unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2012.art20d
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Zur Notwendigkeit biografischen Verstehens in der Antigewaltarbeit. Ein Praxiseinblick
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Thomas Mücke
Antigewalttrainingskurse sind zielgruppenspezifische Angebote. Sie sollten nur auf diejenigen Jungen und Mädchen angewendet werden, die deutlich im Gewaltkarrierekreislauf verstrickt sind. Allerdings sollten diese Angebote auch frühzeitig den betroffenen jungen Menschen vermittelt werden. In diesem Beitrag möchte ich einige grundsätzliche Bemerkungen zur Notwendigkeit biografischen Verstehens ausführen und dann auf die Frage eingehen, was biografisches Arbeiten in der Antigewaltarbeit zur Vermeidung der Gewaltverfestigung bei jungen Menschen beitragen kann.
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204 unsere jugend, 64. Jg., S. 204 - 212 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art20d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zur Notwendigkeit biografischen Verstehens in der Antigewaltarbeit Ein Praxiseinblick Antigewalttrainingskurse sind zielgruppenspezifische Angebote. Sie sollten nur auf diejenigen Jungen und Mädchen angewendet werden, die deutlich im Gewaltkarrierekreislauf verstrickt sind. Allerdings sollten diese Angebote auch frühzeitig den betroffenen jungen Menschen vermittelt werden. In diesem Beitrag möchte ich einige grundsätzliche Bemerkungen zur Notwendigkeit biografischen Verstehens ausführen und dann auf die Frage eingehen, was biografisches Arbeiten in der Antigewaltarbeit zur Vermeidung der Gewaltverfestigung bei jungen Menschen beitragen kann. von Thomas Mücke Jg. 1958; Diplom-Pädagoge, Diplom-Politologe, Deeskalations-/ Antigewalttrainer, Mitbegründer und pädagogischer Leiter von Violence Prevention Network e.V. (VPN) Das Problem: von der Missachtung zur eigenen Gewaltausübung Die Arbeit mit Jugendlichen macht immer wieder deutlich, dass sich ein roter Faden von Demütigung, Vernachlässigung, Verunsicherung, Gewalt und Gleichgültigkeit durch ihre Biografie zieht. Oftmals erleben die TrainerInnen eine Verdrängung dieser Erfahrungen, ermöglicht durch eigene Gewaltausübungen. Das bedeutet, junge Menschen kennen zumeist gar nicht den Zusammenhang ihrer Lebensgeschichte und ihrer heutigen Gewalthandlungen. Sie durchlaufen nicht die gewöhnlichen Lebensphasen der Identitätsentwicklung, sondern nur die Summe von Bruchlinien der Verunsicherungen (inneres Chaos). Es lassen sich immer wieder ähnliche Entwicklungen und Geschehnisse innerhalb der Biografien der Jugendlichen festmachen, die geschlechtsspezifisch unterschiedlich verarbeitet werden können: ➤ Abwesenheit der Väter in der Erziehung bzw. gewalttätige Erziehungsformen, ➤ primäre und sekundäre Viktimisierungsprozesse in der Kindheit, ➤ abwertende Erziehungsbotschaften, ➤ Alkoholmissbrauch der Eltern, ➤ patriarchalische Familienstrukturen, ➤ familiäre Überforderung, Desinteresse und soziale Desintegration mit der Folge geringer ökonomischer und zeitlicher Ressourcen, ➤ bildungsferner Status, ➤ fehlende schulische Unterstützung der Kinder, ➤ schuldistanziertes Verhalten und niedriger Schulabschluss mit der Folge ausbleiben- 205 uj 5 | 2012 Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen der Erfolgserlebnisse in den sekundären Sozialisationsinstanzen, ➤ frühzeitige Kontakte mit gewaltaffinen Cliquen, ➤ bei jungen Menschen mit Migrationsgeschichte: geringe Akzeptanz in der Mehrheitsgesellschaft (im sozialen Umfeld) und geringer oder gar kein