unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2012.art33d
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2012
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Das Betreuungsgeld - Politik mit und für Kinder sieht anders aus
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Dominik Bär
"Politische Geisterfahrt beim Betreuungsgeld" - so oder ähnlich lauten die Einschätzungen vieler Fachleute zum Betreuungsgeld. Nach der Verzögerung im Bundestag wird die Diskussion noch einige Zeit laufen.
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354 unsere jugend, 64. Jg., S. 354 - 364 (2012) DOI 10.2378/ uj2012.art33d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Das Betreuungsgeld Politik mit und für Kinder sieht anders aus „Politische Geisterfahrt beim Betreuungsgeld“ - so oder ähnlich lauten die Einschätzungen vieler Fachleute zum Betreuungsgeld. Nach der Verzögerung im Bundestag wird die Diskussion noch einige Zeit laufen. von Dominik Bär Jg. 1979; Erziehungswissenschaftler M. A., Referent für Kinderpolitik und stellvertretender Pressesprecher beim Deutschen Kinderhilfswerk e.V. Das Betreuungsgeld Mit dem Betreuungsgeld möchte das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) eine Leistung schaffen, die an Eltern von Kindern geht, die zwischen einem und drei Jahre alt sind und keine öffentlich geförderte Kindertagesbetreuung in Anspruch nehmen. Ab 2013 soll die Leistung 100,- Euro im Monat betragen, ab 2014 sollen es 150 Euro sein. Dabei wird das Betreuungsgeld unabhängig von der Erwerbstätigkeit der Eltern ausgezahlt. Selbst wenn das Elternteil, das das Betreuungsgeld bezieht, 30 Stunden in der Woche arbeitet, geht das Ministerium davon aus, dass er oder sie das Kind betreut und erzieht und damit eine Leistung erbringt, die honoriert werden soll. Für jedes Kind zahlt der Staat maximal 24 Monate die Leistung. Damit keine Lücke zwischen den einzelnen familienpolitischen Leistungen entsteht, soll das Betreuungsgeld direkt an das Elterngeld anschließen. Ist das Kind zwölf Monate alt, können die Eltern Betreuungsgeld beantragen, auch wenn ein/ e PartnerIn noch zwei Monate Elterngeld beziehen kann, so die Elternzeit auf beide PartnerInnen aufgeteilt wurde. Auch während der Eingewöhnungsphase in Kitas sind die Eltern weiterhin berechtigt, das Betreuungsgeld zu beantragen. Während dieser Phase, die bis zu acht Wochen dauern darf, ist eine doppelte Förderung, einmal über den geförderten Platz in einer Kita und durch das Betreuungsgeld, möglich. Im Verhältnis zu anderen staatlichen Leistungen ist das Betreuungsgeld vorrangig. Zuerst beziehen die Eltern Betreuungsgeld, andere Leistungen werden damit verrechnet. Von Leistungen nach dem SGB II oder XII, dem Arbeitslosengeld II oder der Sozialhilfe ziehen die Ämter das Betreuungsgeld wieder ab. Hinter dieser Entscheidung steckt die Logik, dass der Bedarf durch die Regelsätze, durch die Übernahme der Kosten für Unterkunft und durch die Leistungen für Mehrbedarfe nach dem SGB II nach Meinung der Bundesregierung umfassend gesichert sei. Damit besteht eine Gleichbehandlung mit anderen Sozialleistungen. Die Absi- 355 uj 9 | 2012 Betreuungsgeld cherung über diese staatlichen Fürsorgeleistungen basiert auf dem Prinzip, dass die Berechtigten für ihren Bedarf zunächst ihr eigenes Einkommen einsetzen müssen. Kleinkinder und Kindertageseinrichtungen Relevant ist das Betreuungsgeld für Eltern von rund 1,36 Mio. Kindern, die zwischen einem Jahr und drei Jahren alt sind. Von den unter 3-Jährigen wurden im März 517.000 in einer Kindertageseinrichtung (Kita) oder durch eine Kindertagespflegeperson betreut. Dies entspricht einer Quote von 25,4 % und ist im Zuge des Krippenausbaus innerhalb von einem Jahr um 2,3 Prozentpunkte gestiegen. Auf die Altersgruppen verteilt, sieht die Situation sehr unterschiedlich aus. 25,9 % aller einjährigen, 47,2 % aller zweijährigen und nur 2,6 % aller unter einjährigen Kinder waren in Kitas untergebracht. Nach dem Kinderförderungsgesetz von 2008 sind für August 2013 insgesamt 750.000 Plätze in Kitas für unter 3-Jährige geplant, um dem Recht auf einen Kitaplatz für diese Altersgruppe zu entsprechen. Dies würde einer Quote von 38 % aller unter 3-jährigen Kinder entsprechen. Große Unterschiede bei der Betreuung in Kitas gibt es zwischen den östlichen und den westlichen Bundesländern sowie bei Kindern ohne und mit Migrationshintergrund. Bei Letzteren liegt die Betreuungsquote bei nur 14 %, während sie bei den Kindern ohne Migrationshintergrund bei 30 % liegt. In den östlichen Bundesländern liegt die Betreuungsquote bei 49 % im Vergleich zu 20 % in den westlichen Bundesländern. Die höchste Quote hat Thüringen, die niedrigste Nordrhein-Westfalen. Laut Bundesregierung liegt der Betreuungsbedarf derzeit bei 