unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2012.art13d
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Jugendhilfeangebote für linksautonome Jugendszenen? Ergebnisse einer Bestandsaufnahme in Hamburg
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Thomas Möbius
Anja Wendland
Medien und Politik haben in den letzten Jahren verstärkt die Frage aufgeworfen, ob Jugendhilfe auch auf Jugendliche reagieren sollte, die im Kontakt mit linksautonomen Szenen stehen bzw. diesen zugeordnet werden und in diesem Kontext auch gewalttätig auftreten. Auslöser hierfür waren u. a. Auseinandersetzungen im Rahmen von Demonstrationen in sogenannten „Szenestadtteilen“ und Sachbeschädigungen in Form von angezündeten Autos insbesondere in Berlin und Hamburg, bei denen auch Jugendliche aus linksautonomen Szenen beteiligt gewesen sein sollen.
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133 unsere jugend, 64. Jg., S. 133 - 139 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art13d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Jugendhilfeangebote für linksautonome Jugendszenen? Ergebnisse einer Bestandsaufnahme in Hamburg Medien und Politik haben in den letzten Jahren verstärkt die Frage aufgeworfen, ob Jugendhilfe auch auf Jugendliche reagieren sollte, die im Kontakt mit linksautonomen Szenen stehen bzw. diesen zugeordnet werden und in diesem Kontext auch gewalttätig auftreten. Auslöser hierfür waren u. a. Auseinandersetzungen im Rahmen von Demonstrationen in sogenannten „Szenestadtteilen“ und Sachbeschädigungen in Form von angezündeten Autos insbesondere in Berlin und Hamburg, bei denen auch Jugendliche aus linksautonomen Szenen beteiligt gewesen sein sollen. Die Erkenntnislage zur Lebenssituation von Jugendlichen, die sich selbst der linksautonomen Szene zuordnen bzw. dieser durch Jugendhilfe, Polizei, Verfassungsschutz etc. zugerechnet werden, ist jedoch relativ gering. Vor diesem Hintergrund wurde das isp im Jahr 2010 vonseiten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) beauftragt, eine Studie durchzuführen, in deren Mittelpunkt die Lebenslagen von jungen Menschen in linksautonomen Szenen stehen sollten, verbunden mit der Frage, inwieweit Jugendliche in linksautonomen Szenen eine Rolle spielen und - sofern dies der Fall ist - ein Bedarf nach Angeboten der Jugendhilfe vonseiten der Jugendlichen selbst wie auch von ExpertInnen aus verschiedenen Feldern gesehen wird. Die Grundannahme dieser Bestandsaufnahme war insofern, dass die Klärung der Frage nach möglichen (neuen) Zugängen der Jugendhilfe zu jungen Menschen in linksautonomen Szenen bzw. nach der Legitimierung der Jugendhilfe, in diesem Kontexten aktiv zu werden, zunächst einmal Kenntnisse über diese Szenen und insbesondere über die Präsenz von Jugendlichen (! ) in den von Erwachsenen gebildeten Szenen erforderlich macht. Erst auf Basis von Prof. Dr. Thomas Möbius Jg. 1955; Diplom-Psychologe, Sonderpädagoge M. A., Mitarbeiter am Institut für Soziale Praxis (isp) der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg Anja Wendland Jg. 1969; Diplom-Sozialpädagogin, Mitarbeiterin am Institut für Soziale Praxis (isp) der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg 134 uj 3 | 2012 Linksautonome Jugendszenen einer Beantwortung dieser Fragen kann gegebenenfalls über Handlungsansätze sinnvoll nachgedacht werden. Das Ziel des Forschungsvorhabens bestand deshalb in einer multiperspektivischen Bestandsaufnahme zur Klärung der aufgeworfenen Fragen in Form von Literaturrecherchen und der Erfassung unterschiedlicher Einschätzungen durch ExpertInnen, u. a. durch Träger der Jugendhilfe, andere Institutionen in den Stadtteilen, Jugendbehörde, Verfassungsschutz und Justiz. Ein weiterer Baustein des Forschungsvorhabens war es, Jugendliche aus linksautonomen Szenen selbst zu Wort kommen zu lassen und ihre