außerschulischer Kontakt zu deutschen Gleichaltrigen. Aus der Praxis der Antigewaltarbeit kann abgeleitet werden, dass Mädchen, die offen physische Gewalt anwenden, sich von gewaltlosen weiblichen Gleichaltrigen durch folgende Phänomene unterscheiden: ➤ Mädchen erleben in ihrer eigenen Biografie häufiger Bruchsituationen, was zu fehlender Selbstsicherheit beiträgt. ➤ Sie sind selbst häufig massiver Gewalt ausgesetzt. ➤ Sie weisen einen ungünstigeren schulischen Laufbahnverlauf aus, was das eigene Selbstwertgefühl beschränkt. Eigene Viktimisierungserfahrungen können dazu führen, dass Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht, Angst, Verzweiflung, Vereinsamung hinter einer gefühlskalten Verschalung versteckt und abgelehnt werden. Diese Jugendlichen lassen dann nichts mehr an sich herankommen. Eigene Gewaltausübungen ermöglichen diesen Verdrängungsprozess, da hier Gefühle von Macht, Anerkennung und Respekt erlebbar werden und den Jugendlichen scheinbar unangreifbar machen. Die subjektive Sinnhaftigkeit von Gewaltverhalten ist hier die Verdrängung lebensgeschichtlicher Erfahrungen. Gleiches findet sich auch bei weiblichen Jugendlichen wieder, die mit Gewalthandlungen auffielen. Frühzeitig entwickelt sich bei diesen jungen Menschen der Prozess der Gewaltkarriere - vom ersten Schlag als epiphanische Erfahrung bis zur grundsätzlichen feindlichen Wahrnehmung der sozialen Umwelt. Der Kreislauf der Gewaltkarriere nach den Grundgedanken von Sutterlüty zeigt dies deutlich. Der Gewaltkarriereverlauf Sutterlüty unterscheidet im Zusammenhang mit der Herausbildung von Gewaltkarrieren drei Entwicklungsstränge, die keine zeitliche Stufenfolge bilden müssen, aber doch mehr oder weniger aufeinander aufbauen: „epiphanische Erfahrungen“, gewaltaffine Interpretationsregimes“ und „Gewaltmythologien“ (2002, 251). Epiphanische Erfahrungen Der erste Entwicklungsstrang geht aus Ereignissen hervor, in denen die Jugendlichen den Wechsel von der Opferin die Täterrolle vollziehen. Diese Ereignisse werden epiphanische Erfahrung genannt und werden häufig als Brücke zu einer neuen Lebensphase und zu einem neuen Selbstverständnis beschrieben, das sich wesentlich durch Gewalt konstituiert und Selbstachtung bzw. Selbstvertrauen aufbaut und Anerkennung und Respekt im Umfeld aus- Abb. 1: Der Gewaltkarriereverlauf: der Kreislauf von Misshandlung und Missachtung bis zum eigenen Gewalthandeln Viktimisierung in der Kindheit Gewaltaffine epiphanische Erfahrung Gewaltmythos Rechtfertigungszwang Gewaltaffines Interpretationsregime Stigmatisierung des sozialen Umfeldes 206 uj 5 | 2012 Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen löst. Diese Erfahrungen können in einer Situation erfolgen, in der das Opfer von Missachtung und Misshandlung sich gegen den Schädiger zur Wehr setzt, also eine direkte Konfrontation zwischen Opfer und familiärem Täter stattfindet. Der ohnmachtsbedingte Hass kann aber auch in außerfamiliäre Bahnen gelenkt werden. Für eine gewisse Zeit können somit die erlittenen Demütigungs- und Ohnmachtserfahrungen kompensiert werden, verschwinden allerdings nicht und müssen durch neue Gewalthandlungen wiederholt werden (vgl. Sutterlüty 2002, 251 - 277). Neben diesen singulären epiphanischen Erfahrungen spielen bei der Entwicklung von Gewaltkarrieren auch Interpretationsprozesse eine entscheidende Rolle, die auf die familiäre Opfergeschichte zurückgehen, nämlich die „gewaltaffinen Interpretationsregimes“. Gewaltaffine Interpretationsregimes Gewalt wird bei den Jugendlichen dann zu einer wahrscheinlichen Handlung, wenn die Wahrnehmung einer