unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2012.art03d
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2012
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Krisenunterbringung kleiner Kinder
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2012
Kerstin Lack
Ralf Schlüter
Wer sich mit der Unterbringung von Kindern beschäftigt, wird schnell feststellen, dass es nicht mit einem Bett und regelmäßigen Mahlzeiten getan ist. Insbesondere in dem Altersbereich von 0 bis 6 Jahren sind große Sensibilität, gute Beobachtungsfähigkeit, die Fähigkeit, individuell auf die Kinder einzugehen, sowie eine gute Regulation von professioneller Nähe und Distanz vonnöten.
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18 unsere jugend, 64. Jg., S. 18 - 25 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art03d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Krisenunterbringung kleiner Kinder Chancen, Risiken und Nebenwirkungen eines stationären Angebotes Wer sich mit der Unterbringung von Kindern beschäftigt, wird schnell feststellen, dass es nicht mit einem Bett und regelmäßigen Mahlzeiten getan ist. Insbesondere in dem Altersbereich von 0 bis 6 Jahren sind große Sensibilität, gute Beobachtungsfähigkeit, die Fähigkeit, individuell auf die Kinder einzugehen, sowie eine gute Regulation von professioneller Nähe und Distanz vonnöten. von Kerstin Lack Diplom-Sozialpädagogin, Gruppenleiterin Kleinkindkrisengruppe Wir aus dem Kinderwohnprojekt casablanca können dazu Erfahrungen der Krisenunterbringung von Kindern im Altersbereich von Geburt an bis zum 5. Lebensjahr weitergeben und interessierte LeserInnen an den schönen sowie schwierigen Seiten dieser Betreuungsform teilhaben lassen. Was bedeutet Krisenunterbringung? Es bedeutet, dass Kinder in akuten Krisensituationen, in denen ihre Versorgung, Betreuung und/ oder ihr Wohlergehen, ihr Schutz innerhalb der Herkunftsfamilie von ihren Bezugspersonen nicht gewährleistet werden kann, akute und in der Regel zeitlich eng befristete Aufnahme in einer stationären Einrichtung finden. Dies können der Kindernotdienst oder andere, auf kurzfristige Krisenintervention spezialisierte Einrichtungen sein. Krisensituation ist ein weiter Begriff. Dahinter verbergen sich sehr individuelle, zum Teil traumatische Erfahrungen einzelner Kinder. Wer die Tageszeitung aufmerksam liest, hat im Laufe der Zeit eine gewisse Vorstellung von Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, Verwahrlosung und/ oder Misshandlung entwickeln können. Häufig stecken Überforderung, Suchtproblematik oder psychische Störungen der Eltern hinter diesen, für die Kinder äußerst belastenden und gefährdenden Situationen, die ein Eingreifen des Jugendamtes erforderlich machen. Ralf Schlüter Diplom-Pädagoge, Leiter des Kinderwohnprojektes casablanca in Berlin-Pankow 19 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen Ein „Eingreifen“ des Jugendamtes erfolgt nicht willkürlich, sondern bezieht die sorgeberechtigten Eltern in diesen Prozess mit ein. Dies ist im SGB VIII gesetzlich geregelt. Personensorgeberechtigte haben gem. § 27 Abs. 1 SGB VIII „… bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“. Dies schließt die in § 34 SGB VIII geregelte Heimerziehung, also stationäre Unterbringung, ein. In diesen Fällen stellen die Eltern beim Jugendamt einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung und stimmen somit der Unterbringung außerhalb der Herkunftsfamilie zu. Der § 34 SGB VIII beinhaltet neben der