Meinungen und Wünsche an besondere Angebote zu erfassen. Letzteres konnte jedoch aufgrund der ablehnenden Haltung seitens der linksautonomen Szenen wie auch einiger Träger nicht umgesetzt werden, da die Akzeptanz gegenüber dem Vorhaben nicht gegeben war. In den Interviews mit ExpertInnen vor allem aus Hamburg sollte exemplarisch die Situation in Hamburg in den Blick genommen werden, weil Hamburg neben Berlin als ein besonderes Zentrum der Aktivitäten der linksautonomen Szene gilt. Insbesondere das sogenannte Schanzenviertel und der angrenzende Hamburger Bezirk Altona gelten als relevante Orte für Aktivitäten der linksautonomen Szene, weshalb die Forschung sich auf diese Quartiere beziehungsweise diesen Bezirk konzentrierte. Stand der Forschung und Begriffsklärungen Im ersten Schritt der Studie wurde der bisherige Stand der Forschung zur Thematik „linksautonome Szenen“ erfasst. Diese Recherche hat bestätigt, dass der aktuelle Forschungsstand sehr dünn ist, sodass nur auf sehr wenige Veröffentlichungen Bezug genommen werden konnte. Dies gilt insbesondere für den Forschungsgegenstand „Linksautonome Jugendgruppen“. Der geringe Erkenntnisstand über „die Linksautonomen“ allgemein spiegelt sich z. B. auch bei Ferchhoff (2011) darin wider, dass die übrigen 24 Jugendszenen, die in der pluralisierten Multioptionsgesellschaft ohnehin wenig einheitlich beschreibbar sind, wie etwa Hooligans, Punks, Computerkids, Skinheads usw., sehr viel ausführlicher dargestellt sind als die „Linksautonomen“. In anderen Werken, etwa im Sammelband von Möller (2010) zur Kooperation von Sozialer Arbeit und Polizei oder bei Farin (2001), taucht diese Gruppe auch im erweiterten Sinn nicht gesondert auf. Dieser Befund steht im Gegensatz zu einigen medialen und behördlichen Darstellungen dieser Szene (vgl. bspw. Freie und Hansestadt Hamburg, Landesamt für Verfassungsschutz 2010), die jedoch auch dort mit den sogenannten „erlebnisorientierten“ Jugendlichen, denen keine politischen Motive zugeschrieben werden, vermischt oder aber unter die Kategorie „linksextrem“ subsumiert werden (vgl. Griese [2000] zur Konstruktion von jugendlichen Subkulturen und [Jugend-]Gewalt). In der Forschung wird zudem kaum zwischen Jugend- und Erwachsenenszenen differenziert, sondern primär auf sogenannte politische Szenen, zu denen auch Jugendliche gehören sollen, fokussiert. Darüber hinaus wird in den Kontexten, die ein bearbeitungswürdiges Problem definieren, meist mit dem unklaren, weil ausschließlich normativ definierten Begriff des Extremismus gearbeitet. Von diesem normativen Begriff grenzt sich diese Forschung jedoch ab. Ebenso äußerten sich auch die WissenschaftlerInnen auf dem Hearing „Linksextremismus“ im Rahmen der Initiative „Demokratie stärken“ am 9. 6. 2010 in Berlin dahingehend, dass (Links-)Extremismus weder inhaltlich noch phänomenologisch eindeutig sei (vgl. Glaser/ Greuel 2010). Gegen die begriffliche Gleichstellung mit dem Rechtsextremismus sprechen insbesondere die bedeutsamen ideologischen Unterschiede, etwa die Ungleichwertigkeitsvorstellungen als 135 uj 3 | 2012 Linksautonome Jugendszenen Kernelement des Rechtsextremismus gegenüber den Gleichheitsvorstellungen im linken Spektrum. Auch radikal linke Gruppen vertreten, so die ExpertInnen, vielfach Werte und Ziele, die möglicherweise mit problematischen oder nicht akzeptablen Mitteln verfolgt würden, inhaltlich jedoch durchaus demokratisch beziehungsweise mit einer Demokratie kongruent seien. Auch mit Blick auf die Mittel würden Unterschiede deutlich, die eine Gleichsetzung von „Links“ und „Rechts“ sowie die Verwendung des Extremismusbegriffes in diesem Zusammenhang verbieten: So erfordere im linken Spektrum Gewalt immer eine spezifische Legitimation, was auch Hoffman (2009) feststellt. Bei Neugebauer (2010, 7) wird ebenfalls die medial und zum Teil politisch