38 %, dabei variiert er allerdings regional deutlich. Besonders in Großstädten kann man von einem Bedarf um die 60 % ausgehen, während er in ländlichen Regionen deutlich niedriger liegt. Ungesicherte Finanzierung Die Zahlen und Fristen für das Betreuungsgeld scheinen so weit deutlich zu sein. Die Bundesregierung rechnet für 2013 mit 300 Mio. Euro an Kosten für das Betreuungsgeld, ab 2015 sind 1,23 Mrd. Euro veranschlagt. Die Kosten sollen laut Eckwertbeschluss durch eine Globale Minderausgabe, die im Einzelplan 60 (Allgemeine Finanzverwaltung) ausgebracht ist, gedeckt werden. Um diese Globale Minderausgabe zu erreichen, muss die Regierung an anderer Stelle sparen, wo genau, ist bei diesem Verfahren unklar. Nach Äußerungen aus der Koalition könnte dies das Elterngeld sein. Bei näherem Hinsehen bleiben doch noch einige Ungereimtheiten. Gerade die Finanzierung ist ungeklärt, erscheinen doch die veranschlagten Kosten von 1,2 Mrd. Euro als zu niedrig. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung rechnet beispielsweise mit Kosten in Höhe von 2 Mrd. Euro jährlich. Die Süddeutsche Zeitung macht die einfache Rechnung auf, dass bei der jetzigen Betreuungsquote drei Viertel der Eltern das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen würden. Damit kommt man bei 1,35 Mio. Zwei- und Dreijährigen in Deutschland auf Kosten von knapp 1,9 Mrd. Euro, ohne die Bürokratiekosten mit zu veranschlagen. Warum die Bundesregierung das Betreuungsgeld braucht Im Gesetzentwurf der Bundesregierung sowie diversen Pressemitteilungen des BMFSFJ und der Regierungsfraktionen finden sich zahlreiche Hinweise auf die Ideen hinter dem Betreuungsgeld. So sei es Aufgabe staatlicher Familienförderung, Wahlfreiheit für Eltern bei der Kleinkindbetreuung zu gewährleisten. Womit schon das Schlagwort genannt wäre, mit dem die BefürworterInnen die Notwendigkeit des Betreuungsgeldes begründen: Wahlfreiheit. Des Weiteren geht darum, Barrieren abzubauen und Übergänge zu ermöglichen. 356 uj 9 | 2012 Betreuungsgeld Die BefürworterInnen verkaufen die neue Leistung unter dem Mantel der Gestaltungsfreiheit für die familiäre Kinderbetreuung. Offen spricht die Regierung in der Gesetzesbegründung für das Betreuungsgeld von der offenen Lücke im Angebot staatlicher Förder- und Betreuungsangebote für Kinder bis zum dritten Lebensjahr, die sie schließen möchte. Ihr geht es hier allerdings nicht um die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage bei Betreuungsplätzen in Kitas. Stattdessen sieht sie bei der bestmöglichen Wahl über die Form des Miteinanderlebens und des Füreinandersorgens eine Leerstelle. Familien, die keine öffentlich geförderte Kindertagesbetreuung in Anspruch nehmen, also keine öffentliche Förderung bei der täglichen Betreuung ihres Kindes erhalten, möchte die Regierung für diesen Verzicht quasi entschädigen. Dadurch soll jegliche Erziehungsleistung Wertschätzung erfahren. Der Wunsch nach öffentlich geförderter Betreuung ist ein weiteres Argument für das Betreuungsgeld. Dieser sei bei den kleinen Kindern nur sehr niedrig. Für die unter Einjährigen wünschen sich nur 12 % der Eltern eine solche Betreuung, für die Einbis Zweijährigen sind es rund 42 %, ab dem dritten Lebensjahr bereits die Mehrheit der Eltern. Diese Zahlen zeigen, dass die Plätze, die für die vorgesehenen 38 % aller Kinder in öffentlich geförderter Kinderbetreuung geschaffen werden sollen, nicht ausreichen. Um also die Nachfrage zu reduzieren, schafft die Bundesregierung stattdessen das Vehikel der Anerkennungs- und Unterstützungsleistung für junge Eltern, die ihre vielfältigen Betreuungs- und Erziehungsaufgaben im privaten Umfeld erfüllen. Warum diese im privaten Umfeld organisiert werden müssen, thematisiert die Regierung nicht. Deutlich stellt die Regierung in ihrer Begründung für das Betreuungsgeld die intakte Familie in den Mittelpunkt, in der sie den Kern unserer Gesellschaft sieht, da Kinder hier die Bedeutung von Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft erfahren würden. Auf Basis dieser Grundannahme soll nun die Familie die Form ihres Miteinanders bestmöglich wählen können. Dabei würde sich das Betreuungsgeld mit der Sicherstellung von Wahlfreiheit ganz an den vorgefundenen Wünschen und Lebensentwürfen von Familien in Deutschland orientieren. Es geht demnach darum, junge Eltern anzuerkennen, die ihre vielfältigen Betreuungs- und Erziehungsaufgaben im privaten Umfeld erfüllen (müssen). Das Elterngeld gewährt diesen Schonraum bereits für die ersten zwölf bis 14 Monate. Mit dem Betreuungsgeld können Eltern diesen Zeitraum nun verlängern und sollen so eine ökonomische Grundlage für eine selbstbestimmte Entscheidung erhalten. So entsteht nun die vielbeschworene Wahlfreiheit. Der Staat käme damit seiner Aufgabe nach, die