Förderung der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen weitere Aufträge für die Einrichtungen, in denen diese Kinder untergebracht sind. Die Hilfe zur Erziehung „… soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder Jugendlichen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie 1. eine Rückkehr in die Familie zu erreichen versuchen oder 2. die Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder 3. eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbständiges Leben vorbereiten“. Hierbei ist für den Prozess der Unterbringung eine Mitwirkung der personensorgeberechtigten Eltern gesetzlich geregelt. Darüber hinaus ist das Jugendamt gem. § 42 Abs. 3 SGB VIII „… verpflichtet, ein Kind oder Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert …“. In § 42 Abs. 2 SGB VIII heißt es weiter, „… das Jugendamt hat den Personensorge- und Erziehungsberechtigten unverzüglich von der Inobhutnahme zu unterrichten. Widerspricht der Personensorge- oder Erziehungsberechtigte der Inobhutnahme, so hat das Jugendamt unverzüglich 1. das Kind oder den Jugendlichen dem Personensorgeberechtigten zu übergeben oder 2. eine Entscheidung des Vormundschaftsgerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohle des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen. …“. Insbesondere der letzte Punkt - die Inobhutnahme eines Kindes gegen den Willen der Eltern - reduziert häufig die Bereitschaft der Eltern, sich für den Hilfeprozess zu öffnen, und kann den Kindern somit ein „Ankommen“ und Sich-Einlassen auf die neuen Bedingungen der Fremdunterbringung extrem erschweren. Besonderheiten bei Säuglingen und Kleinkindern Insbesondere Säuglinge und Kleinkinder können sich nicht äußern und verstehen die Zusammenhänge nicht. Sie werden durch die vom Jugendamt veranlasste Herausnahme von ihrem gewohnten Lebensumfeld und ihren Bezugspersonen getrennt und müssen sich auf eine neue Umgebung sowie fremde Bezugspersonen einstellen. Dies erfordert eine hochgradige Anpassungsleistung und kann Bindungsstörungen und Traumata auslösen, sodass eine Herausnahme eines Kindes in diesem Altersbereich nur nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung aller zur Verfügung stehenden Alternativen stattfindet. Alternativ könnte beispielsweise eine Unterbringung im familiären Umfeld erwogen werden, um Beziehungsabbrüche gering zu halten oder zu vermeiden. In vielen Fällen, die bei uns aufgenommen werden, bietet die Herkunftsfamilie jedoch wenige bzw. keine ausreichenden Ressourcen, teilweise steht gar kein familiäres Netzwerk zur Verfügung. Dann wird die Unter- 20 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen bringung des Kindes außerhalb des Familiensystems notwendig, um Gefahren für das Kind abzuwenden. Wünschenswert wäre es, diesen Kindern gleichbleibende Bezugspersonen zur Verfügung zu stellen, d. h. den Wechsel des Betreuungspersonals, wie er in Krisen- und Heimeinrichtungen vorkommt, zu vermeiden. Dies wäre durch die Unterbringung in einer Kurzzeitpflegestelle gewährleistet. Nur leider steht diese Betreuungsform nicht im ausreichenden Maße zur Verfügung. In der Vergangenheit mussten Säuglinge und Kleinkinder häufig aufgrund dieses Mangels in bestehende Krisen- oder Regelgruppen untergebracht werden. Sie trafen dort auf Strukturen, die ihren Bedürfnissen nur sehr bedingt entsprachen, da diese Gruppen in der Regel ein Altersspektrum bis zum 14. Lebensjahr der dort betreuten Kinder umfassen. Es ist häufig schwierig, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder