dass innerhalb der zwei Jahre eine Reintegration in die Familie nicht möglich ist, wird mit den Eltern eine alternative Form der Unterbringung erarbeitet, die dauerhaft das Kindeswohl sichert. Die Anbahnung, der Übergang und die Verlegung der Kinder in diese neue Betreuungsform (Erziehungsstelle, Pflegefamilie, Kinderdorffamilie) werden mit der Familie geplant und von dem Coach begleitet und unterstützt. Beide Planungsoptionen, Rückführung oder Übergang, setzen voraus, dass die sozialpädagogischen Fachkräfte in der Kinderwohngruppe die Beziehung und Bindung zu den Kindern so gestalten, dass sie den Wechsel aktiv und konstruktiv mit gestalten können. Der gesamte Prozess wird engmaschig von prozesshaft orientierten Hilfeplangesprächen begleitet, die von jeder beteiligten Partei auch kurzfristig einberufen werden können. Voraussetzungen für die Aufnahme kleiner Kinder Fachlich methodisch verfügt das SOS-Kinderdorf bezogen auf Kleinkinder über langjährige Erfahrungen in der Familienpädagogik im Rahmen von Kinderdorffamilien sowie über die ergänzende Kompetenz und das Know-how der weiteren Einrichtungen des SOS-Kinderdorfes Ammersee-Lech: Krippe, Kindergarten, Entwicklungsdiagnostische Beratungsstelle und Erziehungsberatungsstelle. Den Forderungen der Bindungsforschung nach einem dem Entwicklungsalter angemessenen Betreuungssetting, das Bindungssicherheit zu den Eltern bzw. bisherigen Bezugspersonen sowie Bindungsbereitschaft gegenüber neuen Bezugspersonen ermöglicht, tragen wir durch altersgerechte Strukturierung des Alltags wie des Zusammenlebens, größtmöglicher Präsenz der Eltern im neuen Lebensraum und Resilienzentwicklung Rechnung, indem wir: ➤ Betreuungswechsel so weit wie möglich vermeiden (siehe Personalkonzept und Dienstplanung), 13 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen ➤ nichtvermeidbare Trennungsprozesse altersgerecht gestalten (z. B. Einbau der Eltern in Rituale, Begrüßungen und Verabschiedung ritualisieren, altersgemäße Vorbereitung und Reflexion), ➤ Präsenz der Eltern optisch im Haus sichern (Bilder, Gegenstände), ➤ Trennungszeiten visualisieren (Blume wächst, Kalender wird kürzer), ➤ Umgangsregelungen erarbeiten (Telefonate, Briefe, Besuche, gemeinsame Feste usw.), ➤ Eltern als Entscheidungsinstanz erhalten (werden grundsätzlich bei allen Entscheidungen von den Kindern gefragt). Der Erziehungsstil gewährleistet das Erleben von Wertschätzung, Zuverlässigkeit, Zuwendung sowie altersgemäße Förderung in einem klar strukturierten Alltag, der Sicherheit und Orientierung bietet. Die Förderung in der Schule wie in Alltagsbewältigung und Freizeit ist orientiert am Aufbau von Handlungsbefähigung, an dem Erleben von Selbstwirksamkeit und altersgemäßer Beteiligung und stärkt so die Widerstandsfähigkeit der Kinder gegen biologische, psychologische und psychosoziale Entwicklungsrisiken. Umsetzung des Konzeptes Die Umsetzung erfolgt in vier Phasen: In der ersten Phase werden mit den Eltern und allen beteiligten Personen im Helfersystem die angestrebten Ziele wie auch die Wege zur Zielerreichung klar beschrieben. D. h., alle Beteiligten wissen, wann, von wem, mit welchem Ergebnis und welchen Methoden was getan wird und welche Konsequenzen das Erreichen oder Nichterreichen der Ziele hat. Diese Phase ist bei sofortigen Aufnahmen der Kinder nachzuarbeiten. In der zweiten Phase werden die Kinder aufgenommen. Kindbezogen finden