vertretene Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus abgelehnt. Linksextremismus ist „kein eigener Forschungsgegenstand“ (ebd., 6). Weder inhaltlich, phänomenologisch noch in der Selbstbeschreibung lassen sich Autonome, Anarchisten und Kommunisten unter einem Begriff subsumieren. Aus diesem Grunde wurde in diesem Forschungsprojekt der Begriff „linksautonom“ verwendet, da er der Selbstbeschreibung der Gruppe eher entspricht. Resümierend für diese Gruppe bestätigt sich damit Mletzkos (2010, 10) Befund für die Bundesrepublik Deutschland, der sich jedoch ebenfalls nicht auf Jugendliche bezieht: „‚Die Autonomen‘ im Sinne einer genau eingrenzbaren Gruppierung gibt es nicht. Das Verhaltensspektrum reicht von passagerem, eher erlebnisorientiertem Agieren - hierbei gibt es Berührungspunkte mit lebensstilistisch verwandten Szenen wie etwa Punks - bis zum auf längere Dauer gestellten klandestinen Handeln. Gleiches gilt für die Denkstrukturen: Ein einheitliches ‚Weltbild‘ der Autonomen sucht man vergebens - am ehesten greift wohl die Selbstcharakterisierung als ‚Suchbewegung‘. Verbindendes Element ist allerdings der Konsens über Militanz als Mittel des politischen Konfliktaustrags. Das staatliche Gewaltmonopol wird grundsätzlich abgelehnt. … Schätzungen der Ämter für Verfassungsschutz zufolge - andere Daten gibt es nicht - bewegen sich die Zahlen seit den 1990er Jahren auf einem Niveau von etwa 5000 bis 6000 Anhängern, mit bisherigen Höhepunkten 2000/ 2001 (7000) und 2009 (6600).“ Nicht nur der letzte Satz, in dem der Verfassungsschutz als einzig verfügbare Quelle angegeben wird, unterstreicht, dass „der sozialwissenschaftliche und kriminologische Forschungsstand zu dem Phänomenfeld autonome Szene … äußerst dünn [ist]“ (ebd.). Auf dieser Basis begründet sich der Fokus des Forschungsprojektes auf linksautonome Jugendliche und junge Menschen im Sinne des SGB VIII und das offene Forschungsdesign. Die erwachsenen Autonomen spielten bei der Fragestellung nach dem möglichen Handlungsbedarf der Jugendhilfe und ihrer Legitimation keine Rolle. Es wurde demzufolge zunächst nach einer Definition des Forschungsgegenstandes sowie nach dem politischen Hintergrund der Jugendlichen gefragt. Dieser wird den linksautonomen Jugendlichen in den unterschiedlichen Diskursen teilweise abgesprochen. Ihre Verhaltensweisen werden entweder als jugendtypische Suche nach dem „Kick“ (vgl. Farin 2001) und/ oder als entwicklungsphasentypischer bzw. aus gesellschaftlichen und ökonomischen Konflikten resultierender Protest eingeordnet (vgl. Reutlinger 2009, 294). Andere Begründungen reduzieren die Motive der Jugendlichen - als kleinsten gemeinsamen Nenner - einzig auf das Ziel, das politische System überwinden zu wollen, oder titulieren Jugendliche dieser Szenen als „unpolitische Idioten“ (Spiegel Online, 24. 5. 2011). Teilweise wird jedoch gerade den autonomen und anderen so genannten linken Gruppen eine besondere politische Motivation zugeschrieben (vgl. Lützinger 2010, 44, mit weiteren Nachweisen). 136 uj 3 | 2012 Linksautonome Jugendszenen Ergebnisse der Expertenbefragung Kern des Forschungsvorhabens war neben der Literaturrecherche die Befragung der ExpertInnen. Für die Interviews waren wie eingangs beschrieben ursprünglich drei Personengruppen vorgesehen: 1. ExpertInnen aus dem Bereich Sozialwissenschaften und Verwaltung (P1), 2. ExpertInnen aus der Praxis (Jugendhilfe und andere praxisnahe Organisationen) (P2), die in (direktem) Kontakt zu linksautonomen Jugendlichen stehen, und 3. Jugendliche aus linksautonomen Szenen. Dieses Vorhaben, drei unterschiedliche Gruppen zu interviewen, konnte jedoch, wie schon erwähnt, nur für die Personengruppen P1 und P2 in die Tat umgesetzt werden. Die kritischen Debatten und Protestaktionen, die im Rahmen dieser Studie und insbesondere des dahinter stehenden Programms des BMFSFJ (vgl. Bundesprogramm „Initiative Demokratie stärken“) entstanden sind, führten zu starken Irritationen und zu erheblichen Zugangsschwierigkeiten nicht nur zu einzelnen Professionellen, sondern auch zu den Jugendlichen selbst. Es liegen deshalb ausschließlich Ergebnisse für die Interviewgruppen P1 und P2 vor. Hier konnten insgesamt 18 Interviews mit ExpertInnen aus verschiedenen Bereichen mit sehr unterschiedlichen beruflichen Berührungspunkten zum Thema linksautonome Jugendliche geführt werden. Das Forschungsdesign der Bestandsaufnahme war so angelegt, dass mithilfe der qualitativen Expertenbefragungen gemeinsame wie auch unterschiedliche Deutungen des Forschungsgegenstandes „Linksautonome Jugendszenen“ herausgearbeitet werden konnten. Hiermit sollte insbesondere auch der Frage nachgegangen werden, welche sozialen bzw. medialen Konstruktionen von linksautonomen Jugendszenen vorhanden sind. Die Antworten der ExpertInnen, die im Rahmen der Studie gebündelt und ausgewertet wurden, lassen die folgenden zusammenfassenden Thesen zu. 1. Die Zugänge der beiden Expertengruppen „Wissenschaft und Verwaltung“ (P1) und „Praxis“ (P2) zu linksautonomen Szenen differieren stark. Der Kenntnisstand über linksautonome (Jugend-)Szenen ist allgemein gering. Konkretes Wissen bzw. Eindrücke werden vor allem durch institutionell eingebundene Beobachtungen der Szene, durch professionelle Kontakte zu einzelnen Jugendlichen oder auch durch private Eindrücke geprägt. Ein fundiertes Wissen über linksautonome Szenen findet sich bei den ExpertInnen aus Verwaltung und Wissenschaft nur dort, wo konkret Bezug auf systematische Beobachtungen genommen werden kann. Dies bestätigt die Einschätzung, dass sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu linksautonomen Jugendszenen zur Meinungsbildung nicht hinzugezogen werden können, da sie zielgruppenspezifisch und forschungsgeleitet nicht vorliegen. Die Gründe hierfür sind vielfältig; neben einem Forschungsdefizit liegen sie u. E. auch in der „Ungenauigkeit“ der Zielgruppenbezeichnung begründet bzw. im Hinblick auf die Altersbegrenzung auf Jugendliche (im Alter von 14 bis 18 Jahren) in der annehmbaren geringen Präsenz dieser Altersgruppe in den Szenen. Bei dem zweiten Personenkreis P2 wird der Blick auf die Zielgruppe erwartungsgemäß stark von Begegnungen bzw. Betreuungen in der sozialpädagogischen Praxis geprägt. Hier stand weniger die„Szene“ im Vordergrund, sondern eher einzelne Jugendliche. Von diesen wird angenommen, dass sie sich zur linksautonomen Szene gehörig fühlen bzw. zu Gruppen, die im Rahmen von Freizeitaktivitäten begleitet werden (z. B. Fan-Projekte) und mit linksautonomen Szenen in Kontakt stehen. Ein professioneller Blick auf eine linksautonome Jugendszene - und nicht auf einzelne Jugendliche - ist damit auch hier nur in Ansätzen möglich. Der Grund liegt vor allem darin, dass die Kontakte der Professionellen zu den Jugendlichen im Rahmen der Jugendhilfe (Hilfen zur Erziehung) oder der Jugendarbeit (Streetwork und Fan- 137 uj 3 | 2012 Linksautonome Jugendszenen Projekte) stattfanden. Bei beiden sozialpädagogischen Ansätzen liegt der Fokus nicht auf einer politischen Zuordnung von Akteuren, es geht vielmehr um Einzelhilfen bzw. um Gruppenangebote für junge Menschen in zum Teil schwierigen Lebenslagen, die Unterstützung bzw. Freizeitgestaltung suchen. 