in einem Altersspektrum von 0 bis 14 Jahren gerecht zu werden. Angesichts des deutlichen Bedarfs kleiner Kinder und dem infrastrukturellen Mangel an passenden Angeboten hat die zuständige Fachbehörde Berlins in den letzten Jahren entschieden, Heimeinrichtungen eine befristete Betriebserlaubnisse für die „kurzzeitige Unterbringung von Kleinkindern und Säuglingen“ zu erteilen. Vor diesem Hintergrund kommt diesen stationären Gruppen für Kleinkinder eine besondere Bedeutung zu. Unsere Kleinkindkrisengruppe - eröffnet im Juli 2010 Die Kleinkindkrisengruppe des Trägers casablanca - gemeinnützige Gesellschaft für innovative Jugendhilfe und soziale Dienste mbH ist Teil einer dezentral und stadtteilintegriert organisierten Einrichtung des Kinderwohnprojektes casablanca, das im Berliner Bezirk Pankow im Ortsteil Weißensee verschiedene stationäre Angebote vorhält. Neben der Kleinkindkrisengruppe bestehen eine weitere Gruppe zur kurzzeitigen Unterbringung für Kinder von 5 bis 14 Jahren sowie sechs Wohngruppen für Kinder und Jugendliche, die mittel- und langfristig in Fremdunterbringung leben. Insgesamt bietet die dezentral organisierte Einrichtung 52 Plätze. Alle Gruppen sind in regulären Wohnungen untergebracht, sie leben „Tür an Tür“ mit den üblichen MieterInnen in insgesamt vier größeren Miethäusern. Die Gruppen erreichen sich fußläufig, die Einrichtungsleitung und Räume für Supervision und Elternberatung sind zentral verortet und mit einem Familientreff räumlich verbunden. Gruppenübergreifende Fallreflexionen, Supervisionen, Ressourcennutzung und Freizeitaktivitäten sichern die fachliche Qualität und den organisatorischen und kollegialen Zusammenhang der Fachkräfte aller Gruppen. Der Träger unterstützt die Entwicklung von Fachkompetenz ergänzend durch spezifische Weiterbildungsveranstaltungen für die MitarbeiterInnen, beispielsweise zur Entwicklungspsychologie des Frühen Kindesalters. Die Kleinkindkrisengruppe verfügt über sechs Plätze für Kinder im Altersbereich von Geburt bis zum vollendeten 4. Lebensjahr. Im Falle der Aufnahme von Geschwisterverbünden können Kinder bis zum vollendeten 5. Lebensjahr betreut werden. Fachlich-konzeptionelles Ziel ist eine Rückführung oder anderweitige Dauerunterbringung bei Bedarf binnen drei Monaten. Infolge uneindeutiger Sachlagen im Elternhaus, sich hinziehender gerichtlicher Sorgerechtsverfahren oder wegen fehlender Dauerpflegeplätze ist dieses Ziel nicht immer einzuhalten. Die durchschnittliche Verweildauer beträgt seit Bestehen des Angebotes (2010) 13,8 Wochen. Die Wohnung besteht aus vier Kinderzimmern, einem großen Wohn- und Essbereich, einem Büro und Beratungsraum. Die Betreuung erfolgt im Schichtdienstsystem mit nächtlichem Wachdienst. Die pädagogische Arbeit wird als Bezugsbetreuungssystem praktiziert. Das be- 21 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen deutet, dass jedem Kind eine Betreuerin zugeordnet ist, die individuell seinen Fall begleitet, die Elterngespräche führt und die Belange des Kindes koordiniert. Hierbei bildet sie mit der Gruppenleitung ein Co-Team in der Bezugsbetreuung. Die Kinder finden in unserer Gruppe speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Ausstattung der Räumlichkeiten sowie auf die Betreuung dieser Altersgruppe qualifiziertes Personal vor. Das heißt, dass neben pädagogischen und kinderpflegerischen Fachkräften auch eine Kinderkrankenschwester beschäftigt ist, sodass eine ganzheitliche Förderung und Versorgung der