jetzt Diagnostik, Erstellung der Entwicklungs- und Förderpläne der Kinder sowie deren Integration in das neue Lebensfeld statt. Elternbezogen steht eine Eingewöhnungsphase im Mittelpunkt mit den Zielen, Vertrauen herzustellen, eine Kommunikationsform zu finden mit größtmöglicher Offenheit und Transparenz und Kennenlernen des Live-Coachings. In dieser Zeit übernachten die Eltern 14-tägig an Wochenenden in einem separaten Einzelapartement im Kinderdorf. Ziele dieser Phase: ➤ Die Kinder leben ihren Alltag in einer Struktur, die ihnen Sicherheit, Orientierung und die notwendige Förderung gibt. ➤ Die Eltern haben eine Basis, um sich für oder gegen das Live-Coaching zu entscheiden. Die Dauer dieser Phase ist abhängig von der Entwicklung der Kinder und vom Zeitpunkt der Bereitschaft der Eltern und sollte sechs Monate nicht überschreiten. In der dritten Phase beginnt das Live-Coaching, wobei strukturell vorgegeben sind: a) der Tagesplan, der mit Ritualen, Regellernen, Beteiligungsprozessen und Konsequenzen für jede/ n MitarbeiterIn und die Eltern gilt, b) Aufteilung in Blockphasen, es wird in Blöcken von 10 Tagen gecoacht, dazwischen liegen jeweils 4 Erholungstage, c) die didaktische Struktur des Coachings, die vorsieht: Am 1. Tag legen Eltern, psychologischer Fachdienst und Coach vormittags fest, welche Ziele mit welchen Methoden bearbeitet werden. Am letzten Tag wird nachmittags ausgewertet und reflektiert. In der Mitte findet an einem Vormittag die Elternschule statt (Fachdienst und Eltern, zeitweise mit Coach). Anhand real auftretender Probleme wird Wissen vermittelt. Täglich setzen sich abends Coach und Eltern zur Tagesreflexion zusammen und zur Planung des Folgetages (wer macht mit wem was und wann? ). 14 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen Im Prozess des Live-Coachings gestalten die Eltern gemeinsam mit dem Coach den Alltag ihrer Familie vom Aufstehen bis zum Schlafengehen; alle Bereiche (Haushalt, Schule, Kindergarten, medizinische Versorgung, finanzieller Rahmen, Freizeit) sind zu bewältigen. Live- Coaching bedeutet in diesem Kontext Lernen am Modell und Lernen durch Tun. Die Eltern wohnen gemeinsam mit Coach und Kindern während der Coachingblöcke im Haus. Familienaktivierung bedeutet, dass die Eltern zunehmend selbstbestimmt und selbstverantwortlich Aufgabenbereiche übernehmen und bewältigen, dass sie zunehmend mehr Zeit alleine mit den Kindern gestalten. Diese Phase ist beendet, wenn Eltern und alle beteiligten Maßnahmeträger eine sichere Einschätzung haben, dass eine Rückführung erfolgen kann oder sie zu der Erkenntnis kommen: Trotz aller Veränderungsbereitschaft gelang es den Eltern nicht, ihre Erziehungskompetenzen so auszubauen, dass ihnen ein dauerhaftes selbstständiges Familienmanagement zum Wohle ihrer Kinder gelingt. Dieser Prozess sollte nach maximal zwei Jahren abgeschlossen sein. In der vierten Phase findet die Rückführung oder die Unterbringung in einer familienanalogen Betreuung statt. Bei der Rückführung wird das Live-Coaching beendet. Für einen begrenzten Zeitraum wird mit Familienangehörigen und Hilfskräften vor Ort Beratung, Unterstützung, Reflexion der Abläufe und/ oder Probleme in Form weiterer notwendiger Hilfeprozesse gesichert - dies kann abhängig vom Wunsch der Familie und örtlicher Nähe des Elternhauses weiterhin vom Coach begleitet werden. Kommt es zu einer längerfristigen Fremdunterbringung