eJournals unsere jugend 64/4

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2012.art16d
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2012
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Ehrenmorde in Deutschland Verbrechen gegen das Selbstbestimmungsrecht junger Migrantinnen

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2012
Dietrich Oberwittler
Julia Kasselt
Einige spektakuläre Mordfälle an jungen migrantischen Frauen haben das Thema "Ehrenmorde" seit kurzem in das öffentliche Bewusstsein in Deutschland (und anderen westeuropäischen Ländern) gerückt und Besorgnisse über die Lebenssituation von Frauen in muslimischen Einwanderergruppen verstärkt. Hatan Sürücü und Morsal Obeidi, die 2005 in Berlin bzw. 2008 in Hamburg von ihren Brüdern ermordet wurden, weil sie sich den streng-patriarchalen Verhaltensvorschriften ihrer Familien widersetzten und ein selbstbestimmtes, "westliches" Leben führen wollten, sind zu Symbolen der Unterdrückung von jungen muslimischen Frauen und der "Parallelgesellschaften" integrationsunwilliger MigrantInnen geworden. Die öffentliche Wahrnehmung des Phänomens Ehrenmord findet in einem gesellschaftspolitischen Rahmen statt, der von Kontroversen um Islamkritik und Multikulturalismus geprägt wird.
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166 unsere jugend, 64. Jg., S. 166 - 175 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art16d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Ehrenmorde in Deutschland Verbrechen gegen das Selbstbestimmungsrecht junger Migrantinnen von Dr. Dietrich Oberwittler Jg. 1963; Privatdozent Dr. phil., Soziologe, seit 1997 Referent und seit 2008 Forschungsgruppenleiter in der Abteilung Kriminologie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br. Ehrenmorde im Diskurs über „Parallelgesellschaften“ Einige spektakuläre Mordfälle an jungen migrantischen Frauen haben das Thema „Ehrenmorde“ seit kurzem in das öffentliche Bewusstsein in Deutschland (und anderen westeuropäischen Ländern) gerückt und Besorgnisse über die Lebenssituation von Frauen in muslimischen Einwanderergruppen verstärkt. Hatan Sürücü und Morsal Obeidi, die 2005 in Berlin bzw. 2008 in Hamburg von ihren Brüdern ermordet wurden, weil sie sich den streng-patriarchalen Verhaltensvorschriften ihrer Familien widersetzten und ein selbstbestimmtes, „westliches“ Leben führen wollten, sind zu Symbolen der Unterdrückung von jungen muslimischen Frauen und der „Parallelgesellschaften“ integrationsunwilliger MigrantInnen geworden. Die öffentliche Wahrnehmung des Phänomens Ehrenmord findet in einem gesellschaftspolitischen Rahmen statt, der von Kontroversen um Islamkritik und Multikulturalismus geprägt wird. Die Kriminalität der „Anderen“ wird von der Mehrheitsgesellschaft häufig als spektakulärer wahrgenommen als die eigene und eignet sich deswegen besonders zur Betonung kultureller Unterschiede. Dies kann erklären, warum dieses Thema nicht nur Frauenrechtlerinnen wie zum Beispiel von terre des femmes beschäftigt, sondern auch große Resonanz bei konservativen IslamkritikerInnen gefunden hat, während viele Migrations- und IslamwissenschaftlerInnen die kulturellen Hintergründe von Ehrenmorden bewusst niedrig bewerten, auch aus einer Schutzhaltung gegenüber MigrantInnen und der Idee des Multikulturalismus heraus (Korteweg/ Yurdakul 2010). Über die spektakulären Einzelfälle hinaus ist bislang jedoch sehr wenig über die Realität des Phänomens Ehrenmord in Deutschland bekannt. Wie häufig sind Ehrenmorde, wer sind die Opfer, wer die Täter, lassen sich Ehrenmorde klar von anderen Formen tödlicher Gewalt abgrenzen, und welche Rolle spielen dabei kul- Julia Kasselt, M. A. geb. 1980; Juristin und Kriminologin, seit 2009 Doktorandin in der International Max Planck Research School on Retaliation, Mediation and Punishment 167 uj 4 | 2012 Erzwungene Ehen turelle oder religiöse Traditionen? Nachdem die ersten Fallsammlungen von terre des femmes (Böhmeke 2005) und Bundeskriminalamt (BKA 2006) veröffentlicht wurden und einige wissenschaftliche Studien folgten (z. B. Cöster 2009; Kizilhan 2006), hat das Max- Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht im Auftrag des Bundeskriminalamts 2011 die erste umfassende empirische Studie durchgeführt, die auf einer breiten Datenbasis von 78 in Deutschland durchgeführten Strafverfahren in den Jahren 1996 bis 2005 aufbaut (Oberwittler/ Kasselt 2011). Wir wollen in diesem Aufsatz wesentliche Ergebnisse dieser