eJournals unsere jugend 64/4

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2012.art18d
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2012
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Zwischen selbst gewählter Gleichförmigkeit und vernetzter Identität Stationen auf dem Weg zur Generation Web 2.0

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Alexander Korittko
Gerald Hüther
Was bedeutet es für Heranwachsende, wenn sie alle primär nur noch ein Ziel verfolgen, wenn nur noch der Erfolg bedeutsam wird, den man - egal wie, wobei oder womit - erreicht? Und wenn alle Heranwachsenden darauf ausgerichtet werden, alle denselben Aspekten des Lebens Bedeutsamkeit und Sinn zuzuschreiben, so können sie auch nur eines werden - gleichförmig, stromlinienförmig. Oder tragen die enormen Entwicklungen im Web 2.0 zu einer veränderten Perspektive bei?
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178 unsere jugend, 64. Jg., S. 178 - 189 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art18d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zwischen selbst gewählter Gleichförmigkeit und vernetzter Identität Stationen auf dem Weg zur Generation Web 2.0 Was bedeutet es für Heranwachsende, wenn sie alle primär nur noch ein Ziel verfolgen, wenn nur noch der Erfolg bedeutsam wird, den man - egal wie, wobei oder womit - erreicht? Und wenn alle Heranwachsenden darauf ausgerichtet werden, alle denselben Aspekten des Lebens Bedeutsamkeit und Sinn zuzuschreiben, so können sie auch nur eines werden - gleichförmig, stromlinienförmig. Oder tragen die enormen Entwicklungen im Web 2.0 zu einer veränderten Perspektive bei? von Alexander Korittko Jg. 1948; Paar- und Familientherapeut, kommunale Jugend-, Familien- und Erziehungsberatung Das Potenzial, das Kinder überall auf dieser Erde und zu allen Zeiten mit auf die Welt bringen, ist erheblich größer als das, was sie in der jeweiligen Lebenswelt, in die sie hineinwachsen, zu entfalten imstande sind. Bereits vor der Geburt werden im menschlichen Gehirn etwa ein Drittel mehr Nervenzellen produziert als tatsächlich am Ende, nach der Geburt, davon erhalten bleiben, und in den verschiedenen Bereichen wird im Verlauf der Hirnentwicklung immer zunächst ein Überangebot an Fortsätzen, Kontakten und Verknüpfungen der Nervenzellen bereitgestellt, als davon dann nachfolgend nutzungs- oder erfahrungsabhängig als stabile Verschaltungsmuster herausgeformt werden. Je nachdem, wie reichhaltig und verschiedenartig die Erfahrungen sind, die ein Kind im Verlauf seiner Sozialisation zu machen Gelegenheit hat, wird der Vernetzungsgrad in seinem Gehirn zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Kummerversion dessen, was daraus - unter anderen, günstigeren Bedingungen - hätte werden können. Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther Jg. 1951; Professor für Neurobiologie, Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und des Instituts für Public Health der Universität Mannheim/ Heidelberg 179 uj 4 | 2012 Gleichförmigkeit und vernetzte Identität So wächst also jedes Kind mit einem enormen Potenzial in eine Welt hinein, die von den Bemühungen, den Vorstellungen, den Erfolgen und Misserfolgen vorangegangener Generationen bestimmt ist und die ihm mehr oder weniger gute Voraussetzungen für die Entfaltung seiner eigenen Potenziale bietet - manchmal schon pränatal, dann in der Ursprungsfamilie, im Kindergarten, in der Schule, während der Ausbildung und später im Berufsleben.„Das Gehirn ist eine Baustelle“, lautet die inzwischen verbreitete Erkenntnis der HirnforscherInnen, und es wird so, wie man es benutzt oder - noch etwas zutreffender - wie und wofür man es mit Begeisterung und viel Engagement, also unter möglichst großer emotionaler Beteiligung benutzt. Was ein Kind wichtig findet, wofür es sich begeistert, was ihm bedeutsam erscheint - und was deshalb auf der Baustelle seines Gehirns geschieht, welche der dort angelegten Vernetzungsoptionen stabilisiert und welche davon wieder eingeschmolzen werden -, hängt nicht von dem betroffenen Kind ab, sondern von den Verhältnissen, in das es hineinwächst. Also von dem, was in der jeweiligen Zeit, dem jeweiligen Kulturkreis, der jeweiligen Familie, den ErzieherInnen und LehrerInnen und allen anderen Vorbildern, an denen sich ein/ e Heranwachsende/ r in der jeweiligen Lebenswelt orientiert, was dort für wichtig und bedeutsam erachtet wird (Hüther 2011). Genau das aber ändert sich von Generation zu Generation, früher etwas langsamer, jetzt zunehmend rascher, und seit zwei, drei Generationen auch in eine ganz bestimmte Richtung: Es wird für viele der heute Heranwachsenden immer weniger bedeutsam, was sie tun oder wie intensiv sie sich mit etwas beschäftigen, sondern dass sie durch das, was sie machen, Erfolg haben. Das begreifen - unter der Führung und Anleitung ihrer ebenfalls schon in diese Richtung geprägten Eltern - sogar schon kleine Kinder. Und sie begreifen es immer früher. Und wenn schon Kindern das Resultat ihres Tuns zunehmend wichtiger wird als die Handlung selbst, so hat das nicht nur für ihre weitere Entwicklung Folgen, sondern fatalerweise auch für die Strukturierung ihres Gehirns: Sie werden darauf geprägt, erfolgreich zu sein, auch wenn sie dabei jene Bedürfnisse