Kinder, insbesondere auch im medizinischen Bereich, gewährleistet ist. Trotz dieser Gegebenheiten erleben die Kinder nur bedingte Beziehungskontinuität, da eine Vielzahl von Betreuungspersonen für die Kinder zur Verfügung steht. Um insbesondere den Kindern die Phase der Eingewöhnung zu erleichtern und den Eltern das Konzept vorzustellen, wird den Kindeseltern die Möglichkeit geboten - auch um die teilweise deutlichen Widerstände gegen die Unterbringung abzuschmelzen -, ihre Kinder in die Einrichtung zu begleiten, auch bei der Aufnahme. Dies erleichtert den Eltern die Auseinandersetzung mit der neuen Situation, weil sie dann wissen, wo und wie ihr Kind lebt. Sie lernen die Betreuerinnen und die Angebote der Einrichtung kennen und erleben, wie sich der Alltag in der Einrichtung gestaltet. Darüber hinaus helfen sogenannte Übergangsobjekte, vertraute Gegenstände wie z. B. Kuscheltiere, Schmusetücher, Decken etc. den Kindern, sich einzugewöhnen und den Beziehungsabbruch besser bewältigen zu können. Leider nutzen nicht alle Eltern dieses Angebot. Einige Eltern empfinden die Situation als zu emotional belastend und sehen sich deshalb nicht in der Lage, ihr Kind in die Einrichtung zu begleiten. Bei anderen Eltern ist möglicherweise der Widerstand gegen die vom Jugendamt eingeleitete Maßnahme der Unterbringung zu stark. In allen Fällen sind Feinfühligkeit und Beobachtungsfähigkeit der Betreuerinnen der Einrichtung und deren individuelle Zuwendung ausschlaggebend für einen möglichst schonenden Übergang des Kindes in die Einrichtung. Hierbei greifen die Betreuerinnen auf spezielle Methoden der Beobachtung, der Feinzeichendeutung zurück, die es ermöglicht, die Säuglinge und Kleinkinder kennenzulernen und erste Vorstellungen von den Erfahrungen und Erlebnissen der Kinder zu entwickeln. Darüber hinaus geben eine klare Tagesstruktur und stets wiederkehrende Rituale den Kindern Sicherheit und fördern ihre positive Entwicklung. Wie im § 34 SGB VIII festgeschrieben, ist der Versuch der Rückführung des Kindes in die Herkunftsfamilie ein wichtiges Ziel für den weiteren Unterbringungs- und Klärungsprozess. Dazu ist es unabdingbar, dass ein enger Kontakt zwischen den wichtigsten Bezugspersonen, in der Regel den sorgeberechtigten Kindeseltern, und ihrem Kind erhalten bleibt. Deshalb gibt es in unserer Einrichtung tägliche Besuchstermine, die Möglichkeit der Begleitung von Arztterminen etc., was neben dem Kontakterhalt mit den Eltern darauf abzielt, sie nicht gänzlich aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Darüber hinaus finden regelmäßig, mindestens wöchentlich, Elterngespräche statt, die sich mit der individuellen Problemlage und Veränderungsmöglichkeiten in den Herkunftsfamilien beschäftigen. Welche konkreten Erfahrungen wurden gemacht? „Kleinkinder“ - das klingt nach ziemlich homogener Zielgruppe, besonders in der Altersgruppe von 0 bis 4 Jahren. Tatsächlich ist die pädagogische Arbeit sehr individuell. Jeder Säugling ist anders, hat einen anderen Rhythmus, andere Bedürfnisse und stellt somit andere Anforderungen an sein Umfeld. 