der Kinder, wird mit den Eltern erarbeitet, welche Unterbringungsform sie mittragen können, in welcher Form es den Kindern vermittelt wird, wie die Kontakte dort verlaufen sollen usw. Ziel ist es, für die Kinder die Erlaubnis zu sichern, dass sie an ihrem neuen Le- 15 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen bensort leben dürfen, Beziehungen eingehen dürfen - und dass die Eltern ihre Kinder in ihr ergänzendes Zuhause begleiten. Dieser Prozess wird vom Fachdienst und Coach der Kinderwohngruppe gestaltet und begleitet. Das Personalkonzept und die Dienstplangestaltung Die Anzahl der Personalstellen mit der Qualifikation SozialpädagogIn oder ErzieherIn ist in der Betriebserlaubnis als Mindestausstattung mit knapp sechs Vollzeitstellen einschließlich der sozialpädagogischen Fachdienstanteile für das Coaching festgelegt. Dieses Personalkonzept soll eine weitgehende Doppelbesetzung in der Dienstplangestaltung ermöglichen. Zwei MitarbeiterInnen des Betreuungsteams sind mit einem Arbeitsvertrag vergleichbar einer SOS-Kinderdorfmutter ausgestattet und wechseln sich als Hauptbezugspersonen in den Tag- und Nachtdiensten im Rhythmus zehn Tage Dienst, vier Tage frei ab. Die verbleibenden vier MitarbeiterInnen leisten die Doppelbesetzungszeiten sowie die notwendigen ergänzenden Fördereinheiten und/ oder externen Termine (Schule, Kindergarten, Therapie, Arztbesuch usw.). Für Zeiten ohne Coaching ist damit ein ständiger Wechsel der Betreuungspersonen so weit wie möglich vermieden, die kleinen Kinder sind keinem Wechselschichtdienstplan ausgesetzt. Für sie wird dadurch eine Beziehungsintensität gesichert, die eine normale Entwicklung ermöglicht. Werden zwei Familien parallel gecoacht, steht jeder Familie eine Hauptbezugsperson als Coach und ein/ e MitarbeiterIn zur Verfügung, der/ die ergänzend stützt (bei externen Terminen von Coach und Eltern, zur Sicherung der Fördertermine der Kinder, bei internen Terminen mit Fachdienst, Coach und Eltern). Wird nur eine Familie gecoacht, ist organisatorisch sichergestellt, dass die anderen Kinder, die in der Wohngruppe leben, getrennt von der Coachingfamilie betreut werden. Gestaltung der Fachdienstarbeit Die Betriebserlaubnis regelt auch die Mindestausstattung des pädagogischen und psychologischen Fachdienstpersonals: pro Kind und Woche drei Arbeitsstunden. Der pädagogische Fachdienst ist für die Koordination und Durchführung des Live-Coachings verantwortlich und übernimmt selbst Coachingeinheiten. Er gestaltet die Zusammenarbeit mit den Eltern, erarbeitet die gemeinsamen Coachingziele mit ihnen, unterstützt und berät die pädagogischen MitarbeiterInnen in den Aufgaben des Elterncoachings, dokumentiert das Coaching und leistet anlassbezogene Beratung für die Eltern. Diese Aufgaben bedingen, dass er im Alltag der Kinderwohngruppe und im Betreuungsteam täglich präsent ist. Der psychologische Fachdienst hat seinen Arbeitsplatz ebenfalls im Haus der Wohngruppe und erbringt die professionsüblichen Leistungen im Hinblick auf die Kinder, bearbeitet die Aufnahmeanfragen, verantwortet die Fallberatungen und koordiniert die Schnittstellen zu Schulen, Beratungsstellen, TherapeutInnen, Kliniken, ÄrztInnen und Jugendamt. Er berät und qualifiziert die pädagogischen MitarbeiterInnen für das Elterncoaching, führt gezielte Verhaltensbeobachtungen auch unter Verwendung von Videoaufzeichnungen durch und gestaltet für die