Interaktionssituation im Zusammenhang mit biografischen Erfahrungen steht, d. h. der Begriff des gewaltaffinen Interpretationsregimes weist einerseits auf die besondere Sensibilität für Situationen, in denen sich zu wiederholen droht, was die Jugendlichen von zu Hause kennen, und andererseits auf die Bereitschaft hin, in solchen Situationen zu Gewalt zu greifen: „Als Interpretationsregimes können diese Deutungen bezeichnet werden, weil sie keiner bewussten Entscheidung der Jugendlichen entspringen, gewisse Interaktionssituationen auf eine bestimmte Weise zu betrachten und zu werten. Sie deuten diese Situationen im Lichte vergangener, paradigmatischer Situationen, ohne dass sie sich oder anderen darüber Rechenschaft geben könnten. Die Jugendlichen werden vielmehr von ihren biografischen Erfahrungen beherrscht und unterstehen dem Regime der mit ihm erworbenen Wahrnehmungsmuster. Die entsprechenden Situationen sind aus biografischen Gründen überdeterminiert - und dies nicht nur, was ihre Interpretation, sondern auch was die folgende Reaktion angeht. Interpretationsregimes im hier gemeinten Sinn sind gewaltaffin, weil die Jugendlichen bestimmte Situationen durch die Brille von Deutungsmustern wahrnehmen, die eine gewaltsame Antwort als die naheliegendste erscheinen lassen. Sie wollen nicht länger Opfer der Gewalt und Objekt der Erniedrigung sein und glauben, da sie die feindselige Welt ihrer Familie auf andere Handlungskontexte übertragen, sich ständig verteidigen und den Angriffen anderer zuvorkommen zu müssen“ (Sutterlüty 2002, 278). Gewaltmythologien und Kämpferideale Die Erfahrung der Gewaltausübung kann Folgen für das Selbstbild der Akteure und ihre normativen Ideale haben. „Wenn in der Erfahrung der Gewaltausübung selbst ein anziehendes, weil Ekstasezustände und Machtgefühle verbürgendes Moment steckt, dann kann dies nicht ohne Folgen für das Selbstverständnis und die Wertehaltungen bleiben“ (Sutterlüty 2002, 293). Bereits die epiphanische Erfahrung als Auftakt zu einem neuen Selbstverständnis wird durch die nachhaltige Wirkung von Gewaltakten verallgemeinert und kann dazu führen, dass Jugendliche die Gewaltsamkeit zu einem positiven Wert erheben. Die entstandenen Werte und Selbstbilder von gewalttätigen Jugendlichen bezeichnet Sutterlüty als „Gewaltmythologien“. Er führt zwei Gründe auf, von Mythologien der Gewalt zu sprechen: Erstens können mit dieser Bezeichnung die vielfältigen Verherrlichungen von Macht und Stärke in Verbindung gebracht werden mit den hohen Erwartungen, die Jugendliche mit der Gewaltausübung verbinden. Mit der Gewaltausübung wird eine bisher nicht gekannte Anerkennung erreicht, die den Jugendlichen eine ungeahnte Größe verleiht. 207 uj 5 | 2012 Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen Zweitens bezieht sich der Begriff „Mythologie“ auf den Fakt, dass die Jugendlichen der Gewalt Wirkungen zusprechen, die sich früher oder später durch konträre Gegenfolgen als unrealistisch herausstellen müssen. „Die Anerkennungserwartung wird durch gegenläufige Gewaltfolgen konterkariert, die von der Stigmatisierung im privaten Lebensumfeld, negativen schulischen oder beruflichen Konsequenzen bis hin zu strafrechtlichen Folgen reichen“ (Sutterlüty 2002, 294). In diesem Sinne bleiben die hohen Erwartungen an die glorreichen Wirkungen der Gewalt ein bloßer Mythos. Forschungsergebnisse zu kindlichen Entwicklungsrisiken zeigen, dass sich erstaunlich viele Kinder und Jugendliche trotz belastender Lebensbedingungen und ausgeprägter Risiken zu kompetenten, leistungsfähigen und stabilen Persönlichkeiten