unterdrücken müssen, die diesem Erfolgsstreben im Wege stehen. Diese aktive Unterdrückung eigener Bedürfnisse und die mit diesem Erfolgsstreben einhergehende ebenso aktive Unterdrückung der Wahrnehmung körperlicher und sinnlicher Signale, die Ausrichtung des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns an die Erfordernisse einer erfolgsorientierten Gemeinschaft ist eine enorm schwierige und auch enorm schmerzvolle Anpassungsleistung. Diese Anpassungsleistung ist nicht - wie noch vor wenigen Generationen - von außen durch entsprechende Dressurmethoden erzwungen, sondern wird gewissermaßen freiwillig, aus eigenem Antrieb erbracht - getrieben von dem Bedürfnis, dazugehören zu wollen zu der sozialen Welt, in die man als Kind hineinwächst. Betrachten wir die sozialen Einflüsse, die in den letzten Jahrzehnten die Entwicklung von jungen Menschen gelenkt haben. Nur der Erfolg zählt: Aber alles hat seinen Preis? Die StudentInnen der 68er Bewegung forderten eine Gesellschaft, in der die autoritären Strukturen der 50er und 60er Jahre - und damit auch die Strukturen des Nationalsozialismus, der sie hervor gebracht hatte und dessen Funktionsträger „entnazifiziert“ immer noch ihre alten Posten besetzten - endgültig der Vergangenheit angehörten und in der kritische und mündige BürgerInnen auch zukünftig jede Orientierung an Macht, Stärke und Hierarchie hinterfragen würden. Am Anfang wurde eine Veränderung der universitären Strukturen gefordert („Unter den Talaren steckt der Muff von tausend Jah- 180 uj 4 | 2012 Gleichförmigkeit und vernetzte Identität ren“), später zielte diese grundlegende Neuorientierung auf alle gesellschaftlichen Bereiche: auf die Familie, die Betriebe, die Politik. Und was streben die StudentInnen heute an? Der Soziologe Klaus Hurrelmann stellt fest: „Die neue Generation ist das Gegenteil der Null- Bock-Generation vor ihr. Sie ist an Disziplin und Konzentration auf eigene Ziele ausgerichtet. Sie tut alles, um die Strecke von Jugend und Ausbildung - die keine Übergangszeit mehr ist, sondern bis zu 15 Jahren andauern kann - gut zu durchlaufen, obwohl der Ausgang unklarer denn je ist. Die Bereitschaft zur Anpassung ist eine Reaktion auf eine bedrohliche Situation. Nach einer verhältnismäßig langen Zeit mit hoher Flexibilität und Opportunitätsdruck erfolgt oft erst im Alter von 30 der Einstieg in Beruf und Familie“ (Hurrelmann 2008). Die Berliner Politikprofessorin Gesine Schwan kritisiert das deutsche Bildungssystem scharf: „Schüler und Studenten werden zu wenig zu eigenständigem Denken und Verantwortungssinn erzogen. Man hat die Schul- und Studienzeit verkürzt und alles nur noch von der Leistung abhängig gemacht. Das erschwert nonkonformes Denken. Die Kultur des unreflektierten Ehrgeizes fördert Angst und Gegnerschaft, weil der andere nur noch ein Wettbewerber ist“ (Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 15. 12. 2008). Was ist geschehen? Droht eine moderne Neuauflage dessen, wovor Erich Fromm schon 1932 mit dem Begriff „autoritärer Charakter“ warnte und 1941 in seinem Buch „Escape from Freedom“ differenziert ausgeführt hat? Er verstand unter Menschen mit einem autoritären Charakter Personen, die sich Autoritäten unterwerfen, konform Ideologien folgen und sich in einer Furcht vor selbstverantworteter Freiheit eine Sicherheit in von außen vorgegebenen Strukturen suchen. In seiner extremen Ausprägung sei dieser soziale Charakter laut Fromm„potentiell destruktiv“. Der an Macht, Gehorsam und Anpassung orientierte Mensch sei unfähig, mit der prinzipiellen Freiheit umzugehen, die der Mensch in modernen Gesellschaften mit tendenziellem Überfluss und einer Vielzahl an Entscheidungsspielräumen hat, so Fromm. Einer wird Millionär: die Fesselungskunst der Medien In einer familiären Entwicklung, die der Soziologe Beck mit dem Schlagwort der Individualisierung, der Ent-Traditionalisierung und der „Verinselung“ beschreibt (1986), scheinen in vielen Familien die Beziehungen der einzelnen Familienmitglieder zueinander brüchiger zu werden. Wenn man sich innerhalb der Woche kaum sieht, weil jeder den ganzen Tag woanders ist, bekommen die neuen Medien immer mehr Einfluss. Das Leben mit Mama und Papa wird zu einer Serie von Übergängen, unterbrochenen Gesprächen und Momenten, die schnell vorbeigehen, sodass die nächste Aktivität wie geplant durchgeführt werden kann („Hallo, ich muss gleich wieder los“). Die Medien werden zum Garanten von Kontinuität. Die Musik aus dem MP3-Player begleitet über den ganzen Tag. „GZSZ“ (Gute Zeiten schlechte Zeiten - eine Fernsehserie) ist zuverlässig jeden Tag zur selben Uhrzeit da. Der Fernseher nimmt den Platz des regelmäßigen Kommunikationspartners ein. In den Chat-Rooms des Internet werden häufiger Kontakte mit Menschen aus aller Welt gesucht als in direkten Gesprächen mit Menschen, die in der Nähe wohnen. Der US-amerikanische Familientherapeut Ron Taffel bezeichnet die Welt der Medien, die von Kindern und Jugendlichen benutzt werden, mit „zweite Familie“ (2001, 2006). Ab dem Alter von ca. zwei Jahren, so Taffel, lernen die meisten Kinder die modernen Medien intensiver kennen, einige schon früher. Auf der Suche nach Aufregung, Unterhaltung und Stimulation werden sie in die Welt der zweiten Familie eingeladen (TV, DVD, Hörkassetten, Computerspiele). In