Eltern eine Elternschule, in der ihr Erziehungswissen gefördert wird. Er ist verantwortlich für die fallbezogene Entwicklung des Elterncoachings und für die Anpassung der Umsetzung an die familiäre Dynamik. Er leistet während der Coachingphase Konfliktmanagement als Ansprechpartner und Vermittler für die Kinder, die Eltern und den Coach. Belegungsmöglichkeiten und Finanzierung Für die Kinderwohngruppe steht ein Dreifamilienhaus zur Verfügung. Je nach Geschwisterkonstellation können zwei bis drei Familien mit 16 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen bis zu neun Kindern betreut werden. In den Wohneinheiten ist jeweils ein Schlafraum für die Eltern im Raumprogramm enthalten wie auch ein Dienstzimmer mit Schlafgelegenheit für die pädagogischen Fachkräfte. Die notwendigen Räume und Ausstattungen für die Selbstversorgung sind vorhanden. Soweit Eltern oder Elternteile in der Kinderwohngruppe zeitweise wohnen, kommen sie für ihre eigene Versorgung selbst auf und zahlen den jeweiligen AOK-Satz in die Wirtschaftskasse ein. Den Eltern wird für das Wohnen im Familienhaus keine Nutzungsentschädigung berechnet, sodass der Erhalt ihrer eigenen Wohnung gesichert ist. Die stationäre Betreuung der Kinder und das Elterncoaching werden durch einen verhandelten Tagessatz pauschal finanziert. In der Projektphase wurden durch den SOS-Kinderdorfverein Eigenmittel ergänzend zur Verfügung gestellt. Praktische Erfahrungen und Ausblick Die Förderung von Handlungsbefähigungskompetenzen erfordert unmittelbare Selbstwirksamkeitserfahrungen durch eigenes Handeln. Diesem allgemeinen Grundsatz folgend wurde das Live-Coaching für Eltern nicht als therapeutische Zusatzleistung konzipiert, sondern in den pädagogischen Alltag integriert. Damit wurde es auch möglich, in allen besonders sensiblen Situationen eines Familienalltages - wie das Aufstehen, das Vorbereiten auf Schule oder Kindergarten, die Essenszeiten, die Hausaufgabenzeiten, die Freizeitgestaltung, das Zubettbringen - die Eltern zu begleiten und zu stärken. Die von allen pädagogischen und psychologischen MitarbeiterInnen eingeforderte fachliche Grundhaltung, Eltern wertzuschätzen, ihnen mit Respekt zu begegnen und mit ihnen für ihre Familie weiterführende Lösungen zu suchen, hat die wesentliche Voraussetzung für intensive Zusammenarbeit und für Veränderungsbereitschaft bei den Eltern geschaffen. Sie ermöglichte es den Eltern, ihre Wahrnehmung bezogen auf Erziehungsziele, Erziehungsaufgaben und auf die jeweils persönliche Entwicklung ihrer Kinder auszurichten. Sie mussten sich nicht in eine Konkurrenzsituation zu den Fachkräften begeben, sondern konnten sich auch den Kindern gegenüber ohne Bedrohung ihrer Elternrolle als Lernende verstehen. Dieser fachliche Ansatz erfährt seitens der Eltern große Akzeptanz und vermittelt ihnen Selbstwirksamkeitserfahrungen durch entwicklungsförderndes, eigenständiges erzieherisches Handeln, so die wesentlichen Ergebnisse einer nicht veröffentlichten Fallevaluationsstudie des Sozialpädagogischen Institutes des SOS-Kinderdorfvereins. Die Eltern bewerteten als wesentliche Unterstützung die annehmende Grundhaltung, das schonungslose Hinschauen, die Lösungsorientierung im Coaching, die Belassung der Elternrolle und das Gefühl, sich nicht querstellen zu müssen. Seitens des Jugendamtes war in der Wohngruppe für die Kinder auch bei Anwesenheit der Eltern ein sicherer Ort