entwickeln (vgl. Zander 2008): Sie zeigen sich resilient. Resilienz (Widerstandskraft) meint die Fähigkeit einer Person, erfolgreich mit belastenden Ereignissen und Lebensumständen umzugehen. Diese Menschen „zerbrechen“ nicht an schwierigen Lebensumständen. Um von Resilienz sprechen zu können, müssen zwei Kriterien vorliegen: ➤ schwierige Lebensumstände, die eine bedeutende Bedrohung für die kindliche Entwicklung darstellen, ➤ eine erfolgreiche Bewältigung dieser belastenden Lebensumstände, d. h. es treten keine psychosozialen Störungen (wie z. B. gewalttätiges Verhalten, Sucht, Depressionen) auf, und es werden altersangemessene Fähigkeiten erworben, um die altersspezifischen Entwicklungsaufgaben zu leisten. Daraus folgert, dass gewaltbereite junge Menschen nicht wirklich resilient sind. Aber da Resilienz keine angeborene Eigenschaft der Person darstellt, kann diese sich entwickeln. Voraussetzung ist hierfür der Aufbau einer sicheren Bindung zu einer Bezugsperson. Hierbei geht es um Wechselwirkungsprozesse, bei denen die erfolgreiche Bewältigung von belastenden Lebenssituationen die Persönlichkeit weiter stärkt und das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Selbstwertgefühl verbessert. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass Antigewaltarbeit beziehungsorientiert und langfristig verankert sein muss. Biografiearbeit im Kontext der Antigewaltarbeit richtet sich an Menschen, deren Ausgangsbedingungen für die eigenständige Gestaltung der Biografie erschwert sind. Anlass der Biografiearbeit sind krisenhafte Entwicklungen, die einer Rückschau bedürfen, um unverstandene Teile eigener Lebensgeschichte zu erklären. Biografisches Verstehen - Aufarbeiten der eigenen Geschichte Biografiearbeit zielt allgemein auf die Stärkung persönlicher Verantwortungsübernahme, auf die Förderung von Eigenständigkeit sowie auf die Fähigkeit, Vergangenheitserfahrungen mit Gegenwärtigem und Zukünftigem verbinden zu können. In der Arbeit mit jungen Menschen geht es darum, dass „innere Chaos“ zu ordnen. Allgemein zielt biografische Arbeit darauf, das Wissen über sich selbst zu verbessern und zu lernen, sich selbst zum Thema zu machen. Erst dadurch können Verantwortungsübernahme und eigene Handlungssteuerung funktionieren. Über die Biografiearbeit werden auch Ressourcen identifiziert, die für das Zukünftige wichtig sind; und gleichzeitig gilt es, sich von alten negativen Einflussfaktoren (z. B. gewalttätige Clique) verabschieden zu können. Es entsteht aber durch pädagogisch angeleitetes biografisches Arbeiten eine weitere Schlüsselkompetenz: die Kompetenz der biografischen Verknüpfungsfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, Lebensereignisse zu verknüpfen und heutiges Handeln selbst zu steuern. 208 uj 5 | 2012 Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen Die bekannteste Form der Biografiearbeit ist dem Lebensrückblick („life review“) gewidmet. Als Erinnerungsarbeit wird die bewusste Rekonstruktion und Verarbeitung von Erinnerungen und Erfahrungen bezeichnet. Sie dient der Erklärung, Bewältigung und Integration von Erfahrungen. Eine wichtige Funktion der Biografiearbeit besteht darin, junge Menschen bei der Identitätsentwicklung und der Integration von Erfahrungen in das eigene Lebens- und Selbstkonzept zu unterstützen. Wir unterstützen sie bei der Frage: „Woher komme ich? Wer bin ich? Wer will ich sein? Was ist mir wichtig? Welchen Sinn hat mein Leben? “ Es sind existenzielle Fragen nach dem eigenen Selbstverständnis, nach der eigenen Identität. Die Analyse der eigenen Biografie dient den Jugendlichen