Kinderbetreuung in der jeweils von den Eltern gewählten Form in ihrer tatsächlichen Voraussetzung zu ermöglichen und zu fördern. Weiter bemüht die Bundesregierung sogar die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, die flächendeckende bundesgesetzliche Regelungen zur individuellen Betreuung innerhalb der Familie notwendig machen würden. Nur so sei die echte Wahlfreiheit für Eltern zwischen Betreuung innerhalb der Familie oder in öffentlichen Betreuungsangeboten zu erreichen. Beim derzeitigen sehr ungleichen Stand der angebotenen Betreuungsmöglichkeiten für kleine Kinder in den Bundesländern sieht sich die Bundesregierung daher quasi gezwungen einzugreifen. Den Bezug zum Grundgesetz erhält die Bundesregierung aufrecht, wenn sie aus Artikel 6 Absatz 1 die Aufgabe des Staates herleitet, die Kinderbetreuung in der jeweils von den Eltern gewünschten Form in ihren tatsächlichen Voraussetzungen zu ermöglichen und zu fördern. In ihrem Sinne sieht die Bundesregierung das Betreuungsgeld nicht als klassische Sozialleistung, sondern rechnet es der öffentlichen Fürsorge zu. Es soll vorbeugend und helfend im weiteren, allgemeinen Sinn wirken und erfasst in diesem Zusammen- 357 uj 9 | 2012 Betreuungsgeld hang insbesondere neue Lebenssachverhalte, nämlich wenn in eine junge Familie Kinder geboren werden. Dann sei eine entsprechende Hilfs- und Unterstützungsbedürftigkeit anzunehmen. Somit erfüllt das Betreuungsgeld präventive Funktionen der öffentlichen Fürsorge. Hält man sich an die sozialpolitische Argumentation der Regierung, ist das sozial, was die Menschen in Beschäftigung bringt. Ein Betreuungsgeld schafft dies nicht, vielmehr bewirkt es umgekehrt die Verhaltensweise, dass es verstärkt Frauen vom Arbeitsmarkt fernhält, ihre Chancen durch lange Abwesenheitszeiten sogar verringert. Warum unterstützt die Regierung also eine Sozialleistung, die ihrer Arbeitsmarktpolitik zuwiderläuft? Betreuungsgeld in anderen Ländern Ähnliche Leistungen wie das geplante Betreuungsgeld in Deutschland gibt es in Finnland, Schweden und Norwegen. Auch hier bekommen Eltern Geld für unter 3-jährige Kinder, die nicht in staatlich geförderten Einrichtungen betreut werden. In Finnland gibt es die Leistung seit 1985, in Norwegen seit 1998 und in Schweden seit 2008 in unterschiedlicher Ausgestaltung. Die Höhe der Leistung beträgt in allen drei Ländern etwa 10 % des Durchschnittseinkommens, wobei in Finnland in einzelnen Kommunen noch Zusatzleistungen möglich sind. In Deutschland wären 10 % des Durchschnittseinkommens 270 Euro. In allen drei Ländern wird das Betreuungsgeld sehr unterschiedlich in Anspruch genommen. Überwiegend sind es Mütter, nicht Väter, die es beziehen, darunter der überwiegende Teil mit niedrigem Einkommen, geringem Bildungsgrad und Migrationshintergrund. Dadurch, dass Mütter die Leistung beziehen, zeigen sich Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau von Frauen und auf die Inanspruchnahme von Kinderbetreuung. So ging in Finnland die Beschäftigung von Frauen um 4 %, von Frauen mit Migrationshintergrund um 12 % zurück. Das Betreuungsgeld führt in allen drei Ländern zu einer längeren Abwesenheit von Frauen im Beruf, was ihre Berufschancen insgesamt mindert. Wie in Deutschland waren es in allen drei Ländern konservative Regierungen, die das Betreuungsgeld einführten. Es steht im Forderungskatalog der „Mütter-sollen-zu-Hause-bleiben“-Linie. Deutlich sichtbar wird dies an den Zahlen aus Finnland, wo es sogar 90 % Frauen sind, die es beziehen. Insgesamt nehmen Eltern es für 52 % aller kleinen Kinder in Anspruch. Es zeigen sich aber ebenso deutliche Auswirkungen auf die Erziehung und Betreuung von älteren Kindern. Auch diese bleiben zunehmend zu Hause, anstatt eine Kindertageseinrichtung zu besuchen. In Finnland stellte sich heraus, dass das Betreuungsgeld Verhaltensmuster und Einstellungen fördert, die sich an einem traditionellen Rollenverständnis orientieren. Die Arbeitsteilung während der heimischen Betreuungsperioden weist im Vergleich zu anderen Lebensphasen eine größere Ungleichheit zwischen den Geschlechtern auf. Eine direkte Korrelation von Betreuungsgeld und dem Angebot an Kindertagesbetreuungsplätzen zeigt sich in Norwegen. Hier sank die Quote derjenigen, die die Leistung beziehen, von 1999 bis 2011 von 75 % auf 25 % und ging mit dem Ausbau der Kindertageseinrichtungen einher, deren Beiträge gleichzeitig sanken. Mit dieser Abnahme wurde die Gruppe der EmpfängerInnen gleichzeitig homogener: Es verblieben diejenigen mit geringem Bildungsniveau, niedrigem Einkommen und Migrationshintergrund. In Schweden nehmen dagegen nur 4,7 % das Betreuungsgeld in Anspruch, auch hier, mit einem überwältigenden Anteil von 92 %, Frauen. Zwar kann das Betreuungsgeld einen kurzfristigen positiven