unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2012.art21d
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Ausbildungsbedingte Mobilität
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Michael Batz
Kerstin Eichfelder
Eine Studie über Auswirkungen ausbildungsbedingter Mobilität auf die Lebenssituation Jugendlicher macht deutlich, dass neue Ansätze für eine angemessene vorbereitende und begleitende Unterstützung der Jugendlichen in dieser Lebensphase notwendig sind.
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213 unsere jugend, 64. Jg., S. 213 - 220 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art21d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Ausbildungsbedingte Mobilität Auswirkungen auf die Lebenssituation Jugendlicher und Anforderungen an eine sozialpädagogische Begleitung Eine Studie über Auswirkungen ausbildungsbedingter Mobilität auf die Lebenssituation Jugendlicher macht deutlich, dass neue Ansätze für eine angemessene vorbereitende und begleitende Unterstützung der Jugendlichen in dieser Lebensphase notwendig sind. von Dr. phil. Michael Batz Jg. 1968; Diplom-Sozialpädagoge, M. A. in Philosophie, Psychologie und Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Leiter des Don Bosco Jugendwerks Nürnberg Kerstin Eichfelder Jg. 1978; Diplom-Sozialpädagogin (FH), Erzieherin, Kinderpflegerin, Klangpraktikerin nach P. Hess, Pädagogische Mitarbeiterin des Don Bosco Jugendwerks Nürnberg Der Auszug aus dem Elternhaus stellt für junge Menschen einen wesentlichen Schritt ins Erwachsenenleben dar. Das Auszugsverhalten hat sich jedoch in den letzten Jahren gewandelt: Während einerseits bundesweit in den letzten Jahren ein Trend festzustellen ist, wonach junge Menschen ihren Auszug aus dem Elternhaus zunehmend länger hinauszögern und in den Medien von einer „Generation der Nesthocker“ die Rede ist, muss andererseits auch eine anhaltend hohe ausbildungsbedingte Mobilität junger Menschen konstatiert werden. Trotz einer leichten Entspannung auf dem Ausbildungsstellenmarkt spricht vieles dafür, dass die Anforderungen an die Mobilität von Auszubildenden keineswegs abnehmen werden. Auch weiterhin wird nicht für jeden Jugendlichen der Wunschberuf oder überhaupt eine passende Ausbildungsstelle am Heimatort verfügbar sein. Zudem ist zu vermuten, dass - bedingt durch die demografische Entwicklung - eine flächendeckende Infrastruktur an lokalen Berufsschulen nicht mehr aufrechterhalten werden kann und Ausbildungsstandorte in Form von landesbzw. bundesweiten Fachklassen zentralisiert werden müssen. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass die zunehmende Internationalisierung der Ausbildungen zu neuen Anforderungen an die berufliche Mobilität (z. B. in Form von Praktika und Ausbildungsanteilen im Ausland) führen wird. Mit einem Praxisforschungsprojekt haben wir daher verschiedene Auswirkungen beruflicher Mobilität auf die Lebenssituation Jugendlicher näher untersucht. Zu diesem Zweck wurden in halbstandardisierten Interviews und schriftli- 214 uj 5 | 2012 Mobilität bei Jugendlichen chen Befragungen insgesamt 100 weibliche und 50 männliche Jugendliche in den Städten Nürnberg, Stuttgart und München befragt. Alle Jugendlichen befanden sich in einer schulischen oder beruflichen Ausbildung und absolvierten diese in einer anderen Stadt als dem Heimatort. Berücksichtigt wurden Jugendliche, die ihre Ausbildung im Alter von 15 bis 21 Jahren aufgenommen hatten. Davon war die Mehrzahl der Befragten (71 %, die Prozentzahlen sind zur besseren Lesbarkeit gerundet) zum Zeitpunkt des Ausbildungsbeginns zwischen 15 und 18 Jahre alt. Hinsichtlich der Entfernungen zwischen der Gaststadt und dem Heimatort ist eine große Spannbreite zwischen unter 50 bis über 400 km festzustellen, wobei für 30 % der Jugendlichen die Entfernung zwischen 100 und 150 km beträgt. Für die meisten Befragten stand die Entscheidung für den Umzug bereits länger als sechs Monate zuvor fest, allerdings lag bei immerhin 15 % der Befragten ein Zeitraum von weniger als zwei Monaten zwischen der Entscheidung und dem Umzug. Die Studie konzentrierte sich auf drei Schwerpunkte: Durch welche äußeren Rahmenbedingungen ist das Auszugsverhalten der Jugendlichen geprägt? Wie wirkt sich der Auszug auf die Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen aus? Welche Hoffnungen und Befürchtungen verbinden Jugendliche mit dem Auszug und inwieweit bewahrheiten sich diese? Regionale Identität Junge Menschen, die ausbildungsbedingt von zu Hause ausziehen, werden fast unweigerlich mit ihrer eigenen regionalen Herkunft sowie mit den „Eigenarten“ der neuen Region konfrontiert. So konnte sich ein Jugendlicher, der bereits zwei Jahre in einem Wohnheim lebt, noch gut an seine ersten Begegnungen in der Stadt erinnern: Es war seine erste Erkundung allein in Nürnberg, und er hat die Menschen, die seinen Weg kreuzten, alle freundlich gegrüßt. Diese reagierten jedoch gar nicht oder mit großer Verwunderung. Hätte er bei sich zu Hause gerade ältere Leute nicht gegrüßt - er wäre von seinem Opa kurze Zeit später zur Rede gestellt worden, was denn diese Unverschämtheit soll und warum er so unhöflich ist. Mittlerweile grüßt er in seiner Gaststadt nur noch die Leute, die er kennt. Aber so richtig heimisch wird er sich hier nie fühlen. Zu groß ist doch für ihn die Differenz zur Heimatstadt, in die er auch wieder umzieht, sobald die Ausbildung beendet ist. Seit etwa den 1980er-Jahren hat die Frage nach der Bedeutung „lokaler bzw. regionaler Identität“ in der sozialwissenschaftlichen Forschung zunehmend Beachtung gefunden. Die keineswegs unumstrittene Renaissance der „Heimat“ und anderer Begriffe raumbezogener Identität steht dabei in einem engen Zusammenhang mit den Phänomenen einer fortschreitenden Globalisierung. Angesichts der Anforderungen der Moderne an Mobilität und Flexibilität, des fortschreitenden Verlustes regionaler und nationaler Autonomie sowie des Bedeutungsverlustes kulturspezifischer Differenzierungen im Zuge der weltweiten Vernetzung moderner Sozial- und Wirtschaftssysteme vermittelt regionale Identität, so die vielfach anzutreffende These, ein Gefühl von Schutz und Sicherheit und bietet einen wichtigen Orientierungs- und Wertmaßstab für andere soziale Erfahrungsräume. Bislang ist es der sozialwissenschaftlichen Forschung jedoch nicht gelungen, den Begriff der „regionalen Identität“ zufriedenstellend zu klären. Zudem wurde wiederholt auf die „Janusköpfigkeit“ regionaler Identität hingewiesen, da diese auch zu negativen Effekten wie etwa Provinzialität, Rückwärtsgewandtheit oder ideologischen Gefährdungen (z. B. „Heimat“-Positionen rechtsextremer Theorien) führen kann. Eine sinnvolle Grundlage für eine Theorie raumbezogener Identität hat P. Weichhart (1990) im Anschluss an C. F. Graumann geleistet. Im Rahmen dieses Modells werden drei Identifika- 215 uj 5 | 2012 Mobilität bei Jugendlichen tionsprozesse unterschieden, die sowohl für Individuen als auch für soziale Gruppen relevant