Studie vorstellen und dabei besonders auf die Ehrenmorde eingehen, von denen Jugendliche und Heranwachsende betroffen sind. Was sind Ehrenmorde? Ehrenmorde sind keine eindeutig umschriebene Form tödlicher Gewalt. In den Studien werden unterschiedliche oder gar keine Definitionen verwendet, mit der Folge, dass auch die Anzahl und Struktur der Fälle recht unterschiedlich ausfallen. Häufig wird zum Beispiel angenommen, dass (fast) ausschließlich Frauen Opfer eines Ehrenmordes werden, obwohl der Anteil männlicher Opfer sehr hoch ist. Oft werden auch „Beziehungstaten“ in migrantischen Milieus z. B. im Kontext einer Scheidung als Ehrenmorde bezeichnet, ohne dass in jedem Einzelfall klar wird, was diese von Partnertötungen in der deutschen Mehrheitsbevölkerung unterscheiden. Im Kern zeichnen sich Ehrenmorde durch drei Elemente aus: ➤ Ein Ehrenmord wird vornehmlich an Frauen oder Mädchen durch ihre männlichen Verwandten begangen, ➤ er hat die Wiederherstellung der kollektiven Familienehre - nicht der Ehre des Täters allein - zum Ziel, ➤ er wird von den Tätern und darüber hinaus auch von einem relevanten sozialen Umfeld als eine angemessene Reaktion auf eine Verletzung von Verhaltensnormen durch das Opfer gerechtfertigt, die einer streng-patriarchalen, nur für Frauen geltenden Sexualmoral entspringen. Der „idealtypische“ Ehrenmord ist die Tötung eines Mädchens oder einer unverheirateten jungen Frau, die im „Familienrat“ beschlossen und von ihren Brüdern oder anderen Blutsverwandten ausgeführt wird, weil die Täter das Ansehen der Familie durch den Verstoß des Opfers gegen die Verhaltensnormen der sexuellen „Reinheit“ als beschmutzt ansehen. Der spezifisch weibliche Ehrbegriff (‘ird in Arabisch, namus in Türkisch) verlangt sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe und Treue in der Ehe und ist Ausdruck einer extremen patriarchalen Macht und Kontrolle über Frauen. Bereits die Weigerung einer jungen Frau, einen von ihrer Familie bestimmten Ehepartner zu akzeptieren, ebenso wie ein zu selbstständiger Lebensstil oder zu freizügige Kleidung können als Ehrverstöße empfunden werden. Es gehört zu den zentralen Pflichten der Männer, das Verhalten und die sexuelle „Reinheit“ der weiblichen Familienmitglieder, insbesondere der unverheirateten Mädchen und jungen Frauen, zu überwachen und Fehlverhalten zu ahnden. Die extremste Reaktion ist die Tötung der Frau zur Wiederherstellung der Familienehre. Der Ehrenmord ist eine durch die Regeln des patriarchalen Ehrkonzeptes legitimierte Reaktion auf einen Normbruch der Frau und wird daher auch als „außergerichtliche Hinrichtung“ oder Selbstjustiz bezeichnet (Pervizat 2004). In der Familie und in ihrem sozialen Umfeld, etwa der Dorfgemeinschaft oder der ethnischen Gemeinschaft in Deutschland, wird häufig ein starker Druck aufgebaut, der auf die Einhaltung dieser archaischen sozialen Normen drängt und dazu führen kann, die Tötung der Frau als notwendigen Ausweg erscheinen zu lassen (Sev’er/ Yurdakul 2001). Aus dieser Perspektive ist es konsequent, dass Ehrenmorde teilweise nicht verdeckt, sondern in der Öffentlichkeit begangen 168 uj 4 | 2012 Erzwungene Ehen werden, und die Täter kein Unrechtsbewusstsein zeigen. Dieses Ehrkonzept geht (ebenso wie Blutrache) auf vorislamische Traditionen in Viehzüchtergesellschaften des Mittelmeerraumes und Asiens zurück, in denen die patrilineare Großfamilie praktisch alle sozialen und rechtlichen Funktionen vereinte und der Wert von Mädchen nach deren Verheiratungschancen bemessen wurde. Ehrenmorde sind keine muslimische Tradition und kommen auch in christlichen Minderheiten in arabischen Ländern vor. Jedoch blockieren islamistische Parteien und Regierungen in vielen Ländern Reformen, die die traditionelle Nachsicht gegenüber Ehrenmördern im Strafrecht beenden und den Schutz von Frauen verbessern würden, und zudem ist islamischer Fundamentalismus ein Nährboden für die Anwendung von Gewalt gegen Frauen. Auch in den am stärksten von diesem Ehrkonzept geprägten Gesellschaften in Vorder- und Mittelasien wird natürlich nicht jeder Verstoß gegen diese patriarchalen Normen mit einem Ehrenmord geahndet. Über die tatsächliche Verbreitung des Ehrkonzepts und die Zahl der Ehrenmorde in Ländern wie der Türkei, Jordanien und Pakistan gibt es keine genauen Erkenntnisse. Jedoch liegt die jährliche Zahl der Ehrenmorde in Pakistan, dem Land mit den weltweit meisten Fällen, wahrscheinlich bei etwa 1.000 (UN 2002), und in einer aktuellen