Umverteilungseffekt haben, da es das Einkommen von Familien mit geringem Einkommen erhöht. Weil es sich aber negativ auf die Nutzung der staatlichen Kinderbetreu- 358 uj 9 | 2012 Betreuungsgeld ungsangebote und die Berufstätigkeit von Müttern auswirkt, sind die langfristigen Umverteilungseffekte negativ. In Bezug auf die Wahlfreiheit, die das Bundesministerium immer wieder ins Zentrum seiner Argumentation stellt, muss man aufgrund der Erfahrungen aus Finnland, Norwegen und Schweden konstatieren, dass das Betreuungsgeld diese nicht herstellen kann. Vielmehr scheinen sich Frauen in Finnland wegen des Mangels an Arbeitsmöglichkeiten für das Betreuungsgeld zu entscheiden und da es keine ausreichende Unterstützung zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf gibt. Familiäre Präferenzen, die ein Ausdruck von Wahlfreiheit wären, stehen bei der Entscheidung nicht im Mittelpunkt. Offensichtlich kann Wahlfreiheit nicht als abstrakter Wert betrachtet werden, der losgelöst ist von der jeweiligen tatsächlichen Lebenssituation. Bei Abwesenheit von Alternativen, zwischen denen gewählt werden kann, greift das Argument Wahlfreiheit nicht. Rahmenbedingungen für eine freie Entscheidung sind die Bedingungen des Arbeitsmarktes, die Höhe des Betreuungsgeldes und die Gebühren für die Kinderbetreuung wie auch kulturelle Normen, die vom Betreuungsgeld und fehlenden Alternativen politisch mitgeprägt werden. Diskussion um das Betreuungsgeld In der Fachöffentlichkeit wie auch bei der Opposition hat das Betreuungsgeld bislang wenig Begeisterung hervorgerufen. Das Deutsche Kinderhilfswerk spricht von der schon genannten „politischen Geisterfahrt“. Einig sind sich die GegnerInnen darin, dass der von der Regierung am häufigsten bemühte Begriff der Wahlfreiheit im Hinblick auf das Betreuungsgeld fehl am Platz ist. Um von Wahlfreiheit sprechen zu können, müsste zuerst ein ausreichendes Angebot an Betreuungsplätzen vorhanden sein. Die für August 2013 angestrebten 38 % reichen mit Blick auf den selbst von der Regierung genannten Wunsch nach Betreuungsangeboten nicht aus. Klagen die Eltern, die keinen Platz für ihr Kind bekommen, ist mit hohen Schadensersatzforderungen zu rechnen. Gut verdienende Eltern könnten entgangenen Lohn einfordern, da sie, statt arbeiten zu können, ihr Kind betreuen mussten. Sogar die Bundesregierung räumt ein, dass nicht von Wahlfreiheit gesprochen werden kann, wenn keine Möglichkeit für eine öffentliche Betreuung besteht, weil kein Angebot vorhanden ist. Die für das Kindeswohl am besten erscheinende Form der Betreuung in den ersten Lebensjahren zu wählen, hängt schließlich vom - oft nicht vorhandenen - Angebot ab. Laut der Verfassungsrechtlerin Prof. Dr. Ute Sacksofsky bedeutet Wahlfreiheit, „dass Private die Entscheidung zwischen zwei Alternativen ohne staatliche Einmischung treffen dürfen, Barzahlungen für eine Alternative stellen diese Wahlfreiheit gerade in Frage“. Vielmehr steht der Vorwurf im Raum, dass in ländlichen Gebieten, wo die CSU ihre Kernwählerschaft sieht, die meisten Menschen wohnen, die vom Betreuungsgeld profitieren. Da hier öffentliche Betreuung aufgrund vorherrschender traditioneller Familienbilder weniger nachgefragt ist, könnte das Betreuungsgeld gut ankommen. Geht es um die Anerkennung von Erziehungsleistung, wie die Regierung in ihrem Gesetzentwurf hervorhebt, bleibt die Frage offen, warum diese nicht bei allen gleichwertig anerkannt wird. Durch die Ausgestaltung als vorrangige Sozialleistung ziehen die Jobcenter den armen Eltern die Leistung wieder von anderen Leistungen ab. Auf der anderen Seite entsteht mit dem Betreuungsgeld eine Doppelförderung bei denjenigen Eltern, die Alleinernährermodelle leben. Diese Familien profitieren heute schon vom Ehegattensplitting. Durch das Betreuungsgeld fördert die Bundesregierung dieses Familienmodell noch stärker. 359 uj 9 | 2012 Betreuungsgeld Und nicht nur das Ehegattensplitting erfüllt heute schon eine ähnliche Funktion, wie sie dem Betreuungsgeld zugeschrieben wird. Eltern, die ihre Kinder ausschließlich selbst erziehen und von denen nicht beide erwerbstätig sind, werden ebenso staatlich gegenüber beidseitig erwerbstätigen Eltern begünstigt: durch die beitragsfreien Mitversicherungen in der Kranken- und Pflegeversicherung und bei der Hinterbliebenenversorgung der gesetzlichen Rentenversicherung. Gleichstellungspolitisch ist das Betreuungsgeld demnach ein weiterer Rückschritt, auch wenn es prinzipiell nicht ein Geschlecht hervorhebt. In Finnland und Norwegen hat es eine klare Auswirkung auf Mütter gezeigt. Frauen werden vom Arbeitsmarkt ferngehalten. Die Maßnahmen bevorzugen ganz bestimmte familiäre Lebensentwürfe, die keines besonderen Schutzes bedürfen. Eine Lücke in der Familienförderung, die der Gesetzentwurf schließen