sind. „Identification of“ bezeichnet den Prozess, in dem ein Individuum etwas oder jemanden in seiner/ ihrer Umwelt identifiziert. „Being identified“ bezieht sich auf die Erkenntnis eines Individuums, dass es selbst identifiziert wird und damit eine Zuschreibung von bestimmten Merkmalen und Eigenschaften verbunden sein kann. „Identifying with one‘s environment“ schließlich meint die Bezugnahme des Individuums zu seiner sozialen und physischen Umwelt im Prozess der Ausgestaltung der eigenen Persönlichkeit. Übertragen auf eine Systematik der raumbezogenen Aspekte von Identifikation verweist die erste Variante jener „modes of identification“ auf den Prozess der kognitiv-emotionalen Repräsentation von Raumausschnitten. Dieser Prozess beinhaltet insofern einerseits die gedankliche Erfassung eines wie auch immer abgegrenzten physischen Raumes - sei es nun im Sinne eines Wohnquartiers, einer Stadt oder einer anderen räumlichen Bezugsebene - sowie andererseits eine emotional-affektive Bewertung dieses Raumausschnitts aufgrund von bestimmten Eigenschaften, die mit diesem in Verbindung gebracht werden. In der zweiten Variante geht es darum, dass neben einer Vielzahl von Merkmalen, die einer Person zugeschrieben werden können, auch die regionale Herkunft eine Rolle spielt. Die Auseinandersetzung mit solchen Zuschreibungen kann gerade für Jugendliche eine enorme Belastung darstellen. So begründet beispielsweise eine Jugendliche ihre regelmäßigen Heimfahrten u. a. mit den leidvollen Erfahrungen, als Ostdeutsche in Franken wahrgenommen zu werden: „Familie, Freunde, Freund & der Hauptgrund: die Franken hassen Menschen, die aus dem ,Osten’ kommen, fühle mich da überhaupt nicht wohl.“ In der dritten Variante schließlich geht es um den Prozess der Einbeziehung raumbezogener Aspekte in das Selbstkonzept bzw. in die Ich-Identität eines Individuums. Wenngleich der Stellenwert raumbezogener Identität im Gesamtgefüge aller relevanten Aspekte der Selbst-Identität sowie ihre Bedeutung für Erscheinungsformen der Gruppenidentität nicht eindeutig abgeschätzt werden, so spricht doch vieles dafür, dass regionale Identität als eine Form raumbezogener Identität eine Reihe von subjektiv und kollektiv bedeutsamen Funktionen erfüllt. Wie anhand der vorliegenden Studie gezeigt werden kann, spielt die Aufrechterhaltung eines Bezugs zur Heimat für viele mobile Jugendliche eine große Rolle. Von den 139 Befragten, die vor dem Umzug in eine neue Stadt bei ihren Eltern gelebt hatten, gaben 121 (81 %) an, ihr Zimmer im Elternhaus beibehalten zu haben. Zum Zeitpunkt der Befragung fuhren die meisten jungen Menschen wöchentlich (47 %) oder etwa 14-tägig (28 %) nach Hause. Dies zeigt, dass der Kontakt zur Heimat nach dem Auszug weiter intensiv gepflegt wird. Allerdings gaben 42 % der Befragten an, dass sich die Häufigkeit ihrer Heimfahrten seit dem Umzug verändert hat. In den meisten Fällen (77 %) werden die Besuche seltener. Häufig werden hierfür ganz pragmatische Gründe angegeben, wie etwa finanzielle und zeitliche Aspekte, Stress und Belastung durch die Schule bzw. die Ausbildung oder zu pflegende Freundschaften am neuen Wohnort. Es gibt aber auch die gegenläufige Entwicklung, wonach auf eine Phase der „Zurückhaltung“ die Häufigkeit der Heimfahrten wieder ansteigt (23 %). Bisweilen drücken die Jugendlichen ihre Heimatverbundenheit ganz direkt aus. So kommentierte eine Jugendliche ihre Antworten mit der Anmerkung: „Der Osten ist meine Heimat & die Leute sind ,anders‘. Ich brauche meinen Freund & meine Familie.