nicht als Entschuldigung für ihr Gewaltverhalten. Das Nachzeichnen ihrer ureigensten Geschichte gibt ihnen Erklärungen und die Vorstellung, dass sie selber die Akteure ihres Lebens und des Geschehens darin sind. Mit ihnen ist nicht nur etwas geschehen, ihnen ist die Tat nicht einfach nur widerfahren - wie es die ersten Legitimationen, die zunächst präsentierten Verleugnungs- und Verharmlosungsstrategien für ihre Taten nahe zu legen scheinen. Sie sind Handelnde, und dafür gibt es Erklärungen. Sie müssen eine Ahnung von dem lebensgeschichtlichen Muster, dessen sie sich bedienen, bekommen. Nur wenn sie ergründen können, warum sie Gewalt anwenden, warum sie dieses Verhalten als misslungenen Selbstheilungsprozess ihrer eigenen Verletzungen und als Tankstelle für ihr eigenes Ego brauchen, werden sie in der Lage sein, Alternativen zu entwickeln und ihre Gewaltkarriere zu unterbrechen. Beim biografischen Verstehen wird Raum für Gefühle gegeben. Die TrainerInnen zeigen Verständnis für die jeweilige Situation und die damit verbundenen Gefühle. Damit können diese akzeptiert werden. Zusammengefasst sind Ziele des biografischen Arbeitens: ➤ Sich selbst verstehen, reflektieren und verbalisieren, ➤ Emotionen zulassen können und Empathie erleben, ➤ Erinnerungsarbeit zu eigenen Demütigungserfahrungen zu leisten, ➤ Verstehen der eigenen „Gewaltkarriere“, ➤ Biografische Stärken hervorheben. Die biografische Arbeit zwischen gewaltbereiten männlichen und weiblichen Jugendlichen unterscheidet sich kaum in den Inhalten. TrainerInnen müssen Empathie für die Biografien des einzelnen Jugendlichen zeigen. Dabei sind folgende Grundsätze zu berücksichtigen: ➤ Wer lebensgeschichtlich arbeitet, muss selbst biografisch reflektiert sein. Ansonsten können Helfersyndrome, eigene biografische Erlebnisse, eigene Vorstellungen vom gelungenen Leben die AdressatInnen unserer Arbeit fremdbestimmen. ➤ Es gilt zu berücksichtigen, dass Jungen und Mädchen oft selbst massiv Gewalt erlebt haben. Das Erzählte muss ernst genommen werden, alte Verletzungen dürfen nicht infrage gestellt werden, ansonsten besteht die Gefahr neuer Traumatisierungen. ➤ Sexuelle Missbrauchserfahrungen sind keine Seltenheit bei gewaltbereiten Mädchen. Schon aus diesem Grunde sollten keine männlichen pädagogischen Fachkräfte biografische Arbeit mit Mädchen leisten. ➤ Biografische Dialoge sind immer Angebote, „etwas“ über sich zu erzählen. Lebensgeschichtliches zu offenbaren darf noch nicht einmal andeutungsweise (auch nicht pädagogisch) erzwungen werden. ➤ PädagogInnen sind im biografischen Dialog Gäste in der Geschichte des jungen Menschen. Der junge Mensch entscheidet, was er dem Gast erzählen möchte und was nicht und wann das Gespräch beendet ist. 209 uj 5 | 2012 Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen ➤ Pädagogik und Therapie sind getrennte Tätigkeits- und Wirkungsbereiche. Psychotherapie hat das Ziel, die Ursachen gestörten Verhaltens und Erlebens aufzudecken und durch gezielte Interventionen individuell zu heilen. Im Kontext sozialer und pädagogischer Arbeit sind die jungen Menschen selbst die Interpreten ihrer Lebensgeschichte. Biografiearbeit ist hier partizipativ, dialogisch und kooperativ angelegt. ➤ Eine Antigewaltarbeit, die sich nur auf den aktuellen Problemkontext konzentriert und den biografischen Problemhintergrund ausblendet, greift ebenso zu kurz wie eine Psychotherapie, die allein bei der individuellen Tiefendimension der Klientel ansetzt. Hinzu kommt das Problem, dass gewaltbereite junge Menschen sich kaum auf eine psychotherapeutische Arbeit einlassen. In