Befragung an jordanischen Schulen hielten es 39 % der Jungen für gerechtfertigt, dass Töchter wegen der Beschmutzung der Familienehre getötet werden (Ghuneim 2011). Ehrenmorde in Deutschland ereignen sich in Migrantengruppen, die aus Ländern mit einer Ehrenmord-Tradition eingewandert sind. Welche Bedeutung für sie diese Traditionen heute noch haben, welche Abschwächungen oder Wandlungen in der Migrationssituation stattfinden und in Zukunft stattfinden werden, darüber ist nur wenig bekannt. Unsere Forschungsergebnisse zeigen zumindest, dass diese Ehrkonzepte in ihrer tödlichen Konsequenz nur für eine sehr kleine und marginalisierte Minderheit innerhalb der Migrantengruppen handlungsleitend sind. Sind Partnertötungen Ehrenmorde? Die Mehrzahl der Studien schließt Beziehungstaten in die Definition von Ehrenmorden mit ein. Partnertötungen wegen einer Trennung oder vermuteten sexuellen Untreue stellen jedoch auch in westlichen Gesellschaften die häufigste Form tödlicher Gewalt gegen Frauen dar. Partnertötungen sind in allen Gesellschaften Ausdruck männlichen Besitzanspruchs über die Partnerin und deren Sexualität und bilden die Spitze eines Eisbergs von Dominanz- und Kontrollverhalten, Drohungen und gewaltsamen Misshandlungen (Wilson/ Daly 1993). Was aber unterscheidet eine als Ehrenmord bezeichnete Partnertötung bei MigrantInnen von einer „normalen“ Partnertötung bei Deutschen? Diese Unterscheidung lässt sich nur durch besondere Merkmale jedes Einzelfalls rechtfertigen. Ein zentraler Aspekt ist die ideelle Unterstützung - oder sogar Druck - des sozialen Umfelds, die Partnerin zu töten, der die Täter in der Auffassung bestärkt, im Interesse einer kollektiven Ehre zu handeln, sowie in nicht wenigen Fällen sogar die Mitwisserschaft und aktive Beihilfe von Verwandten bei der Tötung. Beides gibt es bei Partnertötungen in westlichen Gesellschaften nicht. Häufig ist jedoch ein eindeutiger Beleg für diese kollektive Dimension schwer zu finden. Einige Täter haben zwar die traditionellen Ehrbegriffe verinnerlicht, berufen sich auf sie und fühlen sich zur Tötung legitimiert, handeln jedoch ohne den Rückhalt oder sogar gegen den Willen ihrer Familie. In vielen Fällen ist eine klare Unterscheidung zwischen Partnertötungen, die als Ehrenmorde deklariert werden, und solchen, die als„normale“ Eifersuchtsdramen angesehen werden, unmöglich, da alle Partnertötungen auf einem Kontinuum männlicher Gewaltmotive anzuordnen sind (Sev’er/ Yurdakul 2001). Daher bleibt der Einschluss von Partnertötungen in die Diskussion über Ehrenmorde problematisch, und es ist sinnvoll, deutlich zwischen Ehrenmorden im engeren Sinne - Tötung einer jungen, meist noch unverheirateten 169 uj 4 | 2012 Erzwungene Ehen Frau (und teils auch ihres unerwünschten Partners) durch ihre Blutsverwandten - und anderen Formen von Ehrenmorden zu unterscheiden. Ergebnisse der Studie „Ehrenmorde in Deutschland 1996 - 2005“ Auf der Basis einer aufwendigen Volltextrecherche in den digitalen Archiven der Nachrichtenagentur dpa und vieler Regionalzeitungen, die über 90.000 Meldungen zu Tötungsdelikten berücksichtigte, sowie unter Einbeziehung der bisherigen Fallsammlungen schätzen wir die wahrscheinliche Zahl der Ehrenmorde, die in Deutschland strafrechtlich geahndet werden, in den zehn Jahren zwischen 1996 und 2005 auf etwa zwölf pro Jahr. Aber von diesen waren nur drei Fälle pro Jahr Ehrenmorde in dem eben erläuterten engeren Sinn. Wesentlich häufiger sind Partnertötungen in der Grauzone zwischen Ehrenmorden und „normalen“ Beziehungstaten. Ungeachtet der gestiegenen medialen Aufmerksamkeit gibt es keine Hinweise auf eine Zunahme von Ehrenmorden innerhalb dieses Zeitraumes. An je 35 % der Ehrenmorde im engeren Sinne waren mehrere Täter oder Opfer beteiligt. Bezogen auf alle 78 untersuchten Fälle waren 43 % der Opfer männlich, denn sehr oft wurden zusammen mit den jungen Frauen auch deren unerwünschte Partner ermordet, teilweise auch nur diese. Tatanlass war jedoch in jedem Fall der Verstoß von ehrbezogenen Verhaltensnormen durch eine Frau. 37 % der Opfer der Ehrenmorde im engeren Sinne waren zwanzig Jahre alt oder jünger, weitere 44 % zwischen 21 und 29 Jahre alt. Bei den Partnertötungen liegt der Altersschwerpunkt höher. 