der Grundschulzeit bilden Kinder durch verstärkten Medienkonsum eine 181 uj 4 | 2012 Gleichförmigkeit und vernetzte Identität feste Verbindung zu den Medien, zu den oben genannten kommen Handys und Kino hinzu. Es beginnt die erste unkritische Orientierung an dem, was gezeigt wird. Man muss haben, was „cool“ ist, und sich benehmen, wie es „in“ ist („Was geht, Alter? “). Wer etwas, das„in“ ist, nicht hat, muss ausgeschlossen werden („dissen“). Zufriedenheit und Selbstwert wird durch „etwas haben“ oder durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die „in“ ist, erzielt. Der Unterschied zu früheren Generationen besteht darin, dass die Erwachsenen wenig oder geringen Einfluss auf die Intensität des Medienkonsums nehmen bzw. diesen noch fördern. „Das Risiko für ein Kind, arm zu sein, besteht nicht in der Abwesenheit von Markenartikeln und Playstations“, schreibt Christine Brinck in der FAZ (20. 1. 2008), „das Risiko liegt in der Entbehrung von Zuwendung und Anregung. Weil mit ihnen weniger gesungen, gereimt, geturnt und gespielt wird, sind sie schon beim Eintritt in den Kindergarten weniger entwickelt, erst recht beim Eintritt in die Grundschule.“ Und sie sind bereit, ja fast darauf trainiert, ihre Anregungen von der zweiten Familie zu erhalten. Mit Beginn der Pubertät gewinnen die Vorbilder aus den Medien noch sehr viel größere Bedeutung. Die Orientierung an den Stars der Serien und anderen Akteuren der Popkultur ist für viele Jugendliche ebenso wichtig wie der permanente Kontakt untereinander. In manchen Familien führen jetzt der exzessive Medienkonsum und dreistellige Handyrechnungen zu heftigen Auseinandersetzungen. Bei den Jugendlichen wird die sofortige Belohnung bei einem geringen Aufwand zum Lebensprinzip. Zu diesem Zeitpunkt ist die zweite Familie bei manchen bedeutsamer geworden als die Beziehung zu Erwachsenen. Worin unterscheidet sich die zweite Familie von der „ersten“ Familie? Der Sozialpsychologe Thomas Ziehe erkennt eine Reihe von zwingenden Auswirkungen der Pop-Kultur auf die Mentalität von Menschen (Ziehe 2003). Als Erstes wirkt sich die Orientierung an den Medien auf eine beschleunigte Wahrnehmung, ein erhöhtes Tempo im Lebensrhythmus und auf eine Sehnsucht nach Dosis-Erhöhung aus. Im Vergleich zu der bunten, abwechslungsreichen Welt der Medien erscheint die Realität langweilig und grau. Damit das aber so bleibt, ist es erforderlich, dass tatsächlich immer wieder etwas Neues und Aufregendes konsumiert werden kann, Menschen geraten in eine Erlebnis-Orientierung (Event- Geilheit), in der immer wieder neu geprüft werden muss, ob die erhoffte Spannung entsteht. Zweitens beeinflusst die Kommunikation darüber, was „cool“ oder „ungeil“ ist, die zwischenmenschlichen Kontakte, verführt aber auch zu einer Subjektivierung der Wahrnehmung. Alle beobachten alle und berichten darüber, wie sie empfinden („Die Lust am Banalen“). Die ab Mittag gesendeten TV-Talkshows zeigen dies im Extrem. Es entstehen Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften auf Zeit, die sich über eine bestimmte Mode, die Musik einer Band, die Anhängerschaft eines Stars definieren. Und drittens schafft die Pop-Kultur Idole und Idealisierungen, die Auswahl des Personals dieser massiven Form des Kapitalismus selbst wird zur Show (Deutschland sucht den Superstar, Dschungelcamp, Big Brother, Wer wird Millionär? ). Der gegen Ende der 60er Jahre begonnene Aufbruch in eine Welt ohne rigide Moralvorstellungen, ohne Obrigkeitshörigkeit und ohne traditionsorientierte Wertemaßstäbe hat offensichtlich nach einer Zeit des Wandels auch zu einer Desorientierung geführt. Das Bedürfnis nach Echtheit und Verlässlichkeit in der unübersichtlich gewordenen post-modernen Gesellschaft wird von der Pop-Kultur aufgegriffen und vermarktet. Ziehe geht davon aus, dass inzwischen eine Generation herangewachsen ist, die „Gegen-Bedürfnisse“ zu eigenen Entstrukturierungs-Erfahrungen entwickelt hat: Bedürfnisse nach Beziehungsstabilität, nach normativer Übersichtlichkeit, nach Gewissheit und nach Orientierung (Ziehe 2006). Wo diese Orientierungen in der ersten Familie fehlen, ergänzen sich die Pop-Kultur und der Markt der käuflichen Waren in der Illusion einer anderen Wirklichkeit. 182 uj 4 | 2012 Gleichförmigkeit und vernetzte Identität Geiz ist geil: die Orientierung am Markt Rainer Funk (2003) führt uns die Ergebnisse der Marketing-Orientierung vor Augen. Die Waren, die nicht nur einfach als Jeans, als Deo oder als ein anderes Konsumgut angepriesen und verkauft werden, sondern denen Eigenschaften zugeordnet werden, die die KäuferInnen dieser Waren mit ihnen erwerben („Axe macht sexy“), werden über die Medien Film, TV, Rundfunk, Printmedien, Foto und Plakat inszeniert. Auf diese Weise verschwimmen die Grenzen zwischen Phantasie und Realität. Wenn Menschen ständig mitgeteilt bekommen, dass sie dies oder jenes besitzen müssen, um „in“ zu sein, um so angesehen zu werden wie die „Celebrities“, die gefeierten Prominenten, um für klug, attraktiv und jung gehalten zu werden, um nicht ausgegrenzt zu werden („ Was du an hast, geht gar nicht“ „… ist ein No-Go“), geraten sie in die Falle der Illusionen. Am besten lassen sich Wirklichkeiten verkaufen, die illusionär sind: grenzenloser Konsum, Genuss ohne Leistung, Grandiosität