22 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen Im letzten Jahr nahmen wir beispielsweise einen Säugling, der unter erheblichen Startschwierigkeiten zur Welt gekommen war und etwas über einen Monat auf der Intensivstation betreut werden musste, direkt aus dem Krankenhaus in die Gruppe auf. Sein Gesundheitszustand war soweit stabil, doch waren sich die Ärzte nicht sicher, ob und in welchem Ausmaß Beeinträchtigungen in der weiteren Entwicklung des Kindes zutage treten würden. Die Betreuung des Kindes erfolgte mit viel Förderung und individueller Zuwendung. Das bedeutete, dass das Kind von den Betreuerinnen viel getragen wurde - besonders im Tragetuch -, dass viel und intensiv sensorisch mit ihm gearbeitet wurde, um es dabei zu unterstützen, ein normales Körpergefühl zu entwickeln. Später wurde wöchentlich eine Physiotherapie mit dem Kind aufgesucht, um diese Entwicklung weiterzuführen. Darüber hinaus waren viele und regelmäßige Kontrolluntersuchungen beim behandelnden Kinderarzt sowie bei Fachdiensten, wie dem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ), für eine möglichst positive Entwicklung des Kindes notwendig. Etwa zur gleichen Zeit waren in der Kleinkindkrisengruppe Geschwister im Alter von 3 und 5 Jahren untergebracht. Beide Kinder ließen sich anfänglich gut auf die neue Situation in der Gruppe ein und öffneten sich für die Spielangebote, die Aufmerksamkeit und das Interesse, das ihnen von den Betreuerinnen entgegengebracht wurde. Beide Kinder stabilisierten sich emotional, zeigten erste Entwicklungsfortschritte in Sprache, Motorik und profitierten von den klaren Strukturen des gleichbleibenden Tagesablaufes sowie den wiederkehrenden Ritualen. Darüber hinaus gelang es, sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung hinsichtlich ihrer Selbstständigkeit und ihres Selbstbewusstseins zu fördern. Mit zunehmender Dauer der Unterbringungszeit war es der Kindesmutter jedoch nicht möglich, den Kontakt zu ihren Kindern aufrechtzuerhalten. Die Kinder fühlten sich verlassen und suchten die Schuld dafür bei sich. Hinzu kam die Sorge, dass sie nicht für ihre Mutter da sein konnten. Die Betreuerinnen konnten zunehmend auffälliges, teilweise selbstgefährdendes bis selbstverletzendes Verhalten bei den Kindern beobachten. Es wurde notwendig, die Kinder bei Fachdiensten vorzustellen. In diesen Situationen ist es wichtig, die Kinder in ihrer Sorge und ihren Ängsten ernst zu nehmen und ihnen immer wieder Verständnis, Zuwendung und Trost entgegenzubringen und anzubieten. Dies erfordert viel Geduld und Besonnenheit und in jedem Falle Zeit und den Willen, sich genau in diesen Momenten uneingeschränkt auf das Kind einzulassen, um es unterstützen zu können. Während dieser intensiven Zeit, dem erhöhten Bedarf eines oder mehrerer Kinder, gilt es auch, auf die weiteren Kinder in der Gruppe angemessen einzugehen. Ist die Altersmischung dann sehr groß, wird es trotz geringer Kinderzahl und gutem Betreuungsschlüssel schwierig, den unterschiedlichen Bedürfnissen aller Kinder gerecht zu werden. In manchen Fällen ist besonders hohe Sensibilität und Vorsicht geboten. Wenn Kinder durch ihre Bezugspersonen misshandelt wurden, könnte jeder weitere Kontakt eine erneute Traumatisierung der Kinder bedeuten. Mitunter ist, insbesondere bei Säuglingen, nicht eindeutig geklärt, welchen Umständen sie in ihrer Herkunftsfamilie ausgesetzt waren. Eine gering ausgeprägte oder nicht vorhandene Feinfühligkeit der Bezugsperson (Bezugsperson reagiert nicht angemessen auf die Bedürfnisse des Kindes), was von ignorierend, wechselhaft bis zu bedrohlich und feindselig gehen kann, beeinflusst das Verhalten, das Erleben des Kindes maßgeblich. Hierbei ist die genaue Beobachtung des Verhaltens des Kindes im Alltag (in Wickel-, Fütter- und Spielsituationen z. B.) besonders wichtig und ebenso die Beobachtung der Interaktion zwischen Eltern und Kindern. Das Verhalten der Kinder in