“ Trotz der Wichtigkeit des Bezugs zur Heimat fallen die Antworten auf die Frage, ob man sich eher als „GaststädterIn“ oder als „HeimatorterIn“ bezeichnen würde, keineswegs so eindeutig aus, wie man vielleicht erwarten könnte. 18 % empfanden sich als „GaststädterIn“, 37 % als „HeimatorterIn“, 17 % als „weder noch“ und 27 % wussten darauf keine Antwort. An diesem Ergebnis wird deutlich, dass ein Individuum 216 uj 5 | 2012 Mobilität bei Jugendlichen mehrere raumbezogene Identitäten - sei es nun im Sinne eines zeitlichen Nebeneinanders (d. h. man empfindet sich als„Dresdner“ und als „Nürnberger“) oder im Sinne eines zeitlichen Nacheinanders (d. h. man empfindet sich als „gebürtiger Dresdner“ und dann als „späterer Nürnberger“) - oder aktuell auch keine raumbezogene Identität empfinden kann. Das Leben in „zwei Welten“, um das viele ausbildungsbedingt mobile Jugendliche bemüht sind, kann ein möglicher Mitgrund dafür sein, dass fast ein Drittel der Befragten zurzeit keine regionale Identität empfindet. Zudem scheinen die meisten Jugendlichen die Möglichkeit zumindest nicht auszuschließen, dass der Aufenthalt in der neuen Region nur von begrenzter Dauer sein könnte. Lediglich 21 % der Befragten gaben an, nach der Ausbildung in der Gaststadt bleiben zu wollen. Dagegen rechneten 19 % mit einer Rückkehr an ihren Heimatort und 15 % mit einem Umzug in eine andere Stadt. Die meisten Jugendlichen (44 %) wollten oder konnten sich hierzu allerdings noch nicht festlegen. Diese „pragmatische Offenheit“, mit der Jugendliche in die Zukunft blicken, dürfte ebenfalls nicht ohne Auswirkung auf die Auseinandersetzung mit der eigenen regionalen Identität sein. Beziehungsveränderung, Hoffnungen und Befürchtungen Junge Menschen, die aufgrund eines Ausbildungsbeginns, des Besuchs einer weiterführenden Schule oder eines Studiums ausziehen, bekommen den Zeitpunkt des Auszuges vorgesetzt. Egal in welcher Entwicklungsphase sie sich gerade befinden, egal ob diese bewältigt wurde oder nicht. Es ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der Jugendlichen in einem bestimmten Alter gewisse Entwicklungsschritte bereits gemeistert hat und durch die neu dazu gewonnene Reife ein anderer Blickwinkel entsteht, wohingegen andere Jugendliche manche Entwicklungsschritte noch bewältigen müssen. Eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben für junge Menschen stellt dabei die Autonomieentwicklung gegenüber den eigenen Eltern dar. Die Beziehung zu den Eltern bewegt sich in einem Spannungsfeld aus Verbundenheit und Abgrenzung (vgl. Schmidt-Denter 2005, 162). Mit den Eltern und Erwachsenen in ihrem Umfeld befinden sich die Jugendlichen entwicklungsbedingt oftmals in Konflikten und Auseinandersetzungen, die für beide Seiten sehr anstrengend sind. Die räumliche Distanz leistet einen bedeutsamen Beitrag zur Umgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung im Sinne eines „Prozesses der Transformation und Neudefinition“ (Papastefanou 1997, 32) und zur Erreichung von Selbstständigkeit. 62 % der Befragten gaben an, dass sich die Beziehung zu den Eltern durch den Umzug verändert hat. Diese Veränderung wird von insgesamt 92 % als positiv oder eher positiv empfunden. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch die Shell-Studie (2010, 67): „Damit verdeutlicht sich, dass eine Flucht aus dem Elternhaus heutzutage durchaus noch vorkommt, aber eher seltener der Fall ist. Häufiger verbessert sich das Verhältnis zu den eigenen Eltern, sobald die Jugendlichen den Schritt des Auszugs aus dem Elternhaus gewagt haben.