pädagogischen Berufsfeldern ergibt sich die Möglichkeit einer Niedrigschwelligkeit biografischen Arbeitens. Fazit Junge Menschen mit schwierigen Biografien sind zumeist beziehungs- und bindungsgehemmt. Sie hegen ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Fremden und VertreterInnen der Erwachsenenwelt, denn sie haben in der Regel bereits sehr viele negative Erfahrungen mit Erwachsenen machen müssen, die ihr Vertrauen enttäuscht oder missbraucht haben. Es erfordert daher Zeit und Geduld, die TeilnehmerInnen zu ermutigen, sich freiwillig auf einen auf Vertrauen basierenden Prozess mit den TrainerInnen einzulassen, miteinander ins Gespräch zu kommen, den jeweils anderen zu verstehen und gegenseitiges Vertrauen zu entwickeln. Ein beziehungsorientiertes Trainingskonzept kann den TeilnehmerInnen eine neue Erfahrung geben, die es ihnen ermöglicht, ihre Umgebung nicht mehr als feindselig zu betrachten und Konflikte anders bewerten zu können. Für sie wird eine neue soziale Situation geschaffen, damit sie von Gewalteinstellungen Abschied nehmen können. Beziehungs- und Veränderungsprozesse können nicht zeitzerstückelt und hastig durchgeführt werden. Nicht wenige TeilnehmerInnen haben durch die TrainerInnen zum ersten Mal in ihrem Leben erfahren, was es bedeutet, als Person ernst genommen zu werden und für andere wichtig zu sein. Daher müssen Trainingskonzepte auf eine mehrmonatige intensive Auseinandersetzung ausgerichtet sein und schaffen so neue Erfahrungen von Dialogmöglichkeiten. In der Beziehung zu den TrainerInnen liegt für die jungen Menschen die Chance, sich besser kennenzulernen, die eigenen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Defizite und Ressourcen zu erkennen und dadurch auch zu persönlichen Erfolgserlebnissen zu gelangen. So werden auch biografische Aufarbeitungen möglich, damit die Anziehungskraft gewalttätigen Verhaltens und menschenverachtender Ideologien an Wirkung verliert. Der junge Mensch wird in der Gesamtheit seiner Geschichte und seiner Lebenswelten und im Kontext sowohl seines abweichenden Verhaltens wie auch seiner vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen betrachtet. Er wird im Kreislauf von Gewaltausübung und eigenen Misshandlungs- und Missachtungserfahrungen gesehen. Das biografische und lebensweltliche Verstehen ist ein Schlüsselelement des Trainings, da nur hierdurch der Zugang zum Entstehen von Hass und Gewalt geschaffen werden kann. Der Jugendliche wird somit nicht auf seine Gewalttaten reduziert. Seine Veränderungsoptionen fokussieren den Blickwinkel auf seine Fähigkeiten und Ressourcen. Erst eine verlässliche Beziehungsarbeit, eine wertschätzende Akzeptanz der Person und die ständige Bereitschaft zur Auseinandersetzung ermöglicht Veränderungs- und Entwicklungsprozesse. Angestrebt werden Lernprozesse, die die Jugendlichen als einen persönlichen Wachstumsprozess begreifen. 210 uj 5 | 2012 Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen Dabei sind Anerkennung und Wertschätzung für die Entwicklung eines positiven Selbstbildes und der Selbstachtung des jungen Menschen von zentraler Bedeutung. Um andere Menschen anerkennen zu können, ist es Voraussetzung, von anderen anerkannt zu werden und sich selber wertzuschätzen. Mit der Dreigliederung eines Trainings in Aufarbeitung der Vergangenheit, Auseinandersetzung mit der eigenen Person in der Gegenwart und Blick auf die Zukunft wird eine breite Plattform geschaffen für die Auseinandersetzung mit den bestehenden Problemen, denen sich die TeilnehmerInnen stellen müssen. Aber begonnene Lernprozesse müssen in