Pflege-, Versorgungs- und Spielsituationen 23 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen beim Besuch der Eltern gibt Aufschluss über das erwartete elterliche Verhalten und die Art der aufgebauten Bindung zwischen Eltern und Kind. Diese Beobachtungen nehmen einen großen Umfang in den Elterngesprächen ein. Häufig ist es den Eltern nur bedingt möglich, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erkennen und entsprechend zu handeln. Anhand von begleiteten Pflegesituationen, wie dem Füttern, Wickeln, Baden des Kindes, nähern sich die Betreuerinnen dieser Thematik. Hierbei werden insbesondere die Situationen hervorgehoben, in denen die Eltern gut im Kontakt zu ihrem Kind sind, also feinfühlig und zugewandt reagiert haben, um sie für die Wahrnehmung der kindlichen Bedürfnisse sukzessive zu sensibilisieren. Teilweise sind wir in unserer Arbeit damit konfrontiert, dass sich Eltern mit der Herausnahme ihres Kindes aus ihrer Familie völlig zurückziehen. Sie nutzen die Gesprächs- und Besuchsangebote unserer Einrichtung nicht und besuchen ihre Kinder während des Unterbringungszeitraums nur sporadisch oder gar nicht. Diesem Verhalten könnten Schwellenängste, Versagensängste oder große Widerstände zugrunde liegen. Hierbei versuchen wir, den Eltern abweichende Angebote zu unterbreiten, wie beispielsweise sie im eigenen Haushalt oder ggf. auf „neutralem Boden“, in einem Café etc. zu treffen, um diese Ängste abzubauen. Die Arbeit mit den Bezugspersonen, den sorgeberechtigten Eltern, spielt für den Prozess der weiteren Perspektivklärung des Kindes eine entscheidende Rolle. In aller Regel wünschen sich die Eltern, wieder gemeinsam mit ihren Kindern leben zu können. Die Problemlagen und die Wege zu diesem Ziel sind sehr differenziert zu betrachten. In der gemeinsamen Arbeit mit den Eltern geht es erst einmal darum, sie für diesen Prozess zu gewinnen. Häufig können Eltern nicht nachvollziehen, weshalb das Jugendamt sich dazu veranlasst sah, ihnen das Kind „wegzunehmen“. Oftmals haben Eltern noch keine oder wenig Grenzerfahrungen im Zusammenleben mit ihren Kindern gemacht. Sie erleben ihre Kinder teilweise als unauffällig und anspruchslos, was bedeuten kann, dass sie möglicherweise davon ausgehen, einen gefütterten Säugling oder ein zu Bett gebrachtes Kleinkind stundenweise oder über eine gesamte Nacht unbeaufsichtigt in der Wohnung zurücklassen zu können. Oft geht es dann um Aufklärung: den Eltern die entwicklungsspezifischen Bedürfnisse ihres Kindes nahezubringen und sie in die Lage zu versetzen, diese sukzessive wahrzunehmen und darauf in geeigneter Weise einzugehen. Darüber hinaus geht es teilweise auch um eine punktuelle, gut organisierte Entlastung der Eltern, was ihnen die Möglichkeit gibt, neben ihrer Rolle als Mutter und Vater auch noch Partner und Mensch mit eigenen Bedürfnissen und Hobbys zu sein. Häufig wird auch die Aushandlung der jeweiligen Bedürfnisse thematisiert - wann kommen die des Kindes und wann die eigenen? Dem Auf- und Ausbau sozialer Netzwerke kommt in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zu. Diesen Themen nähern sich die Betreuerinnen häufig über die Biografiearbeit mit den Eltern. Sie werden in die Lage versetzt, das Erleben der eigenen Kindheit zu betrachten und Muster im eigenen Lebenslauf zu erkennen. Dazu sind ein Mindestmaß an Reflexionsfähigkeit und der Wille zur Veränderung der eigenen Lebenssituation seitens der Eltern ausschlaggebend. Da es nicht möglich ist, im kurzen Unterbringungszeitraum von