“ Wichtige Bezugspersonen für Jugendliche und junge Erwachsene stellen von jeher auch die Geschwister dar: „Die Geschwisterbeziehung ist die längste, d. h. zeitlich ausgedehnteste Beziehung im Leben des Menschen. … Typisch für die meisten Geschwisterbeziehungen ist eine tiefwurzelnde (oftmals uneingestandene) emotionale Ambivalenz, d. h. das gleichzeitige Vorhandensein von intensiven positiven Gefühlen (Liebe, Zuneigung) und negativen Gefühlen (Ablehnung, Hass)“ (Kasten 2001, 3f ). In der Auswertung zeigte sich, dass auch die Beziehungsveränderung zu den Geschwistern von einer deutlichen Mehrheit (76 %) als positiv oder eher positiv bewertet wird. Aus der Distanz werden sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten zu bzw. mit Ge- 217 uj 5 | 2012 Mobilität bei Jugendlichen schwistern wieder neu erlebt und verstanden. Insgesamt kann man daher festhalten: Es entsteht eine Verbundenheit und emotionale Zuneigung zur Herkunftsfamilie aus einem neu erlangten Standpunkt von Selbstständigkeit. Bei den Beziehungen zum Freundeskreis sieht es dagegen anders aus: Von den 70 % der Befragten, die eine Veränderung feststellten, gaben 72 % an, dass sich das Verhältnis negativ oder eher negativ entwickelt hat. Da durch den Umzug die zeitliche Investition für die Kontaktpflege nicht mehr erbracht werden kann, haben sich viele Befragte vom daheim gebliebenen Freundeskreis ausgeschlossen gefühlt. Ein Jugendlicher erzählte, dass seine Freunde anfangs, als er am Wochenende nach Hause kam, auf ihn gewartet haben und sehr interessiert daran waren, was er alles zu erzählen hatte. Dieses Interesse verebbte allerdings recht schnell. Teils wurden später dann Verabredungen mit ihm abgesagt oder vergessen. Mittlerweile hat er in seinem Wohnheim mehr Freunde und trifft sich nur noch selten mit seinen „alten“ Freunden. Er konnte dies für sich auch sehr schlüssig erklären: „Ich hab ja gar keine Ahnung, was sie die ganze Woche so machen oder wie es ihnen geht, sonst haben wir ständig gequatscht und uns getroffen. Das geht nicht mehr. Da weiß man gar nicht, was man reden soll.“ Die Auswirkungen des Umzugs auf die Beziehung zum festen Freund bzw. der festen Freundin wiederum werden unterschiedlich und mit geringerer Ausprägung in eine Richtung bewertet: 56 % der Befragten, die Veränderungen feststellten, bezeichnen diese als positiv oder eher positiv, 44 % als negativ oder eher negativ. Vereinzelt wurde auch die Beziehungsveränderung zu Tieren, wie einem Hund oder einem Pferd, beklagt. In diesen Fällen wurde die Veränderung durchweg als negativ bewertet. Die Befragung zeigte außerdem, dass sich die meisten jungen Menschen auf ihre Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, auf neue Freundschaften und Kontakte, auf die Ausbildung bzw. die neue Schule sowie auf die Möglichkeiten, welche die neue Stadt mit sich bringt, freuen. Sorgen bereiteten den Jugendlichen die Angst vor dem Alleinsein, Kontaktverlust zu FreundInnen und Familie, Heimweh, keinen Anschluss zu finden, selbst für „alles“ verantwortlich zu sein, den Alltag alleine bewältigen zu müssen sowie eine falsche oder überfordernde Ausbildung gewählt zu haben. Für die meisten Jugendlichen haben sich diese Befürchtungen jedoch eher nicht bewahrheitet. Zusätzlich wurden die Jugendlichen gebeten, verschiedene Aussagen zu möglichen Auswirkungen des Umzugs zu beurteilen. Die größte Zustimmung fand die Aussage „Durch den Umzug in eine andere Stadt … bin ich selbstbewusster geworden.