gegeben, wo ein angstfreies Erziehungsklima und eine entwicklungsfördernde Erziehung realisiert werden. Den pädagogischen Fachkräften gelang es, ihren Aufgabenschwerpunkt auf die Unterstützung der Eltern zu legen, sowohl bei der Zielfindung wie auch bei der Wahrnehmung der Erziehungsaufgabenunddes Familienmanagements. Die vorgegebene Struktur für den pädagogischen Alltag wie für das Live-Coaching hat sich für Familien wie MitarbeiterInnen bewährt. Sie ließ Raum für notwendige Anpassung an die jeweilige Familiendynamik, sie war ausreichend flexibel, um individuelle Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen sowohl von Familienangehörigen wie von MitarbeiterInnen punktuell einzubauen. Für die ständige Prozessevaluation, die vom psychologischen Fachdienst geleistet wird, ist es wichtig, die beschriebenen zentralen Struk- 17 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen turen in Verknüpfung mit den jeweils geforderten Aufgaben als Gegenstand zu erhalten und ein besonderes Augenmerk auf die Gestaltung der Übergänge von einer Phase zur anderen zu legen. Dies gilt insbesondere bezogen auf den Beginn des Live-Coachings sowie auf die Rückführungsphase. Die Reintegration in die Herkunftsfamilie kann nur gut gelingen, wenn die notwendige Grundhaltung und das methodische Verständnis des Live-Coachings auch im Alltag der Herkunftsfamilie umgesetzt werden. Dies konnten wir bis zum Umzug der Kinder durch denjenigen Coach gewährleisten, der die Eltern schon bisher begleitete. Für einen nachhaltigen Effekt ist es aber notwendig, dass auch die erforderliche Nachbetreuung durch eine sozialpädagogische Fachkraft, die wir selbst nicht leisten konnten, diesem Ansatz verpflichtet ist. Mit Blick auf unsere Zielsetzungen sind wir mit den erzielten Ergebnissen zufrieden. Aus einer Geschwistergruppe konnten zwei Kinder rückgeführt werden, die anderen drei leben mit Zustimmung und aktiver Unterstützung der Eltern in Kinderdorffamilien. Vereinbart ist, die Rückführung nach drei Jahren erneut zu prüfen. Bei der vierköpfigen Geschwistergruppe ist nach erfolgreicher Coachingphase kurz vor der Rückführung die Kindesmutter erneut erkrankt, und ihre Kinder leben auf Wunsch und mit aktiver Unterstützung der Mutter in einer Kinderdorffamilie. Die Kinderdorffamilien waren in der Gestaltung der Zusammenarbeit mit den Eltern darauf vorzubereiten, die Elternrolle im Bewusstsein der Kinder weiterhin zu stärken, vor allem im Hinblick auf die Transparenz und die Einbeziehung der Eltern in die Erziehungsplanung und -ziele. Wir haben nun die Entfristung der Betriebserlaubnis beantragt und wollen das Projekt überführen in ein dauerhaftes stationäres Angebot unseres Kinderdorfes. Aus den bisherigen Erfahrungen des familienaktivierenden Hilfeangebotes ergeben sich weiter wichtige Hinweise für ein Konzept einer intensiv strukturell verankerten Eltern- und Familienarbeit auch in den Kinderdorffamilien. Strukturen müssen wir noch finden - für die Überführung großer Geschwistergruppen in familienanaloge Betreuungssettings anderer Einrichtungen, für die Qualifizierung der MitarbeiterInnen als Live- Coaches und für die Sicherung der Doppelbesetzungen bei der Aufnahme von Kleinkindern. Christa Schöpflin Psychologischer Fachdienst Erich Schöpflin Einrichtungsleitung SOS-Kinderdorf Ammersee-Lech Hermann-Gmeiner-Straße 1 - 21 86911 Dießen erich.schoepflin@sos-kinderdorf.de