wenigen Wochen therapeutisch mit den Eltern zu arbeiten, gelingt es häufig nur, eine Problemeinsicht und einen damit verbundenen Willen zur Veränderung anzuregen. Dies schließt möglicherweise eigene Therapien etc. für die Eltern ein und bestärkt sie darin, die entsprechenden Schritte zu gehen. Eine tatsächliche Rückführung des Kindes im Anschluss an den kurzen, meist 6 bis 12 Wochen umfassenden Krisenunterbringungszeitraum ist oftmals nicht möglich. Häufig sind die Problemlagen in der Herkunftsfamilie zu vielschichtig und schwerwiegend. In vielen Fällen 24 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen wird eine weiterführende Unterbringung in einer Pflegefamilie, Erziehungsstelle oder einer anderen Einrichtung notwendig. Hierbei ist es wichtig, dass die Eltern diesen Schritt nachvollziehen können und ihr Kind weiterhin begleiten, indem die Besuchskontakte auch in einer weiterführenden Einrichtung aufrechterhalten werden. Die Betreuerinnen der Kleinkindkrisengruppe vermitteln den Eltern in diesem Fall, dass sie „gute Eltern“ sind und verantwortungsbewusst handeln, indem sie die Entscheidung treffen, dass ihr Kind auch über einen mittelfristigen Zeitraum untergebracht wird und noch nicht im Anschluss an die Krisenunterbringung in die Herkunftsfamilie zurückkehrt. Am Ende des Klärungsprozesses steht ein umfassender individueller Evaluationsbericht der Kleinkindkrisengruppe, der eine Empfehlung enthält, unter welchen Rahmenbedingungen wir eine ganzheitliche positive Entwicklung für das Kind sehen. Diesen Bericht kennen die Eltern, bevor er dem Jugendamt zugeht. Der Evaluationsbericht wird unter Einbeziehung der Erfahrungen und Wahrnehmungen des gesamten Teams von der Bezugsbetreuerin erstellt. Ein regelmäßiger Austausch hierzu findet in den wöchentlichen Teamberatungen statt. Darüber hinaus ist die Möglichkeit der supervisorischen Bearbeitung eines Falls in den regelmäßig 14-tägig stattfindenden extern angeleiteten Supervisionen gegeben. Weitere Elemente der pädagogischen Arbeit Abschließend hier noch einige vertiefende Aspekte zur Illustration der pädagogischen Arbeit mit den Kleinkindern und Säuglingen in unserer Kurzzeitgruppe. Nachdem sich die Kinder eingelebt haben, eine - wegen der Kurzunterbringung nicht zu enge - Beziehung zu ihnen aufgebaut ist, beginnt die differenzierte, auch altersdifferenzierte und individuelle Förderung. Sie bezieht sich aufgrund der Konzeption der Einrichtung häufig auf das Erkennen von beobachtbaren Auffälligkeiten im Verhalten, auf die individuellen Stärken sowie die teilweise erlernten Rollenmuster. Aufgrund der Kürze der Unterbringungszeit kann eine Veränderung in den Verhaltensmustern sowie die Hinzuziehung von speziellen Fachdiensten häufig nur begonnen bzw. empfohlen werden. Die gesundheitliche Versorgung nimmt in diesem Altersbereich einen hohen Stellenwert ein, da auf diesem Gebiet bereits kurzfristige Interventionen einen langfristig positiven Effekt bewirken können. Hierbei kommt insbesondere der Ernährung, den regelmäßigen Aktivitäten an der frischen Luft sowie der Förderung durch Physiotherapie, der Sprachentwicklung und Konzentrationsfähigkeit in Abhängigkeit vom Kindesalter eine hohe Bedeutung zu. Darüber hinaus werden die Kinder regelhaft durch geeignete Angebote und Spiele im Bereich Bewegung, Wahrnehmung, Sensorik, Sprache und Ausdruck gefördert. Soziales Gruppenverhalten im Rahmen von Alltags- und Spielsituationen wird altersabhängig gefördert. Häufig wirkt sich ein Verbleib der