2. Die Beschreibung der Rolle von Jugendlichen in linksautonomen Szenen wird in beiden Expertengruppen durch fehlende Kenntnisse und/ oder Skepsis bis hin zu Ablehnung im Hinblick auf die Zuordnung von Jugendlichen zu linksautonomen Szenen (oder auch anderen Gruppen) geprägt. Mehrere ExpertInnen mit unterschiedlichen Zugängen formulieren ihre fehlenden Kenntnisse bzw. äußern deutlich ihre Skepsis, wenn es darum geht, Jugendliche als„linkautonom“ zu beschreiben, oder wollen eine solche Zuschreibung gar nicht erst vornehmen. Sie vermuten hingegen, dass die Präsenz von Jugendlichen in linksautonomen Szenen deutlich von dem zunehmenden Eventcharakter von Demonstrationen oder Veranstaltungen gerade im Schanzenviertel beeinflusst wird. Die Rolle der Jugendlichen wird bei diesen Veranstaltungen insofern eher als die von unpolitischen Co-Akteuren (z. T. mit einem beobachteten erhöhten Gewaltpotenzial im Vergleich zu anderen Akteuren auf Demonstrationen), die etwas erleben wollen, beschrieben als die von politisch motivierten und handelnden Jugendgruppen. 3. Der Anteil von Jugendlichen bis zu 18 Jahren in linksautonomen Szenen wird mehrheitlich eher gering bis unbedeutend eingeschätzt. Es wird jedoch auch darauf hingewiesen, dass im Umfeld von Demonstrationen zunehmend auch Jugendliche auftreten, deren politische Motivation an den Veranstaltungen eher angezweifelt wird. Die Skepsis bei der Beantwortung der Frage nach der Präsenz von Jugendlichen in linksautonomen Szenen kann als ein deutlicher erster Hinweis darauf verstanden werden, dass linksautonome Szenen nur in Ausnahmen eine Zielgruppe für Jugendhilfe und Jugendarbeit sind und dass die soziale Konstruktion „linksautonome Jugendszenen“ nicht die Erfahrungen und Positionen der ExpertInnen widerspiegelt. 4. Trotz der auf der einen Seite von den meisten ExpertInnen angenommenen geringen Präsenz von Jugendlichen in linksautonomen Szenen wird der Szene eine hohe Attraktivität gerade auch für junge Menschen attestiert. Die Rote Flora im Hamburger Schanzenviertel als zentraler Treff- und Veranstaltungspunkt der Szene trägt aus Sicht einiger ExpertInnen sehr zu der Attraktivität bei. Die Attraktivität der linksautonomen Szene wird von mehreren Befragten mit dem Begriff der „Aktion“ oder auch - bei den PraktikerInnen - mit „Abenteuer“ verbunden. Vor allem die Demonstrationen im Schanzenviertel mit den entsprechenden Konfrontationen werden aus Sicht der befragten ExpertInnen dazu genutzt, ein Bedürfnis nach Erlebnis und Abenteuer zu stillen. Darüber hinausgehende Aktionen, wie das Anzünden von Pkws im gesamten Stadtgebiet, werden hingegen nicht mit jungen linksautonomen Menschen in Verbindung gebracht. Außerdem wird die Attraktivität linksautonomer Szenen für Jugendliche mit ihrem Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer in vielerlei Hinsicht angesagten Gruppe begründet, in der sie Gleichgesinnte finden, sich politisch engagieren und ihr Unbehagen über die gesellschaftlichen Verhältnisse artikulieren können. 5. Die Bedarfseinschätzung der ExpertInnen beider Personenkreise an Jugendhilfeangeboten fällt deutlich verhalten bis ablehnend aus. Es werden vereinzelt Ansatzmöglichkeiten für eine Angebotsentwicklung formuliert, verbunden jedoch auch hier mit dem Hinweis, dass es sich dabei nicht um spezifisch ausgerichtete Jugendhilfeangebote an linksautonome Ju- 138 uj 3 | 2012 Linksautonome Jugendszenen gendszenen handeln sollte, sondern um Angebote, die allgemein auf Missstände in der sozialräumlichen Jugendarbeit in den Szenevierteln bzw. auf problematische Lebenslagen einzelner Jugendlicher Bezug nehmen. Neben einer grundsätzlichen Infragestellung der Legitimation der Jugendhilfe, in linksautonomen Szenen aktiv zu werden, werden vor allem folgende Argumente gegen eine Angebotsentwicklung genannt: Es wird kein Bedarf an speziellen Angeboten Sozialer Arbeit für die Zielgruppe gesehen. Die bestehenden Unterstützungsstrukturen der Jugendhilfe und Jugendarbeit mit ihren nicht spezialisierten und Stigmatisierung vermeidenden Konzepten können hingegen Jugendliche auch aus linksautonomen Szenen bei Bedarf Unterstützung bieten und werden akzeptiert. Gleichzeitig wird auch deutlich darauf verwiesen, dass kein Unterstützungsbedarf bzw. keine Akzeptanz staatlich geförderter Angebote seitens der linksautonomen Szene zu erwarten ist, da sie mit