58 % der Täter bei Ehrenmorden im engeren Sinne waren Verwandte derselben Generation (also Brüder oder Cousins), 28 % gehörten der Elterngeneration an (Väter, Mütter, Onkel usw.). Nur 7 % der Täter waren weiblich, zum Beispiel Mütter, die sich an der Entscheidung und den Vorbereitungen der Tat beteiligt haben. Die niedrigen Fallzahlen und weitere Auswertungen zum Hintergrund der Täter zeigen, dass Ehrenmorde ein sehr marginales Phänomen und keineswegs typisch für migrantische Milieus in Deutschland insgesamt sind. Zwei Drittel der Fälle ereignen sich in Familien türkischer Herkunft, wobei sowohl ethnische Türken als auch ethnische Kurden vertreten sind. Bei ethnischen Türken dominieren Partnertötungen, bei ethnischen Kurden hingegen eher die Ehrenmorde im engeren Sinne und Fallkonstellationen, die an Blutrache grenzen. Die Täter sind zu über 90 % Migranten der ersten Generation. Sie halten sich überwiegend schon sehr lange in Deutschland auf, haben aber bis auf sehr wenige Ausnahmen keine deutsche Staatsangehörigkeit angenommen. Auch die jüngeren Täter unter 30 Jahren wurden mehrheitlich im Herkunftsland geboren und waren dort noch wichtigen Sozialisationseinflüssen ausgesetzt, bevor sie nach Deutschland kamen. Ihre Familien haben in vielen Fällen noch starke Verbindungen zu den Herkunftsländern. Dagegen spielen Angehörige der 2. oder 3. Einwanderungsgeneration, die in Deutschland geboren und hier vollständig sozialisiert wurden, keine bedeutende Rolle als Täter von Ehrenmorden. Dies spricht dafür, dass der Ehrenmord als traditionsgebundener Gewalttypus in der deutschen Aufnahmegesellschaft nicht über Generationen hinweg fortleben kann. Damit sind auch Befürchtungen unbegründet, Ehrenmorde stünden mit einer „Re-Ethnisierung“ in Deutschland geborener, jüngerer Migranten im Zusammenhang (Schiffauer 2005). Die Täter können beinahe ausnahmslos einer schlecht integrierten ethnischen Unterschicht zugeordnet werden. Die Auswertung des Bildungs- und Berufsstatus ergibt das eindeutige Bild einer homogenen Gruppe von bildungsfernen und niedrig qualifizierten Migranten, die un- oder angelernte manuelle Tätigkeiten ausüben oder arbeitslos sind. Dies belegt, dass Ehrenmorde in Deutschland in der marginalisierten ethnischen Unterschicht zu verorten 170 uj 4 | 2012 Erzwungene Ehen sind, die am wenigsten gut in die deutsche Gesellschaft integriert ist. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass dieses Phänomen in den sozial und wirtschaftlich stabilisierten und besser integrierten Einwanderungs-Milieus praktisch nicht vorkommt. Auch wenn Ehrenmorde also kulturelle Wurzeln haben, darf nicht übersehen werden, dass - wie bei fast allen Gewaltphänomenen - soziale Benachteiligungen und mangelnde Bildung eine bedeutende Ursache sind. Fallbeispiele von Ehrenmorden an Mädchen und jungen Frauen durch Familienangehörige Die eingangs erwähnten Fälle von Hatan Sürücü und Morsal Obeidi sind in der öffentlichen Wahrnehmung der Ehrenmorde in Deutschland sehr präsent. Hatan Sürücü wurde von ihrem noch minderjährigen Bruder auf offener Straße erschossen. Eine Tatbeteiligung weiterer Brüder wurde von den Justizbehörden vermutet, konnte jedoch nicht nachgewiesen werden. Viele Umstände der Tat und des Verhaltens der Familie nach der Tat deuten darauf hin, dass dieser Ehrenmord auch von den Eltern gebilligt oder gewünscht worden war (Deiß/ Goll 2011). Mehrere Aspekte des Falles sind typisch für ähnliche Ehrenmorde: Das Opfer wurde zunächst sehr jung mit einem Cousin im Herkunftsland zwangsverheiratet und flüchtete aus dieser von Kontrolle und Misshandlungen geprägten Ehe. Zurück in Berlin lebte sie mit ihrem Sohn selbstständig und entwickelte einen„westlichen“ Lebensstil einschließlich Liebesbeziehungen. Dem Mord gingen massive Drohungen und Versuche ihrer Familie voraus, sie von diesem Weg abzubringen. In beinahe allen von uns untersuchten Ehrenmorden an jungen Frauen war die Befreiung aus einer unbefriedigenden Ehe, die sehr oft von den Eltern arrangiert wurde, oder/ und die Aufnahme einer „unerwünschten“ Liebesbeziehung mit dem aus Familiensicht „falschen“ Partner der ausschlaggebende Anlass. Denn bei Ehrenmorden geht es im Kern um die Kontrolle der weiblichen Sexualität, im Falle von Partnertötungen durch den Partner, im Falle der Ehrenmorde an unverheirateten jungen Frauen durch deren Familie. Das Fallbeispiel 1 zeigt dies. Fallbeispiel 1 Eine 21-jährige Irakerin wird wegen einer Liebesbeziehung zu einem Deutschen von ihrem 20-jährigen Bruder auf offener Straße erstochen. Die Familie reiste sechs Jahre vor der Tat nach Deutschland ein und wurde als asylberechtigt anerkannt. Die Tochter, das spätere Opfer, lernte schnell Deutsch und freundete