soll, ist also für miteinander verheiratete Eltern nicht vorhanden. Für alleinerziehende Elternteile kommt das Betreuungsgeld dagegen kaum infrage, da es nicht bedarfsdeckend ist. Ihnen fehlt schlichtweg ein/ e VerdienerIn im Haushalt. Gibt es keine Betreuungsangebote, ist Hartz IV die einzige Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Vor diesem Hintergrund dient das Betreuungsgeld eher dazu, die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage nach öffentlich geförderten Kinderbetreuungsplätzen zu schließen. Es lässt sich schließlich schneller einführen und ist billiger, als Betreuungsplätze bereitzustellen. Im Zuge der Debatte um den Fachkräftemangel und angesichts der EU-Ziele, die sich auf die bessere Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials richten, wirkt das Betreuungsgeld kontraindiziert. Vielmehr bietet es Eltern - wie in Finnland zu beobachten, vornehmlich Müttern - einen Anlass, nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Hier erscheint es, als würden einzelne Ressorts unterschiedliche Ziele verfolgen. Aus diesem Grund bekommen Familienorganisationen, die sich gegen das Betreuungsgeld stellen, sogar Unterstützung durch die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände. Vielen Menschen bleibt es darüber hinaus unbegreiflich, wieso es im Bereich der Familienpolitik möglich ist, mit dem Betreuungsgeld eine Entschädigung für Leistungen zu gewähren, die nicht in Anspruch genommen werden. Sie stellen sich die Frage, ob dann nicht auch Geld fließen könnte für diejenigen, die nicht studieren, nicht Auto fahren oder keine Bibliotheken besuchen. Selbst innerhalb der Sozialpolitik findet man Beispiele für mögliche Entschädigungen. Eltern könnten zum Beispiel einen Ausgleich für die Nichtinanspruchnahme einzelner Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes bekommen. Insbesondere für Eltern, deren Kinder die Leistungen mangels Angeboten nicht wahrnehmen können, wäre dies eine willkommene Unterstützung. Ernster wird es bei den zahlreichen pädagogischen Argumenten gegen das Betreuungsgeld. So haben mittlerweile zahlreiche Studien erwiesen, wie nützlich frühkindliche Bildung ist. Laut der Bertelsmann-Studie zum „Volkswirtschaftlichen Nutzen frühkindlicher Bildung in Deutschland“ erhöht sich für den Durchschnitt der Kinder die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, von 36 % auf rund 50 %, wenn sie eine Krippe besucht haben. Von den benachteiligten Kindern gehen sogar zwei Drittel mehr aufs Gymnasium. Mit diesen Zahlen kann man den BefürworterInnen des Betreuungsgeldes begegnen, die argumentieren, unter 3-Jährige seien noch nicht in der Lage zu lernen. Doch gerade kleine Kinder sind von Beginn an EntdeckerInnen ihrer Welt. Die Vernetzungen im Gehirn bilden sich gerade in jungen Jahren heraus, Zellen werden aktiviert und Kognitionsfelder erschlos- 360 uj 9 | 2012 Betreuungsgeld sen. Um ihr Potenzial zu nutzen, müssen Kinder Anregungen vorfinden und nutzen können, sonst werden Entwicklungsfenster nicht geöffnet oder nicht bemerkt. Empirische Daten der OECD aus dem Jahr 2005 belegen, dass die Länder mit den höchsten Kinderbetreuungsquoten der unter 3-Jährigen nicht nur die höchsten Müttererwerbsquoten aufweisen, sondern auch die geringste Kinderarmut zu verzeichnen haben. Insbesondere Mütter mit niedrigem Bildungshintergrund und geringerer Erwerbsbeteiligung sind aufgrund der in den letzten Jahren durchgeführten Änderungen der sozialen Sicherungssysteme auf eine kontinuierliche Erwerbsbiografie angewiesen, um einen Rentenanspruch aufzubauen, der sie vor Altersarmut schützt. Das Betreuungsgeld birgt also die Gefahr, sowohl Altersarmut zu produzieren als auch Kinderarmut zu verfestigen. Auch die vielbemühte Bindung der Mutter zum Kind hält einer genaueren Betrachtung nicht stand. Nicht die Quantität, sondern die Qualität des Kontakts ist in dieser Hinsicht entscheidend. Zudem bauen Kinder zu den betreuenden pädagogischen Fachkräften eigene Bindungen auf, die eine sinnvolle und wichtige Ergänzung zur Eltern-Kind-Bindung sind. Die ExpertInnen, die mit dem Bildungsbericht der Bundesregierung betraut waren, sprechen sich ebenso gegen das Betreuungsgeld aus. Sie halten es für nicht finanzierbar, ohne andere Ziele zu vernachlässigen. Insbesondere die frühkindliche Bildung droht dadurch auf der Strecke zu bleiben. Auch ihnen zufolge hat frühkindliche Bildung eindeutig positive Auswirkungen. Kinder, die vor der Einschulung mindestens drei Jahre eine Kita besucht haben, haben in der vierten Grundschulklasse einen deutlichen Vorsprung beim Lesen und beim Textverständnis. Besonders deutlich wird dies bei Kindern aus Elternhäusern, die sie nicht außerordentlich fördern können, und bei Kindern mit Migrationshintergrund. Doch nicht nur