einem dialektischen Prozess fortgeführt werden. Das Verlernen von Gewalt erlaubt keinen Gedankenstopp, und das Erlernte muss stabilisiert werden. Methoden biografischen Verstehens Es gibt zahlreiche Methoden biografischen Verstehens, die für unterschiedliche Altersgruppen angewendet werden können. Zwei Methoden möchte ich im Folgenden ausführlicher darstellen: Der biografische Dialog und die Genogrammerstellung werden dazu genutzt, biografische Erfahrungen im Zusammenhang mit der Gewaltkarriere zu betrachten. Biografische Interviews geben Raum für Gefühle Vor Trainingsbeginn wird mit dem Mädchen oder Jungen ein Intensivinterview durchgeführt. Damit wird auch vor Beginn der Arbeit in der Gruppe die Vertrauens- und Arbeitsbeziehung zu den TrainerInnen gefördert. Ziel ist es, sich selber zu verstehen und reflektieren zu lernen, Emotionen zuzulassen und auch schwierige biografische Episoden zu verbalisieren. Es sollen die Zusammenhänge zwischen der Geschichte, der Herausbildung gewaltorientierten Verhaltens und vorurteilsorientierter Einstellungsmuster und der jetzigen Situation des Jugendlichen herausgearbeitet werden. Wie wurden persönliche Desintegrations- und Demütigungserfahrungen subjektiv verarbeitet und welche Rolle nimmt hierbei auch die Familien- und Cliquendynamik ein? Somit werden die Entwicklungsschritte und Wendepunkte von Gewaltkarrieren der Jugendlichen herauskristallisiert. Dabei wird ein Zusammenhang zwischen eigener erlebter Viktimisierung und selbst ausgeübter Gewalt überprüft. Weiterhin werden anhand von Ressourcenerfassungen und neuen Lernprozessen die „Ausstiegsmöglichkeiten“ aus einer Gewaltkarriere aufgezeigt. Die einzelnen Themenbereiche des Interviews sind: ➤ Bedingungen des Aufwachsens (Beschreibung von Kindheit und Jugend), ➤ Bedeutung der Familie, ➤ Bedeutung der Gleichaltrigengruppe, ➤ Gewalthandlungen und Kriminalitätsverlauf, ➤ Selbstbild, ➤ Zukunftseinschätzungen. Anhand eines Interviewleitfadens wird mit den Jugendlichen ein narratives Interview durchgeführt. Die Interviews sollen den Kreislauf der Gewalt aus der Perspektive des Jugendlichen darstellen. Mithilfe des Leitfadens wird der/ die Interviewte zum Erzählen animiert. Das narrative Interview hat die Absicht, dem/ der Interviewten Raum zu geben, aus seiner/ ihrer Sicht wichtige Informationen zu geben. Die Idee ist, dass mit der Auslösung des Erzählflusses eine Dynamik wirksam wird, die den Strukturprinzipien einer Erzählung Rechnung trägt. Somit ist es Ziel, möglichst authentische Aussagen des/ der Interviewten zu seiner/ ihrer Lebensgeschichte zu erhalten, was durch eine 211 uj 5 | 2012 Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen empathische und wertschätzende Haltung des/ der InterviewerIn gegenüber dem/ der InterviewpartnerIn unterstützt wird. Im weiteren Verlauf dieser und folgender Sitzungen geben die TrainerInnen ihre Deutungen des Erzählten. Sie entwickeln Arbeitshypothesen zum Verlauf der Gewaltkarriere, um den Jugendlichen weitere Denkanstöße anbieten zu können. Genogramme schaffen Überblick und neue Einblicke Das Genogramm stellt die Familiengeschichte, die Konflikte und Konfliktpotenziale innerhalb der Familie dar. Weiterhin werden mögliche Unterstützungssysteme aufgeführt. Das Genogramm als ein Familienschaubild ist eine praktische Methode, Familienstrukturen und die Beziehungen der einzelnen Familienmitglieder zueinander übersichtlich in einer Grafik darzustellen. Gemeinsam mit dem/ der Jugendlichen kann der aktuelle Stand seiner/ ihrer Beziehungen dokumentiert werden. Mit einem Genogramm können aktuelle