sich rasch mit deutschen Mitschülerinnen an. Sie war aufgeschlossen, lebenslustig und ehrgeizig und erreichte ohne Probleme die mittlere Reife. Nach der mittleren Reife erlaubten die Eltern ihr etwa drei Monate vor der Tat, für eine Ausbildung in eine nahegelegene Stadt zu ziehen, und bezahlten ihr ein Zimmer zur Untermiete. Die 21-Jährige verliebte sich dort in einen 24-jährigen Deutschen, verheimlichte es aber zunächst ihrer Familie, obwohl sie zu den Familienangehörigen ein sehr gutes Verhältnis hatte. Die Irakerin war von ihrem Freund einmal gefragt worden, ob es wegen der unterschiedlichen Religionen Probleme mit ihren Eltern geben könnte, worauf sie sagte, ihre Familie sei sehr offen, und das Wichtigste für ihre Familie sei, dass sie glücklich sei. Als die 21-Jährige jedoch etwa eine Woche vor der Tat bei ihren Eltern die Ferien verbrachte, erfuhr die Mutter durch ein Telefonat des jungen Paares von dessen Beziehung und auch von der Tatsache, dass es zwischen den beiden jungen Leuten bereits zum Geschlechtsverkehr gekommen war. Daraufhin verlangten die Eltern von der 21-Jährigen, sich von ihrem Freund zu trennen. Sie riefen auch bei diesem an, um ihn zu bedrohen bzw. ihm unmissverständlich klar zu machen, dass er „die Finger von der Tochter lassen solle“, da sie schon einem Landsmann versprochen sei. Letzteres entsprach allerdings nicht der Wahrheit. 171 uj 4 | 2012 Erzwungene Ehen Nachdem es in den darauffolgenden Tagen zwischen der 21-Jährigen und ihren Eltern wegen dieser Beziehung zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen war, bei denen die Eltern sie auch geschlagen hatten, verließ die junge Frau etwa drei Tage vor der Tat die elterliche Wohnung. Das Paar versteckte sich bei einem Freund des jungen Deutschen, da die Liebenden befürchteten, dass die Eltern der jungen Frau diese notfalls mit Gewalt wieder nach Hause holen würden. In der Folge kam es zu telefonischen Kontakten der Eltern mit ihrer Tochter. Zudem fuhren die Eltern und auch der spätere Täter mehrmals zu dem Haus, in dem die Tochter das Zimmer zur Untermiete hatte, und warteten dort vergeblich auf die 21-Jährige. Am Tag vor der Tat kam es erneut zu einem Telefonat, und diesmal äußerten die Eltern, dass die Tochter nun doch machen könne, was sie wolle. Es sei nur noch ein einziges Treffen nötig, bei dem die Eltern ihr einige Gegenstände wie ihren Pass geben wollten. Obwohl ihr Freund Bedenken äußerte, traf sich die 21-Jährige hierfür mit ihren Eltern in ihrem Zimmer und fuhr anschließend gemeinsam mit ihnen in die elterliche Wohnung. Dort kam es erneut zu Auseinandersetzungen, da die Eltern und der Bruder entgegen ihren vorherigen Behauptungen die Beziehung des Paares nach wie vor nicht akzeptieren wollten. Am Tattag kam es zu weiteren Telefonaten zwischen den Eltern bzw. dem späteren Täter sowie dem Freund des Opfers, in denen die Familie diesem mitteilte, er könne seine Freundin heiraten, müsse aber gemeinsam mit seinen Geschwistern und seinen Eltern bei ihnen vorbeikommen und förmlich um die Hand der Tochter anhalten. Da die Eltern des Freundes aufgrund der vorangegangenen Geschehnisse jedoch Angst vor der Familie hatten, lehnten sie dies ab. Als der junge Mann dann seine Freundin am Telefon sprach, bedeutete ihm diese, er solle auf keinen Fall zu ihrer Familie kommen, da sie „ohnehin sterben würde“ und „vielleicht schon tot sei“, wenn er bei der Familie ankäme; daraufhin wurde die Leitung unterbrochen. Als sie übereilt und auf Strümpfen ihr Elternhaus verließ, liefen ihre Eltern und ihr Bruder ihr hinterher, und es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung, bei der die Eltern nochmals versuchten, ihre Tochter zur Rückkehr zu bewegen. Wohl als sie erkannten, dass dies nichts bringen würde, gingen sie zurück zum Haus. Noch während die Eltern auf dem Rückweg waren, stach der Täter sechsmal auf den Oberkörper seiner Schwester ein, bis diese schwer verletzt zu Boden ging. Ein Nachbar, der den Täter dazu bringen wollte, vom Opfer abzulassen, wurde angeraunzt, er solle ihn in Ruhe lassen, es handele sich um eine „Familienangelegenheit“. Nach der Tat sprach der Täter noch kurz mit seinen Eltern und flüchtete anschließend. Die ZeugInnen sagten aus, dass die Eltern nach der Tat verstört gewirkt hätten und die Mutter sich weinend über ihre Tochter geworfen habe. Das Gericht verurteilte den Täter wegen Totschlags zu acht Jahren Jugendstrafe. Das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe wurde mit der Begründung abgelehnt, dass der Täter in Syrien im Alter zwischen 10 und 14 Jahren eine sehr strenge Islamschule besucht habe, die ihn nachhaltig geprägt habe. Gegen den Vater wurde zunächst wegen Anstiftung zum Totschlag ermittelt, das Verfahren wurde aber mangels Tatverdachts eingestellt. Im Urteil gegen den Täter hielt die Kammer fest, dass für eine Tatbeteiligung der Eltern keine konkreten Anhaltspunkte vorlägen, dass zugunsten des Täters aber davon auszugehen sei, dass er sich zumindest subjektiv durch die Familie unterstützt gefühlt haben könnte. Dieser Fall verdeutlicht den starken inneren Konflikt, in dem sich das Opfer befand: Einerseits liebte die junge Irakerin ihren deutschen Freund und wollte die Beziehung zu diesem nicht aufgeben, andererseits war sie auch ihrer Familie emotional stark verbunden und wollte diese ebenfalls nicht verlieren. Daher verwundert es nicht, dass sie den Beteuerungen der Eltern, nun mit allem einverstanden zu sein, Glauben schenkte und trotz der Warnungen ihres Freundes mit den Eltern nach Hause fuhr. Die Frage, ob der Mord im „Familienrat“ beschlossen oder der Bruder ganz auf eigene Initiative gehandelt hat, muss offen bleiben. Ohne 172 uj 4 | 2012 Erzwungene Ehen die verinnerlichten Normen des nach Deutschland mitgebrachten Ehrkonzepts ist diese Tat in jedem Fall nicht erklärbar. Dagegen sind ein„westlicher“ Lebensstil alleine (Kleidung, Ausgehen, Auszug aus dem Elternhaus, Bildungs- oder berufliche Karriere) ohne sexuelle Beziehungen nur in zwei von zwanzig Fällen ein ausreichender Tatanlass gewesen. In dieser Hinsicht ist der Hamburger Fall der 16-jährigen Morsal Obeidi, die keinen Freund hatte und (noch) nicht verheiratet werden sollte, sehr ungewöhnlich. Warnsignale in Form von Drohungen und Einschüchterungen bis hin zu wiederholter Gewalt gegenüber den Frauen sind als typische Vorgeschichten eines Mordes sehr ernst zu nehmen. Auch die Loslösung von ihrer Familie und der vollständige Kontaktabbruch bewahrten einige junge Frauen nicht vor dem Ehrenmord. In einem Fall flüchtete das Opfer mit ihrem Freund in ein anderes Bundesland und ließ ihre Adresse aus Angst vor ihrer Familie beim Einwohnermeldeamt sperren. Durch einen Fehler des Amtes erfuhr diese die neue Adresse dennoch und beauftragte drei Cousins mit der gemeinschaftlichen Ermordung des jungen Paares. Im zweiten Fallbeispiel steht die gemeinschaftliche Tatausführung der Familie unter aktiver Beteiligung der Mutter außer Frage. Fallbeispiel 2 Ein 49-jähriger Jordanier und seine zwei ältesten Söhne (30, 28) erschlagen die 17jährige Tochter bzw. Schwester mit einem Beil, weil diese die Beziehung zu ihrem italienischen Freund nicht beenden will. Das in Deutschland geborene und aufgewachsene Mädchen hatte sich einige Monate vor der Tat in einen 21-jährigen Italiener verliebt und mit diesem eine Beziehung begonnen. Die junge Frau ahnte, dass ihr autoritärer und gewalttätiger Vater diese Beziehung niemals dulden würde, da er zwar seit 33 Jahren in Deutschland lebte, aber dennoch sehr traditionelle Auffassungen hatte. Nach seinem Willen und ebenso nach Meinung ihrer Brüder durfte sie nicht ausgehen und schon gar keinen Freund haben. Daher rechnete sie damit, entweder getötet oder zumindest sofort nach Jordanien gebracht und dort verheiratet zu werden, falls ihre Beziehung bekannt würde. Sie ging das Risiko dennoch ein und hoffte letztlich, dass ihre Familie ihren Freund doch irgendwann akzeptieren würde. Anlässlich eines Klinikaufenthaltes ca. sechs Wochen vor der Tat erfuhr ihr Vater von der Beziehung, und in der Folge kam es zu einem heftigen Streit. Mithilfe des Klinikpersonals floh sie daraufhin direkt aus dem Krankenhaus in ein Jugendheim und brach den Kontakt zur Familie ab. Das Mädchen berichtete den JugendamtsmitarbeiterInnen von der Gewalt des Vaters und der Brüder gegen die weiblichen Familienmitglieder und von der Angst vor einer Zwangsverheiratung oder Ermordung. Anderthalb Tage vor der Tat fand daher ein gerichtlicher Anhörungstermin statt, bei dem den Eltern das Sorgerecht für das spätere Opfer entzogen und dem Jugendamt zugesprochen wurde. Bei dieser Gelegenheit kam es auch zu einer Konfrontation zwischen der Familie und dem italienischen Freund des späteren Opfers: Der 30-jährige älteste Bruder drohte dem 21-jährigen Italiener, er werde ihm „den Kopf abschneiden“, wenn er seine Schwester nicht in Ruhe ließe. Dadurch flößte er dem jungen Mann eine solche Angst ein, dass