dem Autonomie-Konzept nicht vereinbar sind. Trotz dieser Skepsis bzw. ablehnenden Haltung gegenüber einem Engagement der Jugendhilfe in linksautonomen Szenen werden von einzelnen ExpertInnen aus Forschung und Administration Ideen formuliert, die darauf zielen, die für alle Akteure im Stadtteil Schanzenviertel unbefriedigende Situation steigender Gewalt vor allem bei Demonstrationen zu lösen („Runder Tisch“). Beide Interviewkreise äußern Ansatzpunkte, um die Angebotsentwicklung für Jugendliche im Stadtteil weiter zu qualifizieren (Stichwort: Freiräume schaffen, Streetwork, Wohnraum zur Verfügung stellen etc.), um dadurch auch die Lebenslagen im Stadtteil für Jugendliche, die sich zu linksautonomen Szenen zählen, zu verbessern. 6. Wie schon bei der Einschätzung der ExpertInnen zu einer Angebotsentwicklung für linksautonome Jugendszenen deutlich formuliert, wird auch die Entwicklung von Modellprojekten von ExpertInnen fast ausnahmslos deutlich negativ eingeschätzt. Die negative Haltung gegenüber Modellprojekten für (linksautonome) Jugendszenen wird auch aus dem Grund deutlich ablehnend beurteilt, da Modellprojekte grundsätzlich durch ihre zeitliche Befristung nicht die notwendige Möglichkeit einer Etablierung von Angeboten in den Jugendszenen bieten können. Es wird jedoch auch hier von mehreren ExpertInnen darauf hingewiesen, dass ein Ausbau von Angeboten der offenen Jugendarbeit vor allem im Schanzenviertel für sinnvoll gehalten wird. Fazit und Empfehlungen Die Präsenz von Jugendlichen aus der linksautonomen Szene vor allem in der Altersgruppe unter 18 Jahren wird tendenziell als marginal eingeschätzt. Ältere Jugendliche und Jungerwachsene sind in der Szene vertreten, kommen aber allein schon aufgrund ihres Alters nur im Einzelfall als LeistungsempfängerInnen für Maßnahmen nach dem SGB VIII infrage. Ähnlich verhält es sich mit der offenen Kinder- und Jugendarbeit, deren Angebote eher auf jüngere Menschen ausgerichtet sind. Junge Menschen, die vor allem auf Demonstrationen durch Gewalttaten und Sachbeschädigung ordnungspolitisch auffällig werden, werden eher nicht der linksautonomen Szene zugerechnet, ihr Handeln entsprechend überwiegend nicht als „linkspolitisch“ motiviert eingeschätzt. Die Interviews machen eine Skepsis bzw. Ablehnung bei den ExpertInnen deutlich, linksautonome (Jugend-)Szenen als Gruppe(n) zu identifizieren. Die Existenz einzelner Jugendlicher mit Kontakten zu linksautonomen Szenen wird zwar vor allem von den PraktikerInnen bestätigt. Sie sind aber grundsätzlich durch die bestehenden Konzepte der Jugendhilfe und -arbeit kontaktierbar. Dies allerdings nicht vor dem Hintergrund ihrer Zugehörigkeit zu einer politischen Gruppe, sondern als Jugendliche, die in schwierigen Lebenslagen Unterstützung 139 uj 3 | 2012 Linksautonome Jugendszenen suchen bzw. die in ihrer Freizeit Angebote der Jugendarbeit nutzen. Darüber hinausgehende speziell auf linksautonome Jugendszenen orientierte Angebote werden nicht als sinnvoll erachtet. Die ExpertInnen sehen Jugendhilfe mehrheitlich nicht in der Pflicht, sich mithilfe von neuen Angeboten an linksautonome Jugendszenen oder auch einzelne Jugendliche aus der linksautonomen Szene zu wenden. Ein Unterstützungsbedarf durch Institutionen der Jugendhilfe und -arbeit leitet sich aus Sicht der meisten ExpertInnen nicht aus einer Zugehörigkeit zu einer politischen Szene ab. Angebote der Sozialen Arbeit hätten zudem auch wenig Chance, auf Akzeptanz in linksautonomen Szenen zu stoßen. Prof. Dr. Thomas Möbius Anja Wendland Institut für Soziale Praxis (isp) der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg Horner Weg 170 22111 Hamburg Tel. (0 40)6 55 91 24 43 tmoebius@rauheshaus.de awendland@rauheshaus.de Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2010/ 2011: Vielfalt tut gut. 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