des Menschen, frustrationsfreies Leben, Leben ohne Angst, Leben ohne Ambivalenzen. „Tatsächlich ist unser Selbsterleben, das Erleben von anderen Menschen und der äußeren Wirklichkeit nicht nur Erlebnis, Kitzel, Fun, Kraft und Lust, sondern immer auch frustrierend, bedrohlich, versagend, ohnmächtig machend - kurz: durch Leid und Endlichkeit gekennzeichnet“ (ebd, 86). Im Turbo-Kapitalismus ist das neue Leitbild, so der amerikanische Soziologe Richard Sennett, die reaktionsschnelle, anpassungsfähige Persönlichkeit: der flexible Mensch, wie eines seiner Bücher mit deutschem Titel heißt. So viel Gewinn an beruflicher Eigenverantwortung und professioneller Selbstbestimmung Angestellten und ArbeiterInnen über Entbürokratisierung und Enthierarchisierung versprochen wird, so hoch ist ihre Verlustrechnung am Ende. Denn statt Eigenverantwortung gibt es tatsächlich vor allem einen massiven Kontrollverlust hinsichtlich Karriere und Lebensplanung. Der flexible Mensch ist, so lautet Sennetts These, nicht mehr in der Lage, seinen individuellen Charakter auszubilden. Denn dafür bedürfte es langfristiger Verbindlichkeiten und Loyalitäten innerhalb einer selbst bestimmten Lebensführung, die in einer Orientierung an den Bedürfnissen des modernen Arbeitsmarktes nicht mehr möglich ist. Sich an nichts zu binden, keine Treue und keine Verlässlichkeit innerhalb einer solchen Flexibilitäts-Strategie zu entwickeln, lässt schmerzhafte Trennungen und Frustrationen weniger wahrscheinlich werden. Anlässlich der Banken- und Finanzkrise im Jahr 2008 machten sich viele Menschen Gedanken darüber, ob die radikale Orientierung an den scheinbaren Gesetzmäßigkeiten des Marktes begrenzt werden sollte. Der seit den 90er Jahren entstandene sogenannte Turbokapitalismus, in dem die Profite in unvorstellbarer Höhe wenigen Machern zugute kommen, Verluste aber (in genauso unvorstellbarer Höhe) von der Allgemeinheit des Staates getragen werden müssen, zeigt die Marketing-Orientierung in Rein-Kultur. Auffallend häufig fielen in den Weihnachtsansprachen der deutschen Bischöfe 2008 Stichworte wie: „unmenschliches Wirtschaftssystem“ (Erzbischof Marx, München), „Maßlosigkeit, Abgrenzung gegeneinander und ängstliche Sorge um sich selbst“(Erzbischof Schick, Bamberg) sowie „gnadenlose Religion des Marktes und des Konsums“ (Bischof Schraml, Passau, in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 27. 12. 2008) und „Tanz um das Goldene Kalb“ (Bischof Huber, Vorsitzender der EKD, in der Welt am Sonntag vom 28. 12. 2008) Was hier kritisiert wird, sind die verheerenden Effekte des globalisierten Turbo-Kapitalismus auf die menschliche Psyche. Wir beginnen damit, uns nicht mehr über Ethnizität, Religion, Familie oder sogar unseren individuellen Geschmack zu definieren, sondern über die Assoziierung mit einem Set von Marken und Medienprodukten. Benjamin Barber, Sachbuchautor 183 uj 4 | 2012 Gleichförmigkeit und vernetzte Identität und politischer Berater, sagt: „Es gibt eine fundamentale Verdrehung menschlicher Identität. Anstatt dass man sich von innen nach außen identifiziert, identifiziert man sich von außen nach innen. Das führt zu einer Infantilisierung. Als der globale Verbraucher, den die global agierenden Hersteller brauchen, taugt nur das Kind. Der erwachsene Geschmack ist weltweit ausdifferenziert, Kinder sind überall ziemlich gleich. Sie wollen nicht lange am Tisch sitzen und essen, sondern Snacks. Sie mögen Fernsehen und einen bestimmten Typ von Musik. Indem an das Kindliche in jedem von uns appelliert wird, wird die Möglichkeit eines globalen Verbrauchs geschaffen: Fastfood, Hollywood, MTV und die neuen Internet-Technologien sind alle am Geschmack von 12bis 14-Jährigen orientiert“ (Frankfurter Rundschau vom 28. 11. 2002). Wir erleben mehr und mehr Menschen, die sich emotional stark an die Produkte der Medien und des Warenmarktes binden und dabei ihre Verbindungen mit Menschen vernachlässigen (extrinsische vs. intrinsische Orientierung). „Die allgegenwärtigen Angebote begünstigen die Flucht und die Fixierung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in die illusionären Wirklichkeiten. Die ‚Kathedralen des 21. Jahrhunderts’, die großen Erlebniswelten und Konsumtempel, die Unterhaltungs- und Lifestyle-Angebote werden zu den wichtigsten Zufluchtsorten. Die Flucht in illusionäre Wirklichkeiten ist so lange Heilmittel für die meisten Menschen, wie diese Entfremdungsform in der Gesellschaft dominant ist“ (Funk 2003, 105). Es gibt aber auch die anderen, gerade in der letzten Zeit verstärkt: die GlobalisierungsgegnerInnen, die von Kindesbeinen an den Strategien der radikalen Verführer, der weltweit operierenden Medien und dem Marketing der transnationalen Konsum- und Genussmittelfirmen ausgesetzt waren. Sie sind übersättigt, durchschauen die Manipulationsversuche und widersetzen sich in steigendem Maße. Kid-cool in Neverland: der Verlust der Familien Der übermäßig gewachsene Einfluss der Medien und die Orientierung an den Bedürfnissen des globalen Marktes sind nicht ohne Einfluss auf die Struktur und die Funktion der Familie geblieben. Anstatt die Möglichkeit der Wahl für die eigenen Bedürfnisse zu nutzen, unterwerfen sich mehr und mehr Familien den vom Markt vorgefertigten Strukturen. Der Tagesablauf richtet sich