dieser die Beziehung zu seiner Freundin telefonisch beendete und ihr mitteilte, er werde zurück nach Italien gehen. Da die junge Jordanierin ihren Freund sehr liebte und ihn nicht verlieren wollte, beschloss sie, ihm nach Italien zu folgen. Aus diesem Grund kontaktierte die 17-Jährige trotz ihrer Angst am nächsten Tag ihre Familie, um diese um Geld und ihren Reisepass zu bitten. Der 28-jährige Bruder gab am Telefon vor, die Familie werde ihren Freund akzeptieren und sie werde Geld und ihren Pass erhalten. Daraufhin begab sie sich zur Wohnung ihres Bruders, wo sie schon von ihren Eltern erwartetet wurde. Es entspann 173 uj 4 | 2012 Erzwungene Ehen sich sodann ein Streit zwischen der Tochter und ihren Eltern sowie dem Bruder. Die Tochter erzählte der Familie bei dem Streitgespräch auch, dass ihre Menstruationsblutung seit einer Weile ausgeblieben sei, was aber nicht der Wahrheit entsprach. Sie wollte dadurch erreichen, dass die Familie an eine Schwangerschaft glaubte und deswegen die Beziehung mit dem vermeintlichen Vater des Kindes doch erlaubte. Die vorgebliche Schwangerschaft provozierte stattdessen aber die Wut des Vaters auf seine ungehorsame Tochter noch mehr. Zudem begann diese während des Streits vor seinen Augen zu rauchen, woraufhin er entschied, dass sie für ihr Verhalten körperlich bestraft werden müsste. Er rief dann seinen ältesten Sohn an, damit dieser sich an der Bestrafungsaktion beteiligen konnte. Der 30-Jährige brachte daraufhin ein Beil mit in die Wohnung seines Bruders, um auch für eine mögliche Tötung der Schwester vorbereitet zu sein. Die Eltern und die Brüder begannen dann gemeinsam auf die Tochter einzuschlagen und zu treten; dabei schlugen sie auch mehrmals ihren Kopf gegen einen Bettpfosten, so dass die junge Frau irgendwann bewusstlos wurde. Die Mutter meinte daraufhin zu ihrem Ehemann, dass es nun aufgrund der massiven Verletzungen des Opfers nicht mehr möglich sein werde, das Mädchen heimlich nach Jordanien zu bringen, und dass der bereits wegen der Körperverletzung zum Nachteil einer älteren Schwester des Opfers vorbestrafte Vater sicher ins Gefängnis kommen würde. Daher schlug sie vor, ihre Tochter in einem nahegelegenen Waldstück zu töten und ihre Leiche zu verstecken. Die drei Männer stimmten diesem Plan zu. Im Wald erschlugen sie die Tochter gemeinsam mit dem Beil und deckten den Leichnam mit Ästen und Blättern ab. Der Vater und der ältere Bruder flüchteten am nächsten bzw. übernächsten Tag nach Jordanien, der jüngere Bruder blieb in Deutschland. Die Tat wurde erst drei Monate später durch einen anonymen Anrufer aufgedeckt, welcher der Polizei recht detailliert von der Tat und dem Tatort berichtete. Dem Anrufer wurde seitens der Staatsanwaltschaft Anonymität zugesichert, sodass auch im Gerichtsverfahren nicht aufgedeckt wurde, um wen es sich dabei handelte - vermutlich aber um einen Verwandten oder Bekannten der Familie. Der Vater sowie der ältere Bruder des Opfers wurden wegen der Tat in Jordanien vor Gericht gestellt. Sie wurden dort allerdings freigesprochen, weil es laut Gericht „keinerlei juristische Beweise“ für die Tat gegeben hätte. Ein Jahr später kehrten beide Täter nach Deutschland zurück und wurden daraufhin genauso wie der jüngere Bruder festgenommen. Die Mutter des Opfers blieb in Jordanien; ihr konnte bis heute nicht der Prozess gemacht werden. Das Verfahren gegen die drei männlichen Täter endete mit einer Verurteilung wegen gemeinschaftlichen Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Die Rettung der Familienehre wurde erschwerend als niedriger Beweggrund bewertet. Auffällig ist, dass die ganze Familie mit einer Ausnahme während des Prozesses zusammenhielt: Es gab eine Hauptbelastungszeugin, eine ältere Schwester des Opfers, die gegen die Täter aussagte; alle anderen Familienmitglieder deckten die Tat, obwohl sie (vermutlich) alle von ihr wussten. Die Zeugin wurde wegen der Drohungen ihrer Familie in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen; im Gerichtssaal wurde sie vom Vater beschimpft, blieb aber trotz offensichtlicher Angst bei ihrer Aussage. Wie im Hamburger Fall der Morsal Obeidi und in ähnlichen, aufsehenerregenden Fällen in Schweden und Großbritannien, in denen sich die späteren Mordopfer bereits hilfesuchend an Polizei und andere Behörden gewandt hatten, konnten diese keinen effektiven Schutz vor dem Mord bieten. Sehr ungewöhnlich in diesem Fall ist, dass ein „Insider“ zur Aussage gegen die Täter bereit war. In