für diese Kinder ist ein möglichst früher Besuch von Kinderbetreuungseinrichtungen wichtig. Auch Kinder aus Familien mit hohem Bildungsniveau profitieren. Die Aktivitäten ihrer Eltern lassen nämlich auch neben der Betreuung nicht nach, auch wenn beide Eltern berufstätig sind. Kinder aus Familien mit niedrigem Bildungsniveau sind bei fehlenden Betreuungsangeboten dagegen doppelt benachteiligt, da ihnen Unterstützung im Elternhaus und in der Einrichtung fehlt. Nicht zuletzt fühlen sich ErzieherInnen durch das Betreuungsgeld teils in ein schlechtes Licht gerückt. Ihre Qualifikation wird abgewertet, wenn sie mit der privat organisierten Betreuung auf eine Ebene gestellt werden. Bildungspläne und eine entsprechende Qualifikation ergeben auch schon in der Frühpädagogik Sinn. Kinderbetreuung professionell zu organisieren ist unabdingbar, wer sollte die mühsam geschaffenen Qualitätsstandards sonst umsetzen? Eine Politik mit Kindern Statt also viel Geld für nicht sinnvolle Maßnahmen auszugeben, sollte bei familienpolitischen Maßnahmen lieber auf die Potenziale der Kinder geachtet werden. Kindertageseinrichtungen bieten dafür die Chance. Gerade bei der Beteiligung von Kindern schon im frühen Alter liegt in Deutschland noch einiges im Argen. Beteiligung macht Kinder stark und hilft, die Spirale der Kinderarmut zu durchbrechen. Sie funktioniert aber nur mit einer besonderen Kinderpolitik, und zwar einer Politik mit Kindern, einer beteiligenden Politik, die auf den Kinderrechten ruht und diese umsetzt. Kinder als Subjekte ihres Lebens zu betrachten und nicht mehr nur als Abhängige, reflektiert den Anspruch der Moderne auf Entfaltung von Individualität. Kinder sind offenkundig nicht so unreif, wie es das bisherige Bild unterstellte. Dennoch dominiert weiterhin, so eine verglei- 361 uj 9 | 2012 Betreuungsgeld chende Untersuchung in komplexen Industriegesellschaften, das Bild eines „bedürftigen, gefährdeten und gefährlichen Kindes“. In Deutschland findet sich noch immer eine Tendenz, Kinderrechte ausschließlich als Schutzrechte (Schutz vor körperlicher und seelischer Gewalt) oder Versorgungsrechte (Bildung und Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen) zu thematisieren. Kinderrechte werden selten als Mitbestimmungsrechte betrachtet, die mit dem Recht auf Rechtfertigung eng verbunden sind. Darauf verweist der Kinderreport 2012 (Lutz 2012) in seiner Analyse der Konzepte von Kindertagesstätten, hinter denen immer noch das traditionelle Bild des Kindes als eines schutzbedürftigen Wesens steht, dessen Interessen wesentlich Erwachsene zu vertreten haben. Insofern finden sich in der Kinderpolitik bisher auch nur wenige Kinder als Akteure. Es ist zumeist eine Politik für Kinder, die mitunter paternalistisch daherkommt und sich als „Gnade der Erwachsenen“ entwirft. Diskurse der Frühpädagogik und die Kindergärten als Bildungsorte sind als essenzielle Aspekte einer Kinderpolitik zu sehen, die sich über ihre bisherigen Debatten deutlich breiter aufstellt. Dabei stehen demokratische Kindergärten, Mitbestimmung und Resilienz ebenso im Fokus wie Kinderrechte und Rechtfertigungskontexte; dies zielt auf eine Vorstellung von Politik, die nicht für Kinder entworfen wird, sondern Kinder als gleichberechtigte PartnerInnen mitbestimmen lässt und somit eine Politik der Kinder wird. Dazu gehört, dass der Begriff der Lebenslagen um Kinderinteressen erweitert wird. Letztlich geht es darum, Kindereinrichtungen als politisch aktive Kommunikationszentren oder Familienzentren zu entwickeln, die nicht nur auf der Basis einer Dialogkultur die Lebenslagen reflektieren, sondern auch zu dieser Lebenswelt hin offen sind, diese Lebenswelt in ihren Angeboten sowohl nutzen als auch auf diese politisch einwirken wollen. Frühe Förderung stärken Der frühkindlichen bzw. vorschulischen Bildung kommt eine besondere Bedeutung zu, da die Lern- und Aufnahmefähigkeit von Kindern im vorschulischen Alter besonders hoch ist. Kinder dieses Alters wollen lernen, ausprobieren und experimentieren, sind von sich aus neugierig und wissbegierig. Nie wieder lernen Menschen so viel und mit so großem Spaß wie in den ersten Lebensjahren. Dabei kann eine gute Bildung schon für kleine Kinder die Chancengleichheit in unserer Gesellschaft befördern und herkunftsbedingte und soziale Unterschiede am besten ausgleichen. Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland zu wenig im Bereich der frühkindlichen bzw. vorschulischen Bildung investiert. Bund, Länder und Kommunen müssen in diesem Bereich dringend aufholen und diese Investitionen so gestalten, dass sie nicht falschen politischen Prioritätensetzungen zum Opfer fallen können. Das frühkindliche Bildungssystem in Deutschland zeichnet sich auch dadurch aus, dass extreme Unterschiede in der Verfügbarkeit und den Qualitätsstandards zwischen einzelnen Bundesländern oder auch Gemeinden existieren. Damit hängen die frühkindlichen Bildungschancen von Kindern davon ab, wo sie zufällig wohnen. Dies ist nicht nur ineffizient, sondern auch ungerecht. Wir müssen in Deutschland allen Kindern unabhängig von ihrer regionalen Zuordnung den Zugang zu einer pädagogisch guten frühkindlichen Bildung ermöglichen. Im Bereich der Kinderkrippen hält das Deutsche Kinderhilfswerk für eine Gruppe von acht Kindern drei bis vier Fachkräfte für angemessen. Generell gibt es auf EU-Ebene bereits Richtzahlen für die Gruppengröße: ein/ e ErzieherIn für fünf Kinder soll EU-weit die Regel sein. In vielen europäischen Ländern kommt heutzutage eine akademisch ausgebildete Fachkraft auf acht Kinder. Aber auch davon 362 uj 9 | 2012 Betreuungsgeld sind die Kindertageseinrichtungen in Deutschland noch weit entfernt. In den Kindertageseinrichtungen muss es zu einer deutlichen Verbesserung der Qualifizierung des Personals kommen. Neben fachpraktischen Kernkompetenzen müssen innerhalb des Personals Diagnosefähigkeiten vorhanden sein, um sowohl vorhandene Defizite als auch Fähigkeiten der Kinder zu erkennen. Zudem muss sichergestellt werden, dass pädagogische Fachkräfte in ihrer Ausbildung auch ausreichend auf die Vermittlung relativ neuer Wissensbereiche, wie z. B. Medienbildung, interkulturelle Pädagogik etc. vorbereitet werden. Hier sind - insbesondere an Fachhochschulen - entsprechende Studienangebote zu „Bildung und Erziehung im Kindesalter“ zu entwickeln. Das kann auch zum dringend notwendigen Austausch zwischen den angehenden PraktikerInnen in den Kindertagesstätten und der wissenschaftlichen Ebene in Universitäten und Fachhochschulen beitragen. Wesentlicher Bestandteil der vorschulischen Bildung in Kindertageseinrichtungen muss auch die altersgerechte Beteiligung der Kinder sein. Bereits hier können Kinder demokratisches Denken und Handeln erfahren und einüben. Dazu müssen sie regelmäßig in die Entscheidungen der Kindertageseinrichtung einbezogen werden. Es ist wichtig, sie in ihrem Wunsch nach Selbstständigkeit und Verantwortungsübernahme zu unterstützen. Je mehr Kindern diese Beteiligungsrechte zugestanden werden und je mehr sie darin unterstützt werden, diese auch wahrzunehmen, desto eher sind sie bereit, sich später auch für andere einzusetzen. Potenzial von Kindertagesstätten nutzen Kinder entwickeln durch Mitbestimmung schon in jungem Alter soziale Kompetenzen, die sie stark machen. Die positiven Beteiligungsmöglichkeiten im Alltag sind Faktoren, die Eigeninitiative und Verantwortungsübernahme fördern. Dadurch können die Kinder erfolgreich mit aversiven Reizen umgehen. Für Kinder aus benachteiligten sozialen Lagen ist es also von besonderer Bedeutung, schon im jungen Alter in der Kita entsprechende Erfahrungen machen zu können. Durch frühe Mitbestimmung können die Kinder die Folgen von sozialer Benachteiligung kompensieren. Mitbestimmungsprozesse entwickeln und fördern das Selbstbewusstsein, die Selbstwirksamkeit und die sozialen Kompetenzen. Dies kann zugleich negative Erfahrungen in benachteiligten Elternhäusern langfristig ausgleichen. Damit bietet Mitbestimmung in der Kita einen Weg, um Armutsfolgen für Kinder zu bekämpfen, und einen Weg, der aus der Armut herausführt. Kinder, die in ihren Kindertageseinrichtungen stärker mitbestimmen und einbezogen werden, können Folgendes offenkundig besser (vgl. Kinderreport 2012): ➤ Sie erkennen und strukturieren eine Problemsituation realitätsgerechter. ➤ Sie lösen Konflikte eigenständiger und nachhaltiger. ➤ Sie zeigen sich selbstbewusster. ➤ Sie können mit eigenen und fremden Ressourcen adäquater und nachhaltiger umgehen. ➤ Sie schätzen die Folgen ihrer Handlungen besser ein. ➤ Sie verfügen über einen realistischen Bezug und eine klare Einschätzung ihrer Fähigkeiten. ➤ Sie wirken ruhiger, überlegter und gelassener. ➤ Sie entspannen sich schneller. ➤ Sie kooperieren leichter mit anderen und sind eher in der Lage, Kompromisse einzugehen. ➤ Sie sind kontaktfreudiger. ➤ Sie reagieren in belastenden Situationen gelassener. 