Probleme der Familie und eventuell historisch entstandene Konflikte sichtbar werden. Mithilfe der TrainerInnen können die Jugendlichen ihr Beziehungsgefüge auf eine neue Art reflektieren, emotionale Probleme können rational „gezeichnet“ werden. Neben den Informationen über Familienangehörige, wichtige Familienereignisse und aktuelle Konflikte sind für das Training Informationen über Problembereiche wie Migration, Diskriminierung, Alkoholismus, Kriminalität, familiäre Überforderung und familiäre Gewalt, Vorhandensein antidemokratischer Einstellungen relevant: ➤ Aufführung der Familienmitglieder und wichtiger Bezugspersonen, ➤ Bewertung der Personen und der Beziehungen, ➤ Auflistung der Konfliktlinien (u. a. Konflikte zwischen den Eltern, geringe Erziehungsfertigkeiten und inkonsequentes Erziehungsverhalten der Eltern, Anwendung machtbetonter Erziehungsmethoden, fehlende Wärme und Anteilnahme der Eltern, Alkoholismus und Krankheiten), ➤ Erfassung des innerfamiliären Gewaltpotenzials, ➤ Erfassung der Akzeptanz traditioneller und fundamentalistischer Denkmuster innerhalb der Familie, ➤ Auflistung möglicher positiver Unterstützungssysteme, ➤ Erfassung des persönlichen Ressourcenpools. Die Auswertung erfolgt mit den jungen Menschen gemeinsam. Es wird besonders die Frage berücksichtigt, welches die missbrauchenden und überforderten Beziehungen sind und welche positiven Unterstützungssysteme erkennbar und fördernd sind. Weitere biografische Methoden Weitere biografische Methoden sind beispielsweise: ➤ Eigene Biografie darstellen: PädagogInnen stellen offen und ehrlich ihre eigene Biografie mit ihren Brüchen dar. Dies wurde besonders von Trainerinnen in der Arbeit mit Mädchen eingesetzt, und die Erfahrungen zeigen hier, dass diese Offenlegungen von den Teilnehmerinnen nicht missbraucht wurden, sondern zu einer offenen und vertrauensvollen Atmosphäre beitrugen. ➤ Biografische Kurve: Jede/ r TeilnehmerIn erstellt eine „biografische Kurve“ mit drei Verläufen (familiärer Verlauf, schulischer Verlauf, Verlauf der Orientierung an Gleichaltrigen). Der Kurvenverlauf ergibt sich aus einer jeweils subjektiven bewer- 212 uj 5 | 2012 Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen tenden Positionierung im positiven oder negativen Bereich. Jeder Jugendliche stellt seine Kurve der Gruppe vor. Es können dann Korrelationen und Gemeinsamkeiten erörtert und transparent gemacht werden, die das eigene Verhalten erklärbar machen. Dem anschließen können sich Übungen wie der „Kreis der Gemeinsamkeiten“. ➤ Aufstellungen (Gefühlsaufstellungen oder Familienaufstellungen): Die Suche nach dem Schlüssel, welcher immer wieder zu gewalttätigem Verhalten führt. ➤ Meine Wurzeln: - Die Geschichte meines Namens: Woher komme ich? Was sagt mein Name über mich? Woher kommen meine Vorfahren? - Die Symbole meiner Gruppe/ Szene: Was bedeutet das Symbol für mich? Woher stammt es? ➤ Kreative Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen, z. B.: - Malen zu Musik (unter Vorgabe spezifischer Themen oder Fragestellungen) - Ich drehe meinen eigenen Film (z. B. zum Thema „Helden meines Alltags“ oder „Orte meines Lebens“ oder „ Die Hauptrolle in meinen Leben spiele ich“) - Eigene Songs schreiben wie z. B. im Rap-Workshop - Theaterworkshops Thomas Mücke Violence Prevention Network e. V. (VPN) Alt-Moabit 73 10555 Berlin thomas.muecke@violence-prevention-network.de Literatur Sutterlüty, F., 2002: Gewaltkarrieren. Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung. Frankfurt am Main Zander, M., 2008: Armes Kind - starkes Kind. Die Chance der Resilienz. Wiesbaden