“ Weitere Aussagen wie etwa „… plane ich meine Zukunft bewusster“, „… bin ich verantwortungsbewusster geworden“ oder auch „… denke ich öfter über mich und mein Leben nach“ fanden ebenfalls große Zustimmung. Mobilitätsbereitschaft und realisierte Mobilität Wie eingangs erwähnt unterliegt das Auszugsalter einem Wandel: Noch nie sind Jugendliche in Deutschland so spät von zu Hause ausgezogen wie heutzutage. Um zu beurteilen, wie viele Jugendliche gegenwärtig ausbildungsbedingt das Elternhaus verlassen, kann man verschiedene Quellen heranziehen. Nach der BA/ BIBB-Bewerberbefragung 2008 (Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2009, 82f ) werden alle Jugendlichen als regional mobil bezeichnet, die sich auf Ausbildungsplätze bewarben, die mehr als 100 km von ihrem Heimatort entfernt lagen - ungeachtet der Tatsache, ob sie tatsächlich eine Berufsausbildung außerhalb der Heimatregion antraten. Danach haben sich im Jahr 2008 von 505.119 gemeldeten BewerberInnen, die aktiv auf Ausbildungsstellensuche waren, 105.015 (21 %) auf entsprechende Ausbildungsstellen beworben. Weiterhin wurde auch die tatsächlich realisierte Mobilität von 218 uj 5 | 2012 Mobilität bei Jugendlichen Jugendlichen untersucht, die in eine Ausbildung eingemündet waren. Danach haben hochgerechnet insgesamt 237.483 Personen eine betriebliche Berufsausbildung begonnen, wovon 27.469 (12 %) der Jugendlichen im Zuge des Ausbildungsbeginns umgezogen sind. Die VerfasserInnen der Befragung merken dazu allerdings an, dass der Wohnortwechsel zu Beginn der Ausbildung nicht immer erfolgt, um die räumliche Distanz zum Ausbildungsbetrieb zu verringern. Für 11 % der umgezogenen Jugendlichen beträgt die Entfernung zur alten Wohnung nicht mehr als 10 km. Die VerfasserInnen deuten dies als Hinweis darauf, dass für Jugendliche der Beginn einer Berufsausbildung auch ein Schritt in die persönliche Selbstständigkeit sein kann, der gegebenenfalls mit dem Auszug aus dem Elternhaus einhergeht. Da jedoch nicht alle Jugendlichen, die nach einem betrieblichen Ausbildungsplatz suchen, bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet sind, und zudem weiterführende schulische Ausbildungen nicht berücksichtigt werden, dürfte die tatsächliche ausbildungsbedingte Mobilität deutlich höher liegen. Viele mobile Jugendliche entscheiden sich aus verschiedenen Gründen für eine Unterbringung in einem der zahlreichen Jugendwohnheime, die insbesondere in den alten Bundesländern, allen voran in Bayern und Nordrhein- Westfalen, zur Verfügung stehen. Die rechtliche Grundlage dieses Angebots stellt § 13 Abs. 3 SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) dar, wonach jungen Menschen während der Teilnahme an schulischen oder beruflichen Bildungsmaßnahmen oder bei der beruflichen Eingliederung Unterkunft in sozialpädagogisch begleiteten Wohnformen angeboten werden kann. Jugendwohnheime stellen daher eine wichtige Alternative zur eigenen Wohnung dar, die sowohl für den Jugendlichen als auch die Eltern eine Reihe von Vorteilen mit sich bringt. Dazu zählen für die Jugendlichen u. a. die einfache Möglichkeit, Kontakt zu anderen Jugendlichen in einer ähnlichen Lebenssituation zu finden, Hilfe und Unterstützung durch die pädagogischen MitarbeiterInnen der Einrichtung zu erhalten sowie Angebote zur Freizeitgestaltung nutzen zu können. Was die pädagogische Begleitung anbelangt, so muss man jedoch darauf hinweisen, dass üblicherweise