363 uj 9 | 2012 Betreuungsgeld Deutlich wird, dass Kinder desto stärker und somit resilienter werden, je mehr sie an Entscheidungen, Planungen und Abläufen der Kindergärten beteiligt werden: Mitbestimmung ermöglicht Resilienz. Mit dem Übertragen von Aufgaben werden Kinder kompetenter und können vieles besser einschätzen. Das meint eine Förderung von Selbstwirksamkeit und eine realistische Einschätzung des eigenen Handelns. Eltern berichteten zudem immer wieder, dass der Einbezug ihrer Kinder in den Ablauf des Tages für diese förderliche Wirkungen habe; sie hätten mehr zu erzählen, sie würden ruhiger, sie könnten ihre Meinung nachhaltiger und klarer vertreten. Die neuen Muster von Mitbestimmung („Kinderstube der Demokratie“) zeigen Wirkungen bei den Kindern; es gibt unübersehbare Hinweise auf ein sich veränderndes Verhalten und sich entwickelnde soziale Kompetenzen der Kinder, wenn diese stärker beteiligt und eingebunden werden. Kinderrechte schon in der Kita Kindern etwas zuzugestehen verstehen viele schon als „Kinderrechte“. Anstatt Recht und Unrecht als Gegensatzpaar zu thematisieren, werden Rechten häufig nur Pflichten gegenübergestellt. Hier wird eine Haltung deutlich, die sich als „Gnade“ gegenüber dem Kind darstellt. Es wird argumentiert, man lasse der Individualität doch viel Raum. Aber Kinderrechte im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention finden sich noch viel zu selten in Kitas verwirklicht. Kinderrechte werden stärker als ein Thema der Bildung von Kindern gesehen und weniger als ein Aspekt der tatsächlichen Alltagsabläufe; im Klartext: es geht nicht um die Rechte des Kindes in der Einrichtung, Rechte als Gesetze sind ein Gegenstand sowie ein Inhalt der Erziehung und Bildung, die spezifisch zum Thema werden können. Kinderrechte werden, wenn die Erzieherinnen oder auch die wenig vorhandenen Erzieher das wollen, in Themenkreisen angesprochen; es wird deutlich, dass sie zudem den Alltag der Einrichtungen prägen und die Kinder an der Gestaltung der Einrichtung beteiligt werden. Die Strukturen der Einrichtungen, die selbst demokratisch sein sollten, um Demokratie einzuüben und zu fördern, werden jedoch nicht wirklich reflektiert. Dabei gibt es vielfältige Möglichkeiten, Kinderrechte in Kindertageseinrichtungen strukturell zu verankern. Das können Formen wie Kinderkonferenzen, Kinderräte oder Kinderparlamente sein; am nachhaltigsten geschieht dies aber in der Erarbeitung einer Kita-Verfassung, in der Kinderrechte, Entscheidungswege und Entscheidungsgremien verbindlich festgeschrieben und umgesetzt werden. Qualität ins Zentrum stellen Aufgrund dieser zahlreichen Befunde lautet die zentrale Forderung, das Geld, welches für das Betreuungsgeld vorgesehen ist, lieber in den Ausbau von Kita-Plätzen zu stecken. Dabei ist die Qualität besonders im Blick zu behalten. Diese droht mit dem Druck beim Ausbau der Quantität auf der Strecke zu bleiben. Mitbestimmung in Kindertageseinrichtungen als Voraussetzung der Resilienzförderung baut auf gewissen Voraussetzungen auf bzw. sie bedarf bestimmter Kontexte, die sie mehr oder weniger ermöglichen: ➤ professionelle Einstellungen und Haltungen von ErzieherInnen, die Mitbestimmung als Aspekt des Bildungsauftrags von Kindergärten sehen; ➤ Schaffung von Strukturen des Alltags, die Mitbestimmungsformen den notwendigen Raum öffnen müssen; ➤ Festlegung in Konzepten der Einrichtungen. 364 uj 9 | 2012 Betreuungsgeld Wir brauchen als Konsequenz ein breit gefächertes Modul „Mitbestimmung von Kindern im demokratischen Kindergarten“, das zum verbindlichen Standard der Aus- und Fortbildung und der Teambildung werden sollte. Es gibt eine Offenheit für Verbesserungen durch Fortbildung, die von außen angeschoben werden könnte. Das verlangt zugleich ein Wissen der ErzieherInnen über die Bedeutsamkeit der Kinderrechte und Kompetenzen, diese Rechte auch zu ermöglichen und zu berücksichtigen; hierzu sind Fortbildungen erforderlich, die sich in Qualifizierungen wie z. B. „Kinderstube der Demokratie“ oder „ModeratorIn für Kinder- und Jugendbeteiligung“ finden. Notwendig sind aber auch Konzeptionen, die eine Umsetzung ermöglichen, sowie die Bereitschaft der Träger, eine solche Praxis auch zu etablieren. Dazu ist eine verstärkte öffentliche und politische Auseinandersetzung über Kinderrechte erforderlich. Dominik Bär Deutsches Kinderhilfswerk e. V. Leipziger Straße 116 -118 10117 Berlin baer@dkhw.de Literatur Bertelsmann Stiftung, 2009: Volkswirtschaftlicher Nutzen von frühkindlicher Bildung in Deutschland. Eine ökonomische Bewertung langfristiger Bildungseffekte bei Krippenkindern. Gütersloh Deutsches Kinderhilfswerk, 2011: Kinderechte stärken. Bausteine für ein kinderfreundliches Deutschland. Berlin Ellingsæter, A.-L., 2012: Betreuungsgeld. Erfahrungen aus Finnland, Norwegen und Schweden. Berlin Lutz, R., 2012: Kinderreport 2012. Mitbestimmung in Kindertageseinrichtungen und Resilienz. Berlin OECD, 2007: Babies and Bosses - Reconciling Work and Family Life Sacksofsky, U., 2007: Rechtsgutachten zur Frage „Vereinbarkeit des geplanten Betreuungsgeldes nach §16 Abs. 4 SGB VIII mit Art. 3 und Art. 6 GG“. www. ekin-deligoez.de/ uploads/ media/ Betreuungsgeld_ Gutachten_Sacksofsky.pdf , 27.6.2012, 29 Seiten Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung, 2009: Auswirkungen sowie arbeitsmarkt- und verteilungspolitische Effekte einer Einführung eines Betreuungsgeldes für Kinder unter 3 Jahren. Mannheim