den allermeisten Fällen bildet das Umfeld der Täter eine dichte „Mauer des Schweigens“, was den gerichtlichen Nachweis der Tatbeteiligung sehr erschwert. In einem in den Medien berichteten Fall gelangte ein Ehrenmord erst nach elf Jahren zur Kenntnis der Polizei und brachte dann ein Strafverfahren 174 uj 4 | 2012 Erzwungene Ehen gegen den Vater in Gang, nachdem die bei der Tat anwesende ältere Schwester ihre Angst vor einer Aussage gegen ihre Familie überwunden hatte (Apfeld 2010). Die wahrscheinlich mitbeteiligten Cousins konnten jedoch nicht verurteilt werden, und die Schwester muss heute aus Angst vor Vergeltung unter Personenschutz leben, ebenso wie die Hauptbelastungszeugin im Fall Sürücü. Diese Deckung des Täters durch den Familienverband bis hin zur Drohung mit Vergeltung gegen ZeugInnen ist ein Ausdruck der starken kollektiven Unterstützung von vielen Ehrenmördern und nur mit Mafia-Organisationen vergleichbar. Reaktionen und Wirkungen in Einwanderungs-Milieus Ein Mord hinterlässt nicht nur Opfer, sondern hat auch auf die Gesellschaft vielfältige Auswirkungen. Eine der schockierenden Nachrichten nach dem Mord an Hatan Sürücü war die demonstrative Zustimmung zum Ehrenmord durch einige türkisch-stämmige männliche Jugendliche in Berlin. Über die tatsächlichen Einstellungen von Jugendlichen aus migrantischen Milieus zu Ehrenmorden gibt es in Deutschland keine systematischen Erkenntnisse. Aber bereits die Befunde unserer Studie, die Ehrenmorde als ein sehr seltenes und weitgehend auf marginalisierte Einwanderergruppen beschränktes Phänomen ausweist, deuten darauf hin, dass es keine nennenswerte Unterstützung für Ehrenmorde außerhalb dieser Gruppen gibt, anders als in Ländern wie der Türkei, Jordanien und Pakistan (Oberwittler/ Kasselt, im Druck). Nichtsdestoweniger ist die abschreckende Wirkung auf potenzielle Opfer im weiteren sozialen Umfeld ein wichtiger Aspekt von Ehrenmorden. Diese Wirkung dürfte umso größer sein, je stärker die entsprechenden Normen des Ehrkonzepts in diesem Umfeld verankert sind. Ehrenmorde sind die Spitze eines Eisbergs von patriarchalen Kontroll- und Gewaltstrategien gegen Frauen und deren Selbstbestimmungsrecht, denen auch weniger schwere Formen der Gewalt und letztlich auch arrangierte Ehen zuzurechnen sind, sobald diese gegen Widerstände der Betroffenen durchgesetzt werden. Verschiedene Studien in den letzten Jahren haben gezeigt, dass arrangierte Ehen und Zwangsverheiratungen in türkischen und anderen Migrantengruppen in Deutschland weit verbreitet sind und dass außerdem Gewalt in Partnerschaften und Familien bis hin zu Todesdrohungen und Angriffen mit Waffen hier deutlich häufiger auftreten als in der deutschen Mehrheitsbevölkerung (Baier/ Pfeiffer 2011; Mirbach u. a. 2011; Müller/ Schröttle 2004). Wie schwerwiegend sich dies auf die Lebenssituation und die Selbstbestimmung von Mädchen und jungen Frauen in Deutschland auswirkt und welche Rolle dabei die Furcht vor Ehrenmorden spielt, lässt sich nur schwer einschätzen. Für Einrichtungen der Jugendhilfe, des Gesundheitswesens und für freie Beratungsstellen, mit denen Mädchen und junge Frauen im Zusammenhang mit Drohungen und Befürchtungen in Kontakt kommen, stellt diese Problemlage eine durch die demografische Entwicklung zunehmende Herausforderung dar. Eine schwedische Studie zeigt die Bandbreite von Befürchtungen und Verarbeitungsmustern seitens der betroffenen jungen Migrantinnen auf, die in Gesundheitszentren beraten werden, und entwirft ein darauf abgestimmtes Reaktionskonzept (Alizadeh u. a. 2010). Die Beratung und Unterstützung betroffener Mädchen und Frauen ist ein ebenso wichtiger Ansatzpunkt für eine erfolgversprechende Strategie gegen Ehrenmorde wie breiter angelegte Präventionsprogramme, die den letztlich entscheidenden Wertewandel in den betroffenen Einwanderungs-Milieus befördern sollen. Dietrich Oberwittler Julia Kasselt Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Günterstalstraße 73 79100 Freiburg i. Br. d.oberwittler@mpicc.de 175 uj 4 | 2012 Erzwungene Ehen Literatur Alizadeh, V./ Hylander, I./ Kocturk, T./ Törnkvist, L., 2010: Counselling young immigrant women worried about problems related to the protection of family honour from the perspective of midwives and counsellors at youth health clinics. In: Scandinavian Journal of Caring Sciences, 24. Jg., S. 32 - 40 Apfeld, N., 2010: Ich bin Zeugin des Ehrenmords an meiner Schwester. 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