ein Personalschlüssel von ca. 1 : 40 vorgehalten wird, womit der Intensität der Betreuung oftmals Grenzen gesetzt sind. Nach einer Erhebung des Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz e.V. im Rahmen des Forschungs- und Praxisentwicklungsprojekt „leben.lernen.chancen nutzen“ stellten im Jahr 2007 bundesweit 558 Einrichtungen des Jugendwohnens in Deutschland knapp 60.000 Plätze zur Verfügung, die von etwa 40.000 bis 50.000 jungen Menschen dauerhaft sowie von etwa 150.000 bis 160.000 zeitweise, z. B. während Phasen der Blockbeschulung, genutzt wurden. Vorbereitende und begleitende Unterstützung Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Jugendlichen den Umzug und die damit verbundene neue Lebenssituation überwiegend gut bewältigen. Allerdings bringt der Ortswechsel auch eine Reihe von Anforderungen mit sich, die zum Teil als sehr belastend empfunden werden, wobei sich geschlechtsspezifische Unterschiede kaum feststellen ließen. Mobile Jugendliche benötigen daher vorbereitende und begleitende Unterstützung, um die Chancen der persönlichen und beruflichen Entwicklung außerhalb ihres regionalen Umfeldes erfolgreich nutzen zu können. Eine angemessene Unterstützung muss individuell abgestimmt sein und möglichst konkrete Hilfen zur Lebensbewältigung und zur Förderung von Selbstständigkeit an der Schnittstelle von Schule und Ausbildung außerhalb des vertrauten regionalen Umfeldes beinhalten. Wesentlich erscheint dabei die Einbindung der Eltern bzw. der Sorgeberechtigten, welche 219 uj 5 | 2012 Mobilität bei Jugendlichen für die meisten Jugendlichen auch oder gerade nach dem Umzug eine wesentliche Ressource darstellen. Berücksichtigt man die verschiedenen Befürchtungen, die Jugendliche mit dem bevorstehenden Umzug verbinden, kommt bereits dem Zeitraum zwischen der Entscheidung für einen ausbildungsbedingten Umzug und dessen tatsächlicher Realisation eine wichtige Bedeutung zu. In dieser Phase kommt es darauf an, Hemmnisse zu erkennen und abzubauen sowie dem künftigen Umfeld eine Struktur zu geben. Dazu bedarf es insbesondere der Entscheidung für eine geeignete Wohnform, der Klärung von Mobilitätsformen innerhalb der neuen Region sowie zwischen dem Heimatort und der neuen Region, der Planung finanzieller Aspekte sowie der Vorbereitung auf die bevorstehende Ausbildung und die Besonderheiten der neuen Region. Im Falle der Unterbringung in einem Jugendwohnheim stehen diese Einrichtungen in der Verantwortung, hierzu aktiv durch möglichst konkrete Informationen und Hinweise über das neue Umfeld beizutragen. Wenngleich verschiedene negativ erlebte Auswirkungen der ausbildungsbedingten Mobilität dadurch zwar im Vorfeld vermindert werden können, so kommt der individuell abgestimmten Begleitung der Jugendlichen nach dem erfolgten Umzug dennoch eine besondere Bedeutung zu. Die Planung finanzieller Aspekte oder die Klärung von Mobilitätsformen ist beispielsweise etwas anderes als der tatsächliche Umgang mit Geld im Alltag oder die Bewältigung der positiven und negativen Beziehungsveränderungen, die sich durch die Entfernung zum Heimatort ergeben können. Die Unterstützung mobiler Jugendlicher muss daher als ein kontinuierlicher Prozess verstanden werden, welcher der Individualität der Jugendlichen Rechnung trägt und diese dazu befähigt, die Herausforderungen der neuen Lebenssituation eigenverantwortlich zu bewältigen. Insbesondere der Umgang mit psychosozialen Aspekten, wie die Bewältigung von Heimweh und 5. Aufl. 2003. 192 Seiten. 