nach dem Fernsehprogramm, die Gestaltung der Zimmer einer Wohnung richtet sich nach den Anschlüssen ans Internet, die gemeinsam verbrachten Zeiten reduzieren sich auf ein Mindestmaß. Abends sitzt jedes Familienmitglied vor seinem elektronischen Medium. Der Kriminologe Christian Pfeiffer fand 2005 bei einer flächendeckenden Untersuchung heraus, dass bereits 36 % der GrundschülerInnen einen eigenen Fernsehapparat in ihrem Zimmer benutzten, 36 % einen eigenen PC besitzen, 27 % eine Spielkonsole und 22 % ein Video/ DVD-Abspielgerät (Pfeiffer 2005). Die Beschäftigung mit vorgefertigten Realitäten nimmt so schnell zu, dass SuchtexpertInnen Alarm schlagen. Und wenn Familien sich mit „den schönsten Wochen des Jahres“ beschäftigen, mit ihrem gemeinsamen Urlaub, werden Ferienanlagen zunehmend beliebter, in denen alles vorhanden ist, was man sich wünscht, und in denen sich andere Menschen um alles kümmern, vorstrukturierte Ferienwelt,„all inclusive“. In etlichen Familien werden für die Kinder ab frühestem Alter Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten so differenziert ausgewählt, dass jedes Familienmitglied einen Terminkalender benötigt, dessen Eintragungen in Bezug auf die Häufigkeit denen eines Managers nicht unähnlich sind. In einer Familie, in der sich die Eltern getrennt hatten, war anscheinend kein Kontakt zwischen dem 4-jährigen Sohn und dem Vater innerhalb der Woche möglich. Neben dem regelmäßigen Besuch des Kindergartens hatte der Sohn von Montag bis Freitag an jedem 184 uj 4 | 2012 Gleichförmigkeit und vernetzte Identität Nachmittag regelmäßig stattfindende Termine. Sportliche Aktivitäten, Kunsterziehung, musikalische Angebote usw. werden von frühester Kindheit an aus der Familie ausgelagert und in die Hände von SpezialistInnen gegeben. Das Tun und der Erfolg, der natürlich in Zusammenarbeit mit den jeweils besten SpezialistInnen eher ermöglicht wird, werden mancherorts wichtiger als die innerfamiliären Beziehungen. Bei fast allen Angeboten dieser Art findet ein frühes Training zur Anpassung statt. Zu Hause kann geknetet werden, so lange man Lust hat; im Kunstunterricht für 3-Jährige von 4 bis 5 Uhr. Papa kann mit dem Sohn die erste Strophe des Piraten-Liedes singen, so lange beide Spaß daran haben; in der Musikschule bestimmt der Musiklehrer, was wann gesungen wird. Kurz: schon früh gewöhnen sich Kinder an vorgefertigte Strukturen und Abläufe, an vorgefertigte Welten und an nachlassende Kommunikation mit den anderen Familienmitgliedern und FreundInnen. Hinzu kommt eine Vielzahl von Trennungen und Scheidungen, seit Jahrzehnten in den westlichen Industrienationen auf hohem Niveau, die die betroffenen Kinder und Jugendlichen noch stärker in Anpassungsdruck bringen. Der Kontakt zu Mutter und Vater wird nach Zeitfenstern geregelt, die alle Beteiligten immer wieder neu aushandeln müssen, je nach Schulsituation der Kinder und Berufssituation der Eltern. Zu dem ökonomischen Druck, dem die Erwachsenen ausgesetzt sind, kommt der Zeitdruck, unter dem alle leiden. Ging es in früheren Jahrzehnten zwischen den Eltern vorrangig darum, ob der Vater auch mit den Kinder zusammen sein „darf“, häufen sich in den Beratungsstellen Fälle, in denen zwischen Mutter und Vater darüber gestritten wird, wer die Kinder in der Woche versorgen „muss“. Es scheint, als seien wir Erwachsenen gezwungen, unsere Kinder in von uns vorgefertigte Strukturen zu pressen, anstatt die gesellschaftlichen Strukturen so auszurichten, dass für Kinder und Jugendliche Entwicklungsraum entsteht. Die Gesetzmäßigkeiten des Marktes - ständig wachsender Konsum zum Erhalt der Nachfrage und damit auch zum Erhalt der Arbeitsplätze - scheinen Mütter und Väter dazu zu zwingen, die Verbindung zu ihren Kindern, zu deren Wünschen, Ängsten und Hoffnungen zu verlieren. Die Kinder des 21. Jahrtausends leben in fragmentierten Kontexten und erleben von frühester Jugend an, dass das Gewebe von Beziehungen zerreißt. Auch die Gespräche über die politischen und sozialen Haltungen der Eltern finden in vielen Familien nicht mehr statt. Auch wenn solche Gespräche früher zu Streit und tiefen Gräben zwischen den Generationen führten, gab es mindestens ein Wissen darüber, woher man kommt, eine historische Dimension der eigenen Existenz. Heute haben sich viele Eltern und Jugendliche so sehr an ihre eigene Geschichtslosigkeit gewöhnt, dass sie sich in einem Leben von Moment zu Moment eingerichtet haben. Die Kids haben ebenso wenig Interesse an der Geschichte der Familie wie an der Geschichte der Menschheit. Und damit entsteht nach Ziehe (2003) auch ein großer Abstand zur kulturellen Überlieferung. Typisch ist z. B. in Shows wie„Wer wird Millionär? “ bei einer Frage nach klassischer Literatur die Antwort: „Das weiß ich nicht, das war vor meiner Zeit.