Kinder in den von ihnen nach Möglichkeit weiterhin besuchten Kindertagesstätten stabilisierend und fördernd aus. Sie verbleiben damit in einem Teil der ihnen bekannten sozialen Zusammenhänge, kontinuierliche Beziehungserfahrungen werden aufrechterhalten. Dies wird durch unsere Einrichtung unterstützt, indem wir die Hol- und Bringedienste gewährleisten sowie mithilfe von freiwilligen Unterstützungskräften den anfallenden Aufwand in der Regel tragen. Unfallschutz, hygienische Bedingungen, Spiel- und Fördermaterialien, pädagogische und medizinische Qualifikation sind auf hohem Niveau gegeben. Die Betreuerinnen sind neben der fachlichen Qualifikation mit einem hohen Maß an Empathie für die Kleinkinder und auch für ihre Herkunftsfamilien und einem außerordentlichen Engagement ausgestattet. 25 uj 1 | 2012 Kleine Kinder in stationären Einrichtungen Wie geht es also weiter für diese Kinder? Wie bereits ausgeführt, ist eine Rückführung in den Haushalt der Herkunftsfamilie im Anschluss an die Krisenunterbringung häufig aufgrund der vielschichtigen und schwerwiegenden Problemlagen nicht möglich. Es handelt sich zumeist um Multiproblemfamilien. Eine Berliner Richtlinie besagt, dass Kinder bis zum vollendeten 6. Lebensjahr in Pflegefamilien unterzubringen sind, um ihnen die Möglichkeit zu geben, in familiären Strukturen aufzuwachsen. Gibt es nun, 6 bis 12 Wochen nach der Akutaufnahme, die Pflegefamilie, die es vor diesem Zeitraum nicht gab? Leider nein. Oft stehen im Anschluss an den Zeitraum der Krisenunterbringung nicht genügend adäquate Unterbringungsformen für Säuglinge und Kleinkinder zur Verfügung. Hierbei geht es um Pflegefamilien, kleine Erziehungsstellen mit wenigen Plätzen (z. B. zwei Plätzen) oder familienanaloge Wohngruppen im kleinen Rahmen, die auf den Kleinkindbereich ausgerichtet sind. Somit kann sich eine Überleitung in eine mittel- oder längerfristige Unterbringung, in der den Kindern gleichbleibende Bezugspersonen zur Verfügung stehen, die ihnen somit auch weitergehende, intensivere Beziehung und Bindung bieten könnten, lange hinziehen. In unserem Setting der Kleinkindkrisengruppe mit 6 Kleinkindern und den beschriebenen Abläufen sind mehr erwachsene Personen als Kontakt- und Bezugspersonen erforderlich, um temporär wechselnd den Tagesablauf sicherzustellen. Unsicherheit versus Vielfalt? ! Auch wenn es eine altersspezifisch aus- und eingerichtete Gruppe ist, die dem Kleinstkind geboten wird, es ist und bleibt eine Gruppe! Ein Kleinstkind hat den höchsten individuellen Bedarf, den man sich vorstellen kann, und man sollte diesem so gerecht wie nur möglich werden. Wir sehen hier unsere Grenzen und Risiken als Gruppenangebot für diese Altersgruppe. Jedoch sehen wir auch, dass die Kleinkindkrisengruppe beim aktuellen Erziehungshilfebedarf ein notwendiges Angebot im Hilfespektrum darstellt. Ist der Tag gekommen, dass Eltern und Kindern in Not- und Krisensituationen ausreichend familiäre Ressourcen oder ausreichend professionelle Bereitschaftspflegeeltern zur Verfügung gestellt werden können, werden wir uns gerne einem neuen Aufgabenbereich zuwenden. Bis dahin bemühen wir uns, in dieser Krisenzeit, die die Kleinkinder und Säuglinge bei uns verbringen, den Kleinen und Kleinsten so viel Wärme, Schutz, Versorgung, Geborgenheit und Förderung und ihren Eltern so viel Rat und Anleitung zu geben, wie es uns möglich ist. Kerstin Lack Ralf Schlüter Kinderwohnprojekt casablanca Berlin-Pankow Strelitzer Straße 60 10115 Berlin rschlueter@g-casablanca.de