15 Abb. (978-3-497-01656-3) kt Geschwisterforschung Die Beziehung zwischen den Geschwistern beeinflusst zwangsläufig Lebensweg und Persönlichkeitsfindung. Der Platz in der Geschwisterreihenfolge, das Geschlecht und der Altersabstand sind wichtige Faktoren für die Entwicklung sozialer Fähigkeiten und der Intelligenz. Der Entwicklungspsychologe und Pädagoge Hartmut Kasten beleuchtet dieses Thema in seiner ganzen Vielfalt und den Veränderungen, von der frühen Kindheit angefangen bis ins Alter. Das Buch ist allen zu empfehlen, die selbst Geschwister haben bzw. mit der Erziehung von Kindern betraut sind und Geschwisterkonstellationen besser verstehen möchten. a www.reinhardt-verlag.de 220 uj 5 | 2012 Mobilität bei Jugendlichen Literatur Albert, M./ Hurrelmann, K./ Quenzel, G. u. a., 2010: 16. Shell Jugendstudie. Jugend 20120. Frankfurt am Main Bundesinstitut für Berufsbildung (Hrsg.), 2009: Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2009. Informationen und Analysen zur Entwicklung der beruflichen Bildung. Bonn Kasten, H., 2001: Der aktuelle Stand der Geschwisterforschung. www.familienhandbuch.de/ cms/ Fami lienforschung-Geschwister.pdf, 28. 9. 2011, 14 Seiten Papastefanou, C., 1997: Auszug aus dem Elternhaus. Aufbruch und Ablösung im Erleben von Eltern und Kindern. Weinheim Schmidt-Denter, U., 4 2004: Soziale Beziehungen im Lebenslauf. Lehrbuch der sozialen Entwicklung. Weinheim Verband der Kolpinghäuser e.V./ Projekt Jugendwohnen (Hrsg.), 2008: leben.lernen.chancen nutzen. Eine Zusammenfassung der Kernbefunde der Einrichtungsbefragung. Köln Weichhart, P., 1990: Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation. Stuttgart Kontaktverlust oder die Auseinandersetzung mit den Facetten regionaler Identität im Kontext der eigenen Identitätsentwicklung, stellen enorme Anforderungen an Jugendliche. Auch wenn es den meisten Jugendlichen recht gut zu gelingen scheint, mit diesen Belastungen umzugehen, so dürfen doch die damit verbundenen Gefahren keineswegs unterschätzt werden: Gefühle von Heimweh, Sehnsucht und Einsamkeit können, wie die Erkenntnisse der noch relativ jungen Disembedding-Forschung deutlich aufzeigen, im schlimmsten Fall zu ernsthaften psychischen Krisen und psychosomatischen Erkrankungen führen, die ohne Hilfe kaum mehr bewältigt werden. Vor diesem Hintergrund scheinen Jugendwohnheime und vergleichbare Einrichtungen eine sinnvolle erste Wohnform für mobile Jugendliche darzustellen. Neben der Verminderung organisatorischer Belastungen vermittelt bereits das Zusammenleben mit anderen Jugendlichen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, Sicherheit und Orientierung. In diesem Sinne ist mit Schmidt-Denter (2205, 131) übereinstimmend festzuhalten: „Auch die Erfahrung, dass andere sich mit ähnlichen Belastungen auseinandersetzen müssen, hat eine erleichternde Wirkung. Emotionen können frei und unkontrollierter zum Ausdruck gebracht werden. Gemeinsame Gespräche und gegenseitige Imitation gelungener Lösungen ermöglichen es, neue Orientierungen aufzubauen und die Verhaltensunsicherheit zu überwinden.“ Zudem bieten diese Einrichtungen einen strukturierten Rahmen, in dem neben alltäglichen Hilfen zur Lebensbewältigung gezielte Trainingsmaßnahmen zur Entwicklung und Festigung der Kompetenzen der Jugendlichen realisiert werden können. Dr. Michael Batz Kerstin Eichfelder Don Bosco Jugendwerk Nürnberg Don-Bosco-Straße 2 90429 Nürnberg michael.batz@don-bosco-nuernberg.de kerstin.eichfelder@don-bosco-nuernberg.de