“ Die Populärkultur reduziert auf Teilwissen und Sonderwissen. Der Zeitgeist, der Erlebnisorientierung und Subjektivierung von Erfahrungen fördert, die nicht mit der Geschichte der Generationen vor uns verbunden sind, trennt Teile der jungen Generation von den Konflikten, der Anstrengung, der Ausdauer und den Entscheidungen ab, die das Leben erfordert, von Leidenschaften und individuellen Träumen. „Just do it“ kann auch als Aufforderung zu einem orientierungslosen Aktionismus verstanden werden. Es ist für viele Kids angstbesetzt, eine eigene, einzigartige Leidenschaft zu entwickeln, die sie von Gleichaltrigen trennen könnte. Sie beobachten permanent die Pop-Kultur: sich richtig anzuziehen, die richtigen Sachen zu besit- 185 uj 4 | 2012 Gleichförmigkeit und vernetzte Identität zen, die richtigen Dinge zu konsumieren wird zum Lebensinhalt. Sie werden verführt, die eigene körperliche Perfektion anzubeten, koste es, was es wolle. Sie werden langsam ausgebremst, über innere differenzierte Befindlichkeiten zu sprechen, die vielleicht nicht zum Psychobabbel des Marktes passen. Sie werden durch die Schulbürokratie von der Vorschule bis zum Gymnasium in standardisierte Tests gezwungen, oft ohne die Inhalte zu verstehen oder für das Lernen Leidenschaft zu entwickeln. Vereinheitlichung löst Individualität ab. In Gesprächen mit Jugendlichen drehen sich die wahren Geheimnisse nicht um Sex, Drogen oder Rock ’n Roll, die ohnehin im Internet verbreitet werden, sondern um Nicht-Popkultur-Leidenschaften: geheime Tagebücher, Kunstwerke, die niemand je gesehen hat, oder Stapel von selbst verfassten Fantasie-Geschichten. Kid-cool ist oft eine Fassade für versteckte Interessen - Leidenschaften und Individualitäten, die nicht ausgedrückt werden können. Das authentische Selbst: Yes, we can? So betrachtet, wird das noch so schwierige Verhalten von Jugendlichen verständlich. Was tun sie in der vorgefertigten, wettbewerbsorientierten Welt, um ihr authentisches Selbst zu finden? Sie fordern von ihren verunsicherten Eltern endlos Konsumgüter und alles, was „in“ ist, und zwar mit einer atemberaubenden Selbstverständlichkeit und ohne Selbstbeschränkung. Sie „dissen“ und erniedrigen ohne Vorwarnung und mit wenig Empathie für ihre Wirkung auf andere. Sie versuchen, ihre emotionale Taubheit durch „Kotz-Saufen“ zu überwinden (10 Drinks, bevor man ausgeht). Sie treiben ihre entfremdeten Körper zu Exzessen: hungern, kotzen und gnadenlose Selbstkritik. Sie schneiden sich die Arme oder Beine auf, um Wut auszudrücken. Sie unterwerfen sich der Mode der Tatoos: Bilder oder innere Vorstellungen, die die Welt sehen soll. Sie piercen sich als Beweis dafür, wie cool sie sind, und als Versuch, die äußere harte Schale zu durchdringen, beäugt von den Peers und der Pop-Kultur. Wenn dieses Verhalten im weitesten Sinne noch als Ausdruck von Protest gegen die Vielzahl von vorgefertigten Welten gesehen werden kann, als Protest gegen die Zeitpläne der Eltern, gegen die fragmentierten Kontexte, gegen Erlebniswelten und Konsumtempel und gegen die illusionären Wirklichkeiten in den Medien, bleibt die Frage, was aus den Kindern und Jugendlichen wird, die den Weg in den Protest nicht gefunden haben, sondern konform ihren Weg durch die vorgezeichnete Jugend des 21. Jahrhunderts gehen. Wenn das authentische Selbsterleben, wie Funk (2003) ausführt, zum Hindernis wird, weil man anpassungsfähig, flexibel, cool, ungebunden, mobil und „immer gut drauf“ sein will, kann man sicher über eine gewisse Zeit die Persönlichkeit darstellen, die für den Weg durch die Konformität zwingend notwendig ist. Wenn aber der Erfolg ausbleibt oder ein Ereignis der normalen Wechselfälle des Lebens, wie z. B. Krankheit, Tod eines Familienmitgliedes, Arbeitslosigkeit usw., eintritt, bricht die äußere Fassade zusammen, und die Folgen werden sichtbar: quälende Langeweile, Depressivität, suchthafte Abhängigkeit von stimulierenden Stoffen oder Tätigkeiten, lähmende Antriebslosigkeit, Ohnmachtsgefühle, Sinnlosigkeits- und Minderwertigkeitsgefühle. Offenbar sind tatsächlich psychische und psychosomatische Erkrankungen im Vormarsch. Immer mehr Menschen kommen wegen psychischer Störungen ins Krankenhaus. Laut„Barmer GEK Report Krankenhaus 2011“ hat ihre Zahl in den letzten zwanzig Jahren um 129 % zugenommen. Der Psychosomatik-Forscher Ulrich Egle (2008) sieht eine Welle von Menschen mit somatoformen Störungen auf die Kliniken zukommen. Vielleicht ist der Preis für den Verlust des authentischen Selbsterlebens die Rebellion des Körpers und der Seele. 186 uj 4 | 2012 Gleichförmigkeit und vernetzte Identität Der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter (2008; 2008 a) befindet, dass mehr PatientInnen mit diffusen Ängsten und Depressionen in den therapeutischen Praxen auftauchen. Wir hätten uns in den westlichen Industrienationen auf einen Weg begeben, der uns von Solidarität und Gemeinsinn weit entfernt habe. Aber genau hier sollte wieder das Ziel unserer Anstrengungen liegen, denn das Bankenchaos und die Klimakatastrophe sind nach Richter nur durch gemeinsame Anstrengungen zu bewältigen. In politischen Bewegungen wie z. B. „Attac“, ein Zusammenschluss von Gegnern der wirtschaftlichen Globalisierung, oder in letzter Zeit wieder stärker in den Vordergrund getretene GegnerInnen von Neo-Nazis sind hoffnungsvolle am Gemeinsinn orientierte Gruppierungen zu erkennen. Nicht ohne Grund wurde der Begriff „Wutbürger“ für die Protestbewegungen des Jahres 2010 geprägt. Es sind Jugendliche, junge Erwachsene und ältere „BürgerInnen“, die diese Bewegungen tragen. Nach einer Untersuchung sind die SchulabgängerInnen 2010 wieder aktiver als ihre unmittelbaren VorgängerInnen. Ein Drittel engagiert sich für mehr als nur individuelle Belange. In den 1970er Jahren wirkte noch die Hälfte aller Schulabgänger bei mindestens einer Veranstaltung für einen gemeinnützigen oder wohltätigen Zweck mit (Trzesniewski/ Donnelan 2010). Web 2.0: Ich bin verbunden, also bin ich Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene haben die gleichen Bedürfnisse wie früher: Sie wollen mit anderen Menschen verbunden sein, Spaß haben, eine Zugehörigkeit entwickeln, mit anderen kommunizieren und ein möglichst angenehmes Leben führen. Sie suchen all dieses nur nicht mehr bei ihren Eltern, sondern viel früher durch ihre Beziehung zu Gleichaltrigen. Und sie orientieren sich an den Vorgaben der Medien, des Marktes und an vorstrukturierten Welten, die sie schon bei den Eltern von klein auf kennengelernt haben. Sie haben dafür eine Technologie zur Verfügung, die Gemeinschaft und Zusammenarbeit in einer Intensität ermöglicht, die wir nie zuvor kannten. Sie „sprechen“ permanent mit jemandem per Handy, E-mail, Skype oder SMS, lassen mehr Menschen an ihrem Leben teilhaben, als es jemals in der Geschichte der Menschheit möglich war. Zwar lauert an allen Ecken der digitalen Welt der Kommerz, aber sie katapultiert uns auch in das Zeitalter der Massenbegegnungen. Wer damit begonnen hat, die Möglichkeiten des Cyberspace zu nutzen, und dazu beiträgt, dass mehr und mehr Menschen miteinander kommunizieren und Ideen austauschen, merkt, wie die Haltung der Menschen zueinander in einen Veränderungsprozess gerät. In Nachbarschaften, Dörfern und Städten, in der Politik, in der Kunst, im Gesundheitswesen, in der Geschäftswelt, in Regierungskreisen und in Wohlfahrtsorganisationen - ein Thema zeigt sich immer deutlicher: die wachsende und ungezügelte Kraft des öffentlichen Engagements, die durch die digitale Technologie möglich wird. Die politischen Veränderungen in den Nordafrika-Staaten, die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 oder die Entlarvung von Dissertationen als wissenschaftlich wertlose Plagiate wären ohne Web 2.0 nicht denkbar. Heute sind viele von uns Teil eines privaten Netzwerkes, das uns stärker prägt als die Stadt oder die Gemeinde, in der wir leben. Mit unserem 24-Stunden-/ 7-Tage-Zugang haben wir die Macht in den Händen, wie Schnecken unser Haus permanent mit uns herumzutragen. Die Grenzen zwischen privat und öffentlich, zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Familie und Beruf verschwinden. 2009 ist in einer Untersuchung von Melissa Blau (2010) festgestellt worden, dass Menschen, die ein Handy besitzen und Zugang zum Internet haben, über größere und unterschiedliche persönliche Gesprächsnetzwerke verfügen als Menschen, die nicht die Möglichkeiten des Internet und der Handys nutzen. 40 % der er- 187 uj 4 | 2012 Gleichförmigkeit und vernetzte Identität wachsenen NutzerInnen sind zusätzlich „Inhalts-ProduzentInnen“: sie schreiben, fotografieren, produzieren Videos oder stellen Musik ins Netz, woran sich andere erfreuen. Internet- NutzerInnen bilden„Just-in-time-just-like-me“- Gruppen, die das persönliche Netzwerk erweitern. Und sie pflegen Verbindungen mit Menschen, die sie kennen. Sie treffen sie im Cyberspace und IRL - im richtigen Leben. Gary Small, University of California Los Angeles, hat herausgefunden, dass Menschen, die es nicht gewohnt sind, etwas über Google zu suchen, ein weniger aktives Gehirn hatten, wenn sie es versuchten, als diejenigen, die es gewohnt waren. Aber nach fünf Tagen Übung waren die Gehirne, dank der Neuroplastizität des Gehirns, bei der Google-Suche aktiver und hatten neuronale Verschaltungen in Bereichen gebildet, die vorher überhaupt nicht befeuert wurden. Wir bewegen uns im Denken von einer Periode des industriellen Zeitalters, das ein „Silo-Modell“ bevorzugte (Infos sammeln, Selbstgenügsamkeit und Abgrenzung), zu einem neuen Modell, das mehr mit Interaktion, Netzwerken und Zusammenarbeit zu tun hat. EvolutionswissenschaftlerInnen sagen, dass die Kooperation mit anderen in der menschlichen Natur angelegt ist. Die Neurobiologie hat gezeigt, dass sich unsere Gehirne nur in Kooperation mit anderen Gehirnen entwickeln. Menschen brauchen Menschen. Oder: Ich bin verbunden, also bin ich. Kenneth Gergen stellt in seinem neuesten Buch Relational Being (2011) fest, dass die Menschen zunehmend mehr Fähigkeiten entwickeln, effektiver miteinander zu kommunizieren. Er meint vor allem in den Bereichen Jura, Bildung, Psychologie und Konfliktmanagement Anzeichen dafür zu erkennen, dass wir uns von einer individualistischen zu einer sozialen Gesellschaft bewegen. Das Web 2.0 hat eine neue Welt der Möglichkeiten eröffnet und einen permanenten Gedankenaustausch von vielen gegenüber vielen ermöglicht. Und wenn so viele Menschen miteinander in Verbindung stehen, wird es schwerer, zu verbergen, was in unserer Gesellschaft schief läuft. Ein Advokat des Teufels kann behaupten, dass jeder Austausch letztendlich doch zu mehr kommerziellem Gewinn führt, weil soziale Medien in der Welt des Kommerz irgendwann doch wieder im Kommerz enden. Tatsächlich gibt es eine Form von Kontrollverlust. Transparenz in der Kommunikation bedeutet auch mehr poröse Grenzen. Offen zu sein ist zur Norm geworden. Doch die Technik hat auch zu Vertrauen zwischen Fremden geführt. Wir haben tatsächlich wenige Hemmungen, mit Fremden online zu kommunizieren oder mit ihnen Handel zu betreiben. Wir benutzen meist unsere richtigen Namen, zeigen uns Bilder oder „twittern“ unsere Meinung und unsere „Lieblings-Links“. Die sozialen Netzwerke führen zu einer digitalen Bewusstseinserweiterung, denn jede E-Mail und jedes „Tweet“ heißt soviel wie: „So fühlt es sich an, der Mensch zu sein, der ich bin.“ Und man sieht sich als jemand, der sich um andere kümmert und mit anderen kooperiert. Es scheint, als würden wir beginnen, die Begriffe„Nachbar“ und„Freund“ neu zu definieren. Es geht um weltweite Beziehungen, Verbindungen zueinander und um den Austausch von Waren. Über Ebay kaufen und verkaufen wir, über andere Portale nehmen wir an neuartigen Geschäftsmodellen teil (car sharing, couch surfing). Wir werden zu globalen kollaborativen KonsumentInnen. Es gibt auch Gründe, skeptisch zu sein. Das Online-Universum ist wie eine Großstadt. Jeder kann hier leben und sich austoben: Scharlatane und Verrückte, Verbrecher und verbale „Trolle“, die andere Nutzer beschimpfen und quälen, Hacker und Zerstörer, Verschwörungstheoretiker und Hassprediger. Mit diesen„toxic raiders“ musste die Menschheit von jeher umgehen. Vielleicht befinden wir uns jetzt in einem „Zeitalter des Entweder/ Oder“, in dem sich entscheidet, ob wir das immense Potenzial des Internet nutzen können, um für Millionen von Menschen eine dramatische Veränderung zu bewir- 188 uj 4 | 2012 Gleichförmigkeit und vernetzte Identität ken und ihnen damit ein besseres Leben zu ermöglichen oder lediglich den Konsum von Waren, der unsere Kultur so sehr prägt, zu erweitern. Es wird sich zeigen, ob wir zu passiven KonsumentInnen werden oder das kognitive Plus nutzen, um der Menschheit eine bessere Zukunft zu bereiten. Einige sagen, dass sich die Menschen nie ändern und das Netz mehr zu Vereinzelung führen wird. Andere sagen, je mehr wir voneinander wissen, je mehr nehmen wir Kontakt auf. Beide haben recht. Manche suchen ein besseres Verständnis der Welt und bleiben neugierig gegenüber dem, was sie nicht kennen. Andere nehmen eher zu denen Kontakt auf, die so wie sie selbst sind, und werden keine anderen Haltungen und Kulturen kennenlernen. Howard Rheingold, der Digitalen Journalismus an der Stanford Universität und Virtuelle Kommunikation an der Universität Berkeley lehrt, meint, dass die nächsten Generationen eine Verantwortung dafür entwickeln müssen, das Alphabet des 21. Jahrhunderts zu lernen (2011). Wird die nächste Generation mit der Vermutung groß, dass die Online-Welt ein verwirrendes Puzzle ist, zu dem sie keinen Zugang hat, eine gefährliche Nachbarschaft, in der einem die Identität gestohlen werden kann, ein Morast aus Spams und Pornografie, Desinformation und Kommerz? Oder wächst die nächste Generation damit auf, die passende Antwort auf jede Frage im Internet zu finden, ihre persönlichen Netzwerke zu bündeln und sie persönlich, beruflich, politisch und geschäftlich zu nutzen? Wird sie zusammen mit anderen Probleme lösen, an Online- Diskussionen teilnehmen, dies als Form des bürgerlichen Engagements sehen und Ideen mitteilen, sodass andere daraus lernen können und es für alle einen Gewinn darstellt? Rheingold: „Die Humanität oder Vergiftung durch die zukünftige digitale Kultur hängt zu einem großen Anteil davon ab, was wir wissen, voneinander lernen und uns gegenseitig beibringen“ (zit. nach Blau, 2010, 53). Nach allem, was wir wissen, geschieht dieser Prozess des sozialen Lernens von früh auf durch zwischenmenschliche Kontakte. Kinder lernen von ihren engsten Bezugspersonen, wie sie in dieser Welt sicher geborgen sind und mutig Neues entdecken können. Kinder haben in ihrem Bedürfnis nach Verständnis, Unterstützung und Dauerhaftigkeit bestenfalls Kontakt mit Menschen, die ihnen eine Orientierung geben, wie sie nur liebevolle Erwachsene anbieten können, die über Wissen und Erfahrung verfügen. Dazu ist es erforderlich, dass die Erwachsenen sich auf das besinnen, was diesen Kontakt so einzigartig macht: gemeinsam neugierig auf die großen und kleinen Dinge der Welt schauen und sie verstehen lernen. „Shared Attention“ nennen das die KommunikationsforscherInnen. Es ist nicht so bedeutsam, das Gehirn auf Gedächtnisleistung zu trainieren, sondern den jungen Menschen im direkten Kontakt miteinander etwas über Zusammenhänge zu lehren und Begeisterung zu vermitteln. Wenn Kinder und Jugendliche die Erfahrung machen, dass sie wachsen und sich entwickeln können und dass dies in körperlicher, seelischer und emotionaler Verbundenheit gegenüber zuverlässigen Bezugspersonen geschieht, können sie individuelle Fähigkeiten und Potenziale entwickeln, die weit außerhalb von Gleichförmigkeit angesiedelt sind. Alexander Korittko Baumbachstraße 3 30163 Hannover alexander.korittko@t-online.de Gerald Hüther Universität Göttingen und Mannheim/ Heidelberg Psychiatrische Klinik Von-Siebold-Straße 5 37075 Göttingen ghuether@gwdg.de 189 uj 4 | 2012 Gleichförmigkeit und vernetzte Identität Literatur Barber, B., 2002: Die Infantilisierung des Verbrauchers und die Chancen einer anderen Globalisierung. In: Frankfurter Rundschau vom 28. November 2002 Beck, U., 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main Blau, M., 2010: The Relationship Revolution. The internet as a new way of life. 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